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Evangelische Spiritualität heute
Zum sechzigjährigen Jubiläum der Michaelsbruderschaft in Marburg
von Dietrich Stollberg

A. Das Thema
B. I. Spiritualität im Pluralismus
  II. Spiritualität »damals«
  III. Spiritualität heute
  IV. Kennzeichen und Impulse einer protestantischen Spiritualität heute
C. Ausblick

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A. Das Thema

LeerDas Thema bringt drei Begriffe zusammen: »evangelisch«, »Spiritualität« und »heute«. Daraus darf man zu Recht schließen, es gebe auch andere - z.B. katholische, aber auch fremden Religionen zugehörige - Spiritualitäten; Spiritualität sei nicht dasselbe wie z.B. Glaube, Frömmigkeit oder Lebensstil (das Thema hätte ja auch »Evangelischer Glaube heute« heißen können). Spiritualität zur Zeit der Reformation oder der Romantik, so läßt sich weiter folgern, sei etwas anderes gewesen als Spiritualität »heute«. Wenn ich über»evangelische« Spiritualität rede, so frage ich nach dem »Geist« des Protestantismus, also durchaus nach einer Art konfessionellen Propriums. Sollte sich dieses darüber hinaus als konfessionsübergreifend christlich oder gar als etwas Interreligiöses erweisen, so wäre das kein Schade, wenn es dabei nicht an Konkretion mangelt. Wenn ich von »Spiritualität« rede, so meine ich eine Grundeinstellung (Geisteshaltung), die Frömmigkeit im Sinne von anbetendem Verhalten und ethischen Konsequenzen einschließt. Auch die Frage der Politiker nach den »Grundwerten« gehört in diesen Zusammenhang, wie problematisch dann auch der Umgang damit sein mag.

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B. I. Spiritualität im Pluralismus

LeerVon Spiritualität reden seit einiger Zeit viele. Manfred Seitz verhandelt unter dem Stichwort »Spiritualität« die Wirkung des HeiligenGeistes, das Zeugnis der Christen, Askese und Freiheit zum Feiern, Märtyrertum, Beichte, Meditation und Gebet sowie das Verhältnis zwischen den beruflichen Aktivitäten des Pfarrers und seinem geistlichen Leben. (Anm. 1) Hans-Joachim Thilo versteht darunter, »was früher Frömmigkeit genannt wurde, heute als Sehnsucht in uns lebt und sich als Spiritualität neu zu äußern beginnt« (Anm. 2), und auch Richard Riess spricht im Zusammenhang von Spiritualität und Seelsorge von »Sehnsucht. ... nach Leben«. (Anm. 3) Eine Arbeitsgruppe der EKD definierte 1979: Spiritualität sei » ... eine unverzichtbare Dimension ... ein neues ganzheitliches Verständnis von christlicher Lebensgestaltung ...«. Der Begriff »Spiritualität« biete »eine Alternative zu spätprotestantischer, entweder einseitig wertorientierter oder ebenso einseitig handlungsorientierter oder ebenso einseitig stimmungsorienter Frömmigkeit«. In dem Begriff solle wieder zusammengebracht werden, was unglücklicherweise auseinandergedriftet sei. (Anm. 4) Ja, man könne sogar schon von »erneuerter Spiritualität« sprechen, die im Protestantismus in »drei Strängen« zu beobachten sei: dem evangelikal-charismatischen, dem liturgisch-meditativen und dem emanzipatorisch-politischen Strang. Zum ersten wären etwa Wolfram Kopfermanns charismatische Gemeinden, u.a. in Hamburg, aber auch Horst-Klaus Hofmanns »Offensive junger Christen« in Bensheim zu rechnen, zum zweiten z.B. Karl Bernhard Ritters und Wilhelm Stählins Michaelsbruderschaft, aberauchKommunitäten wie die auf dem Schwanberg oder in Imshausen, zum dritten gehören u.a. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet, Feministische Theologie, aber auch weite Aspekte des Kirchentags. Diese und andere Erneuerungsbewegungen, zu denen übrigens als vierter Strang auch die ökumenische Bewegung als solche sowie als fünfter Pastoralpsychologie und Seelsorgebewegung zu zählen wären, das etwas amorphe New Age, das durchaus auch in der Kirche Anhänger hat, nicht zu vergessen - sie alle suchen nach der Überwindung einer deprimierenden Situation, die Manfred Seitz so zusammenfaßt: »Wir sind spirituell ortlos, heimatlos, bindungslos.« (Anm. 5)

