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Zum sechzigjährigen Jubiläum der Michaelsbruderschaft in Marburg von Dietrich Stollberg |
A. Das Thema B. I. Spiritualität im Pluralismus II. Spiritualität »damals« III. Spiritualität heute IV. Kennzeichen und Impulse einer protestantischen Spiritualität heute C. Ausblick A. Das Thema B. I. Spiritualität im Pluralismus Die Krise der Spiritualität dürfte viele Ursachen haben, vor allem auch die rasante technische Entwicklung, die eine kaum noch zu bewältigende Mobilität und damit eine Entwurzelung auch derer, die keine Flüchtlinge sind, zur Folge hat, ferner die Informationsüberflutung und eine entsprechende Überforderung des einzelnen, aber auch ganzer Gruppen, die militärische Bedrohung durch apokalyptisch anmutende Waffen - kurz: Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit, ja Unmöglichkeit, für alles, was wir heute erleben und wahrnehmen, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Psychologisch produziert diese Situation Angst. Angst war schon immer eine der Hauptwurzeln der Frömmigkeit, und zwar in der Verbindung mit schier unendlicher Hoffnung auf Überwindung: Überwindung z.B. von Krankheiten, Ohnmachtsgefühlen, Armut und Tod. Die Krise der Spiritualität bringt also neue Spiritualität hervor. Ich vermute, das war schon immer so, und blicke daher kurz und »über den Daumen« zurück. II. Spiritualität »damals« Während sich traditionelle Volksfrömmigkeit im Katholizismus noch länger erhalten kann (Kirchen- und Heiligenjahr, Prozessionen, Wallfahrten usw.), lösen sich die gottesdienstlichen Formen und die Vielfalt liturgischer Ausdrucksmöglichkeiten seit der Aufklärungszeit im Protestantismus langsam auf: Die Kirche wird zur obrigkeitlich geförderten Fortsetzung der Schule - sonntags hat man eine Art Ethikuntenicht in der Kirche zu besuchen -, in privaten Hauskreisen und im stillen Kämmerlein sowie in der frommen (Pfarr-)Familie übt man Bibellese, freies Gebet und Hausandacht. Der Pfarrer ist eine Mischung aus Dorfgelehrtem, Gemeindevater, Freund und Helfer einerseits, Aufseher (z.B. über die Schulen, aber selbstverständlich auch über die Moral seiner einzelnen Schäfchen) und Polizist andererseits. Das Schwarz des sogenannten Preußentalars, des akademischen Gelehrtenmantels (den seit 1811 evangelische Pfarrer, aber auch Juristen und Rabbiner zu tragen hatten), paßt zu diesem Typus protestantisch-biederer Rechtschaffenheits-Spiritualität. Dazu gehört auch die geradezu wissenschafts-positivistische Ausrichtung protestantischer Theologie: Das Schriftprinzip führte zu einer Gleichsetzung von philologischer Akribie im Umgang mit Texten der Bibel und Erforschung der Offenbarungswahrheit des Glaubens; Predigt als gelehrte Rekonstruktion des Textsinns soll »Wahrheit« ansagen - welche? Die Wahrheit des Schriftgelehrten? Doch der Biblizismus führt sich in der historisch-kritischen Exegese selbst ad absurdum. Was bleibt als Spiritualität? Jemand meinte: »Der Protestantismus ist eine denkbare, aber keine lebbare Religion.« Sein humanistischer Intellektualismus gibt den Leuten viel zu denken, aber wenig zum Leben. Klaus Winkler hat diese »Zumutung« pastoralpsychologisch erläutert und als Überforderung interpretiert. (Anm. 6) Freilich entstehen immer auch Gegenströmungen, so etwa die liturgische Bewegung des vorigen Jahrhunderts oder die Tiefenpsychologie - zunächst bei scheinbaren Ketzern wie Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche zu Hause -, die den symbolischen Charakter der Welt und ihrer Erscheinungen verstehen: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche, hier wird's Ereignis.» (Johann W. v. Goethe: Faust. II. Schlußchor.) Und es ist kein Zufall, daß ich hier Goethe zitiere; denn ich denke, das Lebenswerk dieses unglaublich umfassenden Geistes ist nicht nur ein Höhe- und Endpunkt protestantischer Spiritualität - ein anderer Höhe- und Endpunkt der protestantischen Geisteshaltung wäre etwa Immanuel Kant -, sondem auch der Beginn von »etwas«, das sich heute u.a. auch in allerlei Konvergenzphänomenen - Ökumene, Jungsche Quaternitäts- oder Ganzheitspsychologie, Fritjof Capra, »Paradigmenwechsel« und