LeerDie Krise der Spiritualität dürfte viele Ursachen haben, vor allem auch die rasante technische Entwicklung, die eine kaum noch zu bewältigende Mobilität und damit eine Entwurzelung auch derer, die keine Flüchtlinge sind, zur Folge hat, ferner die Informationsüberflutung und eine entsprechende Überforderung des einzelnen, aber auch ganzer Gruppen, die militärische Bedrohung durch apokalyptisch anmutende Waffen - kurz: Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit, ja Unmöglichkeit, für alles, was wir heute erleben und wahrnehmen, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Psychologisch produziert diese Situation Angst. Angst war schon immer eine der Hauptwurzeln der Frömmigkeit, und zwar in der Verbindung mit schier unendlicher Hoffnung auf Überwindung: Überwindung z.B. von Krankheiten, Ohnmachtsgefühlen, Armut und Tod. Die Krise der Spiritualität bringt also neue Spiritualität hervor. Ich vermute, das war schon immer so, und blicke daher kurz und »über den Daumen« zurück.


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II. Spiritualität »damals«


LeerIn der Antike gab es u.a. so etwas wie eine apokalyptische Spiritualität, die auch das Neue Testament mitgeprägt hat und die Angst vor der Zukunft bewältigen wollte. Im Mittelalter begegnen wir einer Spiritualität, die durch die Auseinandersetzung von christlicher Überlieferung mit arabischer Weisheit und griechischer Philosophie - nicht nur im Sinne eines akademischen »Glasperlenspiels«, sondern durchaus im politischen Kontext - geprägt ist: Die Spiritualität eines Thomas oder Abälard mutet uns heute fremd und zugleich faszinierend an. Im Spätmittelalter begegnen wir einer Geisteshaltung, die Angst durch Bußfrömmigkeit bannen wollte. Ihrer Ausnutzung trat Martin Luther mit seinen 95 Thesen entgegen. Neue Impulse aus Mönchtum, Humanismus und Frühaufklärung prägen die reformatorische Spiritualität: Sprach- und Wortkultur, Pädagogisierung derFrömmigkeit im Interesse größerer Mündigkeit und Unabhängigkeit von »Rom«, also ein kräftiger emanzipatorischer Impuls, den übrigens auch das Bürgertum gegenüber Fürsten und Rittern verspürt, ferner der aufkeimende Individualismus, der den einzelnen Menschen als seinen eigenen Priester vor Gott stellt, kämpferischer Protest und Impulse zur Demokratisierung gehören in diesen Zusammenhang. Der Dreißigjährige Krieg bringt eine stark jenseitsorientierte Spiritualität hervor, wohingegen der Pietismus im Zuge wirtschaftlicher Besserung dem Diesseits wieder größeres Gewicht geben und einer praktischen Frömmigkeit hier und jetzt das Wort reden kann.

LeerWährend sich traditionelle Volksfrömmigkeit im Katholizismus noch länger erhalten kann (Kirchen- und Heiligenjahr, Prozessionen, Wallfahrten usw.), lösen sich die gottesdienstlichen Formen und die Vielfalt liturgischer Ausdrucksmöglichkeiten seit der Aufklärungszeit im Protestantismus langsam auf: Die Kirche wird zur obrigkeitlich geförderten Fortsetzung der Schule - sonntags hat man eine Art Ethikuntenicht in der Kirche zu besuchen -, in privaten Hauskreisen und im stillen Kämmerlein sowie in der frommen (Pfarr-)Familie übt man Bibellese, freies Gebet und Hausandacht. Der Pfarrer ist eine Mischung aus Dorfgelehrtem, Gemeindevater, Freund und Helfer einerseits, Aufseher (z.B. über die Schulen, aber selbstverständlich auch über die Moral seiner einzelnen Schäfchen) und Polizist andererseits. Das Schwarz des sogenannten Preußentalars, des akademischen Gelehrtenmantels (den seit 1811 evangelische Pfarrer, aber auch Juristen und Rabbiner zu tragen hatten), paßt zu diesem Typus protestantisch-biederer Rechtschaffenheits-Spiritualität. Dazu gehört auch die geradezu wissenschafts-positivistische Ausrichtung protestantischer Theologie: Das Schriftprinzip führte zu einer Gleichsetzung von philologischer Akribie im Umgang mit Texten der Bibel und Erforschung der Offenbarungswahrheit des Glaubens; Predigt als gelehrte Rekonstruktion des Textsinns soll »Wahrheit« ansagen - welche? Die Wahrheit des Schriftgelehrten? Doch der Biblizismus führt sich in der historisch-kritischen Exegese selbst ad absurdum. Was bleibt als Spiritualität? Jemand meinte: »Der Protestantismus ist eine denkbare, aber keine lebbare Religion.« Sein humanistischer Intellektualismus gibt den Leuten viel zu denken, aber wenig zum Leben. Klaus Winkler hat diese »Zumutung« pastoralpsychologisch erläutert und als Überforderung interpretiert. (Anm. 6)

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LeerDie »Verschulung der Gesellschaft« hat also früh begonnen. Eigentlich besteht jetzt die ganze Kirche, ja die ganze Gesellschaft aus lauter Lehrern und Schülern. In dieser Spiritualität ist viel Raum für Sprachen und Geschichte, aber auch für Naturwissenschaften und andere sogenannte Realien, weniger jedoch für Symbol und Kunsthandwerk (im Sinne des mittelalterlichen Künstlertums), für Mythos und Kultus. Diese wandern aus in eine abgespaltene individualistisch-elitäre Kunst und Literatur, so daß Friedrich Daniel Schleiermacher denn auch den Zusammenhang von Kunst und Religion erst wieder ins Bewußtsein heben und betonen muß.

LeerFreilich entstehen immer auch Gegenströmungen, so etwa die liturgische Bewegung des vorigen Jahrhunderts oder die Tiefenpsychologie - zunächst bei scheinbaren Ketzern wie Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche zu Hause -, die den symbolischen Charakter der Welt und ihrer Erscheinungen verstehen: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche, hier wird's Ereignis.» (Johann W. v. Goethe: Faust. II. Schlußchor.) Und es ist kein Zufall, daß ich hier Goethe zitiere; denn ich denke, das Lebenswerk dieses unglaublich umfassenden Geistes ist nicht nur ein Höhe- und Endpunkt protestantischer Spiritualität - ein anderer Höhe- und Endpunkt der protestantischen Geisteshaltung wäre etwa Immanuel Kant -, sondem auch der Beginn von »etwas«, das sich heute u.a. auch in allerlei Konvergenzphänomenen - Ökumene, Jungsche Quaternitäts- oder Ganzheitspsychologie, Fritjof Capra, »Paradigmenwechsel« und New Age äußert: einer zögernden Befreiung aus provinzieller Intoleranz und konfessioneller Enge, der freilich die schon genannte spirituelle Heimatlosigkeit und entsprechend reaktionäre Versuche, Traditionen mit Gewalt zu sichern, korrespondieren.


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III. Damit sind wir wieder in der Gegenwart: Spiritualität heute.