New Age äußert: einer zögernden Befreiung aus provinzieller Intoleranz und konfessioneller Enge, der freilich die schon genannte spirituelle Heimatlosigkeit und entsprechend reaktionäre Versuche, Traditionen mit Gewalt zu sichern, korrespondieren. III. Damit sind wir wieder in der Gegenwart: Spiritualität heute. Zur heutigen evangelischen Spiritualität rechne ich aber nicht nur die pluralistische Vielfalt des Deutschen Evangelischen Kirchentags, sondern auch die neupietistische Mentalität des Gemeindetags unter dem Wort, eine, vielleicht ängstliche, Reaktion auf die das Bedürfnis nach Orientierung und Heimat herausfordernde verwirrende Vielfalt dessen, was in der Volkskirche möglich zu sein scheint. Heimat braucht Grenzen, Definitionen. Die Heimat nur nach innen zu verlegen und das Setzen der Grenzen der individuellen Verantwortung zu überlassen, überfordert die meisten, und es ist kein Wunder, daß die Evangelikalen wie die konservativen politischen Parteien mit ihrer normativen und an Außenleitung interessierten Mentalität Zulauf haben. Innerer Orientierungs- und Heimatlosigkeit will auch jene Theologie begegnen, die sich den »Gemeindeaufbau« (im Anschluß an amerikanische Versuche von stewardship, inner city mission u.ä.) oder sogar den »missionarischen Gemeindeaufbau« aufs Panier geschrieben hat: Werbung soll jene Gemeinschaft wiederbeleben, die es einst gegeben zu haben scheint und nach der sich viele sehnen. Die Unverbindlichkeit und Freiheit der säkularen Großstadt, die Harvey Cox in »Stadt ohne Gott« positiv gewürdigt hat (Anm. 7), macht angst und soll durch den Zusammenschluß und die Sammlung der Christen überwunden werden. Der Zunahme der Singles wird ein Idealbild von Familie und »Gemeindeleben« entgegengesetzt. Schade ist nur, daß es allenthalben beim »Bild« davon bleibt. Das kann man von den Kommunitäten, kibbuzimähnlichen Versuchen u.ä. nicht sagen, deren Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft freilich ähnlich wie monastische Bewegungen der Antike und des Mittelalters stets auf einen kleinen Kreis beschränkt sein dürfte. Das verweist uns auf die psychosoziale Tatsache unterschiedlicher Frömmigkeitstypen, die unterschiedliche Sozialgestalten auch von Kirche hervorbringen und kaum gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Vielmehr haben wir in unserem Jahrhundert gelernt, von der »Einheit in der Vielfalt« zu reden, äußere und innere Uniformität nicht länger als notwendige Voraussetzung für die Einheit der Kirche (und sogar der Menschheit) zu betrachten, sondern in der Unterschiedlichkeit menschlicher Ausdrucksformen - und damit auch »Spiritualitäten« - einen Reichtum zu sehen, der gegenseitige Ergänzung und gegenseitige Neugier möglich macht. Recht verstandene Ökumene wird daher auch Abstand nehmen von Vorstellungen äußerer organisatorischer Einheit oder gar dogmatischer Konsensfindung: Man kann gemeinsam zu Gott beten ungeachtet menschlich bedingter dogmatischer und spiritueller Optionen. Zur evangelischen Spiritualität rechne ich schließlich auch die Wiederentdeckung des Erzählens in Gesellschaft, Wissenschaft und Theologie (Narrativität) sowie die Faszination breiter Kreise der Gesellschaft von Symbol, Mythos und Märchen. IV. Kennzeichen und Impulse einer protestantischen Spiritualität heute: Einer relativ verkrampften Suche nach Rettung kirchlicher Traditionen und protestantischer Identität, die gelegentlich apologetisch-defensive Züge trägt, steht die große Weite einer »Sehnsucht nach Leben« (Riess) gegenüber, wie sie vor allem durch die Theologie Paul Tillichs repräsentiert wird, und wie man sie in unseren Tagen etwa bei Wolfhart Pannenberg finden kann, der nicht nur vom »sakramentalen Wesen der Kirche« und deren symbolischem Charakter spricht, sondern auch davon, daß »die Feier der Eucharistie, nicht die Predigt ..., im Zentrum des gottesdienstlichen Lebens der Kirche« stehe. Protestantische Spiritualität hinke gerade im deutschsprachigen Raum hinter der ökumenischen Entwicklung hinterher, zumal die römisch-katholische Kirche hinsichtlich des Gottesdienstes »in vielen Einzelheiten ... klassischen Forderungen der Reformation entsprochen« habe. Pannenberg hält daher die »Tendenzen zur Interkommunion« für »eine der verheißungsvollsten Manifestationen der neuen eucharistischen Spiritualität«. (Anm. 8) Generell beobachte ich in der Unruhe, die auch die Kirche(n) erfaßt hat, einen Urimpuls evangelischer Spiritualität: den zur Erneuerung (ecclesia semper reformanda). C. Ausblick Weniger Verständnis findet man, nicht zuletzt aufgrund der historisch-kritischen Exegese, die die Vielfalt des biblischen Zeugnisses aufgedeckt hat, für den Satz Gerhard Ruhbachs: »Evangelische Frömmigkeit ist Bibelfrömmigkeit.