LeerInnerhalb der Kirche begeistern - Spiritualität hat es immer mit dem zu tun, was begeistert- sich Menschen für die große, festliche Gemeinschaft der Kirchentage: Hier wird etwas sichtbar und erlebbar von der ungeheuren Menschenmenge, in der wirheute existieren; aber zugleich ist diese Menge auf einem Kirchentag strukturiert, verbunden durch ein vages, aber doch nicht völlig undefiniertes gemeinsames Interesse und Bekenntnis; sie zeigt ein den dazugehörigen Werten entsprechendes Verhalten: z.B. friedliches und diszipliniertes Benehmen in großstädtischen Verkehrsmitteln. Zu dieser Spiritualität gehört auch eine gewisse Unverbindlichkeit und vieles, was an eine antike Wallfahrt zum Zentralheiligtum denken läßt, z.B. Festlichkeit. Der politische Aspekt dabei ist für viele sehr wichtig: Man will Einfluß nehmen und sich nicht länger ohnmächtig fühlen. Befreiungstheologie und politische Ethik sind Bestandteile dieser Einstellung, die manchmal freilich nicht weit von dem entfernt ist, was bei Martin Luther »Werkerei« hieß: Diakonisches Engagement wird scheinbar für wichtiger gehalten als zweckfreies, ja spielerisches Gebet; aber nein: DafUr haben Spiel und Kunst auch wieder Raum als eine Art Balance-Medizin; und die Wiederentdeckung der Körperlichkeit des Glaubens schlägt sich in Konzepten therapeutischer Seelsorge ebenso nieder wie in eucharistischer Frömmigkeit und noch etwas unbeholfenen Versuchen kultischen Tanzes. Schließlich sei die feministische Bewegung genannt, die bei aller Pauschalität ihrer Anklagen, Vorurteile und Verurteilungen und trotz aller Vorbehalte, die ich gegen die Einseitigkeiten ihrer provokativen und sexistisch-blinden Flecken anmelden möchte, durchaus etwas vom Erneuerungswillen protestantischer Spiritualität an sich hat (und wäre es nur durch die Wiederentdeckung der Beginen und Begarden oder solcher Persönlichkeiten wie Hildegards von Bingen).

LeerZur heutigen evangelischen Spiritualität rechne ich aber nicht nur die pluralistische Vielfalt des Deutschen Evangelischen Kirchentags, sondern auch die neupietistische Mentalität des Gemeindetags unter dem Wort, eine, vielleicht ängstliche, Reaktion auf die das Bedürfnis nach Orientierung und Heimat herausfordernde verwirrende Vielfalt dessen, was in der Volkskirche möglich zu sein scheint. Heimat braucht Grenzen, Definitionen. Die Heimat nur nach innen zu verlegen und das Setzen der Grenzen der individuellen Verantwortung zu überlassen, überfordert die meisten, und es ist kein Wunder, daß die Evangelikalen wie die konservativen politischen Parteien mit ihrer normativen und an Außenleitung interessierten Mentalität Zulauf haben.

LeerInnerer Orientierungs- und Heimatlosigkeit will auch jene Theologie begegnen, die sich den »Gemeindeaufbau« (im Anschluß an amerikanische Versuche von stewardship, inner city mission u.ä.) oder sogar den »missionarischen Gemeindeaufbau« aufs Panier geschrieben hat: Werbung soll jene Gemeinschaft wiederbeleben, die es einst gegeben zu haben scheint und nach der sich viele sehnen. Die Unverbindlichkeit und Freiheit der säkularen Großstadt, die Harvey Cox in »Stadt ohne Gott« positiv gewürdigt hat (Anm. 7), macht angst und soll durch den Zusammenschluß und die Sammlung der Christen überwunden werden. Der Zunahme der Singles wird ein Idealbild von Familie und »Gemeindeleben« entgegengesetzt. Schade ist nur, daß es allenthalben beim »Bild« davon bleibt.