« (Anm. 10) So historisch richtig der Satz sein mag und so sehr ihn die Evangelikalen permanent wiederholen, so wenig entspricht er doch tatsächlicher protestantischer Gegenwart. Und was »Nachfolge Christi« heißt, weiß abgesehen von gesetzlichen Parolen heute niemand so recht zu sagen. Das Kirchenjahr, einst eine wichtige Hilfe zum geistlich erfüllten Leben im Rhythmus des Naturjahrs, ist leider selbst Theologen kaum noch gegenwärtig, und »Freude an der Gemeinschaft der Glaubenden« (Ruhbach) wird man, wenn man nicht gerade in der Begeisterungswelle eines Kirchentags mitschwimmt oder von einer Kommunität, etwa Taizé, fasziniert ist, in unseren landeskirchlichen Ortsgemeinden kaum entwickeln können, freilich auch nicht müssen. Die Rede vom »Gemeindeleben« führt möglicherweise in die Irre, weil sie eine christliche Paragesellschaft voraussetzt, die den Intentionen des Evangeliums nur bedingt entspricht. »Evangelische Spiritualität heute« wird Zweifel (Tillichs »Rechtfertigung des Zweiflers«), Angst und (durchaus politischen) Protest, emanzipatorische und antiautoritäre Impulse, das Ringen um einen neuen Lebensstil (einschließlich einer Erneuerung, nicht Restauration von Ehe und Familie) und um eine neue Moral ebenso einschließen wie den Kampf gegen die materialistische Konsumwelle, die kapitalistische Ausbeutung der Armen und die Verwechslung von Auto und Video mit echten Werten, die seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nun auch Osteuropa überrollt. Wir sollten als Christen dabei unseren Mund freilich nicht zu voll nehmen, was unsere eigenen Möglichkeiten und das »Angebot« der Kirche betrifft. »Ehrfurcht vor dem Leben« (Albert Schweitzer) sowie Sinn für »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« brauchen heute (nach Manfred Josuttis) nicht nur die befreiende Predigt des Evangeliums, sondern auch die strenge Drohung des Gesetzes, »das schonungslos das Verderben aufdeckt und zeigt, wohin sein Wahnsinn treibt«. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber ich weiß eines: Wir brauchen eine evangelische Spiritualität gerade da, wo Mündigkeit und Zivilcourage unterdrückt werden - wie immer noch im Katholizismus, auf subtilere Weise aber auch im Beamtenstaat der Landeskirchen und selbstverständlich in der Politik (man denke nur an die Informationspolitik, besser: Desinformationspolitik, während des Golfkrieges und danach bis heute). Evangelische Spiritualität heißt hier wie seinerzeit in der DDR Konfliktfähigkeit, Widerspruchsgeist und Protest. Nach Josuttis liegt »die eigentliche Sprachlosigkeit der Kirche« darin, »daß sie die Predigt der Buße nicht mehr wagt«; »aber letztlich liegt hier die einzige Überlebenschance der Menschheit« (Anm. 11). Das ist sehr protestantisch, ja beinahe mittelalterlich: Bußfrömmigkeit gepaart mit Wortgläubigkeit (vgl. dagegen W. Pannenberg). Auch ziviler Ungehorsam, den Josuttis als prophetische Zeichenhandlung interpretiert, hat protestantische Tradition. »Engagement und Verweigerung«, die Konstitutiva asketischer Frömmigkeit, seien, so Josuttis, Kennzeichen der »Kampfhandlungen des Glaubens«, die, so meine ich, den meditativen Rückzug derer, die stellvertretend für die Menschheit den priesterlichen Dienst der Anbetung in ängstlicher Klage und dankbarer Doxologie wahrnehmen, mindestens ergänzen müssen. Josuttis hält es für möglich, spirituellen Glaubenskampf und existentiellen Lebenstrieb zu versöhnen: Menschen wie Gandhi hätten dafür ein Beispiel gegeben.
Quatember 1992, S. 8-16 © Prof. Dr. Dietrich Stollberg |
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