LeerDas kann man von den Kommunitäten, kibbuzimähnlichen Versuchen u.ä. nicht sagen, deren Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft freilich ähnlich wie monastische Bewegungen der Antike und des Mittelalters stets auf einen kleinen Kreis beschränkt sein dürfte. Das verweist uns auf die psychosoziale Tatsache unterschiedlicher Frömmigkeitstypen, die unterschiedliche Sozialgestalten auch von Kirche hervorbringen und kaum gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Vielmehr haben wir in unserem Jahrhundert gelernt, von der »Einheit in der Vielfalt« zu reden, äußere und innere Uniformität nicht länger als notwendige Voraussetzung für die Einheit der Kirche (und sogar der Menschheit) zu betrachten, sondern in der Unterschiedlichkeit menschlicher Ausdrucksformen - und damit auch »Spiritualitäten« - einen Reichtum zu sehen, der gegenseitige Ergänzung und gegenseitige Neugier möglich macht. Recht verstandene Ökumene wird daher auch Abstand nehmen von Vorstellungen äußerer organisatorischer Einheit oder gar dogmatischer Konsensfindung: Man kann gemeinsam zu Gott beten ungeachtet menschlich bedingter dogmatischer und spiritueller Optionen.

LeerZur evangelischen Spiritualität rechne ich schließlich auch die Wiederentdeckung des Erzählens in Gesellschaft, Wissenschaft und Theologie (Narrativität) sowie die Faszination breiter Kreise der Gesellschaft von Symbol, Mythos und Märchen.


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IV. Kennzeichen und Impulse einer protestantischen Spiritualität heute:


LeerHier und da gibt es noch ein verkrampftes Festhalten an der Zentralstellung der Wortverkündigung, nach wie vor eine starke Tendenz zu auf Autonomie und Selbstverwirklichung bedachtem Individualismus, freilich auch die Einsicht in die Notwendigkeit, Gemeinsinn zu entwickeln und neue Formen gemeinsamen Lebens zu entdecken, Pluralismus als Konsequenz von Individuation und Individualismus, kritische Einsicht in die Relativität konkreter Formen von Theologie und Frömmigkeit, Tendenz zur Ethisierung religiöser Symbole (Moralismus, Gesetzlichkeit, Gernot Otto: »helfen und lehren«), aber auch die Gegenbewegung einer eucharistischen Frömmigkeit und »zweckfreier religiöser Kommunikation in Liturgie und Kunst« (so daß z.B. der Bischof der EKKW in seinem letzten Hirtenbrief vom 21. August 1991 auf Amtstracht, Fürbittengebet und Kunst ausdrücklich eingegangen ist und die Ergänzung des schwarzen Talars durch die farbige Stola für »sinnvoll und ganz gewiß erwägenswert« erklärt hat).

LeerEiner relativ verkrampften Suche nach Rettung kirchlicher Traditionen und protestantischer Identität, die gelegentlich apologetisch-defensive Züge trägt, steht die große Weite einer »Sehnsucht nach Leben« (Riess) gegenüber, wie sie vor allem durch die Theologie Paul Tillichs repräsentiert wird, und wie man sie in unseren Tagen etwa bei Wolfhart Pannenberg finden kann, der nicht nur vom »sakramentalen Wesen der Kirche« und deren symbolischem Charakter spricht, sondern auch davon, daß »die Feier der Eucharistie, nicht die Predigt ..., im Zentrum des gottesdienstlichen Lebens der Kirche« stehe. Protestantische Spiritualität hinke gerade im deutschsprachigen Raum hinter der ökumenischen Entwicklung hinterher, zumal die römisch-katholische Kirche hinsichtlich des Gottesdienstes »in vielen Einzelheiten ... klassischen Forderungen der Reformation entsprochen« habe. Pannenberg hält daher die »Tendenzen zur Interkommunion« für »eine der verheißungsvollsten Manifestationen der neuen eucharistischen Spiritualität«. (Anm. 8) Generell beobachte ich in der Unruhe, die auch die Kirche(n) erfaßt hat, einen Urimpuls evangelischer Spiritualität: den zur Erneuerung (ecclesia semper reformanda).


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C. Ausblick


Leer1928 konnte Paul Tillich anläßlich der Berneuchener Konferenz in seinem Vortrag »Natur und Sakrament« vom »Sterben der Sakramente« sprechen: Gegenkräfte seien »nirgends sichtbar«. Aber »das Sakramentsproblem« sei »entscheidend für die Frage nach der Möglichkeit protestantischer Verwirklichung«, denn »ein völliges Verschwinden des sakramentalen Elements ... würde zu einem Verschwinden des Kultus und schließlich zu einer Aufhebung der Existenz der sichtbaren Kirche führen«. (Anm. 9) Heute scheint mir das »Sterben der Sakramente« erst einmal gebannt. Allenthalben wird auch in der Theologie, nicht zuletzt von den Frauen, Sinnenhaftigkeit, ja Sinnlichkeit und Sakramentalität der Schöpfung beschworen.

LeerWeniger Verständnis findet man, nicht zuletzt aufgrund der historisch-kritischen Exegese, die die Vielfalt des biblischen Zeugnisses aufgedeckt hat, für den Satz Gerhard Ruhbachs: »Evangelische Frömmigkeit ist Bibelfrömmigkeit.« (Anm. 10) So historisch richtig der Satz sein mag und so sehr ihn die Evangelikalen permanent wiederholen, so wenig entspricht er doch tatsächlicher protestantischer Gegenwart. Und was »Nachfolge Christi« heißt, weiß abgesehen von gesetzlichen Parolen heute niemand so recht zu sagen. Das Kirchenjahr, einst eine wichtige Hilfe zum geistlich erfüllten Leben im Rhythmus des Naturjahrs, ist leider selbst Theologen kaum noch gegenwärtig, und »Freude an der Gemeinschaft der Glaubenden« (Ruhbach) wird man, wenn man nicht gerade in der Begeisterungswelle eines Kirchentags mitschwimmt oder von einer Kommunität, etwa Taizé, fasziniert ist, in unseren landeskirchlichen Ortsgemeinden kaum entwickeln können, freilich auch nicht müssen. Die Rede vom »Gemeindeleben« führt möglicherweise in die Irre, weil sie eine christliche Paragesellschaft voraussetzt, die den Intentionen des Evangeliums nur bedingt entspricht.

Leer»Evangelische Spiritualität heute« wird Zweifel (Tillichs »Rechtfertigung des Zweiflers«), Angst und (durchaus politischen) Protest, emanzipatorische und antiautoritäre Impulse, das Ringen um einen neuen Lebensstil (einschließlich einer Erneuerung, nicht Restauration von Ehe und Familie) und um eine neue Moral ebenso einschließen wie den Kampf gegen die materialistische Konsumwelle, die kapitalistische Ausbeutung der Armen und die Verwechslung von Auto und Video mit echten Werten, die seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nun auch Osteuropa überrollt. Wir sollten als Christen dabei unseren Mund freilich nicht zu voll nehmen, was unsere eigenen Möglichkeiten und das »Angebot« der Kirche betrifft.

Leer»Ehrfurcht vor dem Leben« (Albert Schweitzer) sowie Sinn für »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« brauchen heute (nach Manfred Josuttis) nicht nur die befreiende Predigt des Evangeliums, sondern auch die strenge Drohung des Gesetzes, »das schonungslos das Verderben aufdeckt und zeigt, wohin sein Wahnsinn treibt«. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber ich weiß eines: Wir brauchen eine evangelische Spiritualität gerade da, wo Mündigkeit und Zivilcourage unterdrückt werden - wie immer noch im Katholizismus, auf subtilere Weise aber auch im Beamtenstaat der Landeskirchen und selbstverständlich in der Politik (man denke nur an die Informationspolitik, besser: Desinformationspolitik, während des Golfkrieges und danach bis heute). Evangelische Spiritualität heißt hier wie seinerzeit in der DDR Konfliktfähigkeit, Widerspruchsgeist und Protest. Nach Josuttis liegt »die eigentliche Sprachlosigkeit der Kirche« darin, »daß sie die Predigt der Buße nicht mehr wagt«; »aber letztlich liegt hier die einzige Überlebenschance der Menschheit« (Anm. 11). Das ist sehr protestantisch, ja beinahe mittelalterlich: Bußfrömmigkeit gepaart mit Wortgläubigkeit (vgl. dagegen W. Pannenberg). Auch ziviler Ungehorsam, den Josuttis als prophetische Zeichenhandlung interpretiert, hat protestantische Tradition. »Engagement und Verweigerung«, die Konstitutiva asketischer Frömmigkeit, seien, so Josuttis, Kennzeichen der »Kampfhandlungen des Glaubens«, die, so meine ich, den meditativen Rückzug derer, die stellvertretend für die Menschheit den priesterlichen Dienst der Anbetung in ängstlicher Klage und dankbarer Doxologie wahrnehmen, mindestens ergänzen müssen. Josuttis hält es für möglich, spirituellen Glaubenskampf und existentiellen Lebenstrieb zu versöhnen: Menschen wie Gandhi hätten dafür ein Beispiel gegeben.

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Dazu folgende Thesen:
  • Evangelische Spiritualität ist gekennzeichnet durch den Willen zur Veränderung und Sehnsucht nach Leben.
  • Evangelische Spiritualität heißt nicht Anpassung an Bestehendes, sondern Konfrontation des Glaubens mit der Welt und Konfrontation des Glaubens mit der Kirche (ecclesia semper reformanda).
  • Evangelische Spiritualität heißt nicht selbstgenügsame Innerlichkeit, sondern selbstkritische Besinnung auf das, was uns unbedingt angeht. Dazu gehört auf jeden Fall Freiheit.
  • Evangelische Spiritualität schließ deshalb Zweifel, Skepsis und Kritik ein.
  • Evangelische Spiritualität kennt die Liebe zur Tradition und zur geistlichen Heimat, aber ebenso den Exodus-Impuls zum Aufbruch in unbekanntes Land.
  • Evangelische Spiritualität heißt nicht landeskirchliche Bibelwochen und künstlich beatmetes Gemeindeleben, sondern autonomes Hören auf den inneren Dialog und seine Konflikte in jedem einzelnen (aber auch in Gruppen) sowie Wahrnehmung tatsächlichen Gemeinschaftslebens, wo immer es sich, wenn auch in noch so problematischen Formen, abspielt.
  • Evangelische Spiritualität heißt nicht rationalistische Moralpredigt, sondern Sinn für den Symbolcharakter der Schöpfung, für Mythos und Kult.
  • Evangelische Spiritualität heißt nicht lieblose Agendentreue und verkrampfte Bemühungen um eine brillante Predigt, sondern Sinn für den symbolischen Charakter von Kirche als solcherund Freude, Freude auch am liturgischen Spiel vor Gott.
Anmerkungen:

 1: Manfred Seitz: Praxis des Glaubens. Göttingen, 1978, S. 22.
 2: Hans-Joachim Thilo: Frömmigkeit, München, 1991, S. 9.
 3: Richard Riess: Sehnsucht nach Leben. Göttingen, 1987.
 4: EKD (Hrsg.): Evangelische Spiritualität. Gütersloh, 1979.
 5: M. Seitz, s.o., S. 225.
 6: Klaus Winkler: Die Zumutung im Kontliktfall. Luther als Seelsorger in heutiger Sicht. Hannover, 1984.
 7: Hervey Cox: Stadt ohne Gott. Stuttgart, 1966
 8: Wolfhart Pannenberg: Christliche Spiritualität. Göttingen 1986, S. 36-40.
 9: Paul Tillich: Symbol und Wirklichkeit. Göttingen, 3.Aufl. 1986, S. 49.
10: Gerhard Ruhbach: Theologie und Spiritualität. Göttingen, 1987.
11: Manfred Josuttis: Der Kampf des Glaubens im Zeitalter der Lebensgefahr. München, 1987, S. 50, 52.

Quatember 1992, S. 8-16
© Prof. Dr. Dietrich Stollberg

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-15
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