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Über Höhlen
von Gerhard Steege

LeerZu den vertrauten Liedern, die wir in der Weihnachtszeit wieder singen, gehört auch »Kommt und laßt uns Christum ehren« (EKG 29), dessen letzte Strophe beginnt: »Schönstes Kindlein in dem Stalle«. Wir sind uns dessen meist nicht bewußt, daß dies Ereignis, daß Gott Mensch wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in einem Stall, sondern in einer Höhle geschah. Denn Ställe als Bauten gab es offensichtlich im Lande Jesu nicht; das Vieh hielt man in Höhlen, über denen dann Räume für die Menschen gebaut wurden. Die vorhandene Landschaftsstruktur machte es nötig und möglich, so vorzugehen. Die mittelalterlichen Maler, von denen wir das »schönste Kindlein in dem Stalle« ja übernommen haben, müssen wir dennoch keineswegs der historischen Unkorrektheit beschuldigen, haben sie doch durch diese Übertragung für Menschen, die in Ebenen leben, die Menschwerdung Gottes dicht herangeholt, so daß sie gerade auch hier hätte geschehen sein können!

LeerDer Glaube, Gott ist in Jesus Mensch geworden, breitete sich aber nicht nur nach Westen aus, sondern auch nach Osten, in die Länder der späteren orthodoxen Kirchen.

LeerUnd hier war es die Höhle, an die der Glaube für die Geburt Jesu anknüpfte. Der Glaube, nicht der Wunsch nach historischer Genauigkeit war dabei die Triebfeder. Weil die Hingabe an das Mysterium der Menschwerdung Gottes eines der wesenhaften Merkmale ostkirchlicher Gläubigkeit wurde, entsprach ihr ohnehin viel mehr die Höhle als der Stall. »Wie stark die Vorstellung von der religiösen Bedeutung der Höhle das Denken der alten Kirche beschäftigt haben muß, bestätigt aufs eindrücklichste Eusebius von Cäsarea«, schreibt der Kirchenhistoriker Ernst Benz. In seinem »Leben des Kaisers Konstantin« berichtet Eusebius von den Kirchenbauten des ersten christlichen Herrschers. Er geht dabei von dem Gedanken aus, daß das Christentum aus drei »mystischen Höhlen« hervorgegangen sei: der Geburtshöhle, der Grabes- und Auferstehungshöhle und der Himmelfahrtshöhle. Über diese drei Höhlen hat die Kaiserin prächtige Kirchen errichten lassen.

LeerDaß es sich für die Alte Kirche bei diesen »Urhöhlen« des christlichen Glaubens nicht um bloße Erinnerungsstätten an die wichtigsten Stationen des Lebens Christi handelt, wird durch die Wortwahl deutlich. Alfons Rosenberg weist daraufhin, daß nicht das Wort »spelaion« gebraucht wird, das im Griechischen eine natürliche Höhle meint, sondern »antron«, eine Höhle oder Grotte im kultischen Sinn. Diese »heiligen« oder »mystischen« Höhlen wurden »als Heiligtümer betrachtet, wo im Mysterium der zu finden und zu erfahren ist, der einst in ihnen am Anfang und am Ende seines Erdendaseins geweilt hat: Christus und das durch ihn gewirkte Heil«. (Rosenberg)

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LeerWoher wir von der Höhlengeburt Jesu wissen? Es gibt aus der Alten Kirche zwei Hinweise darauf. Origenes (+254) schreibt in einem seiner Werke: »In Bethlehem hat man noch die Höhle gezeigt, wo Christus geboren wurde, und in der Höhle die Krippe, worin er in Windeln gewickelt lag.« Und noch früher, gegen 200, wird in einer Schrift, die zwar nicht in das Neue Testament aufgenommen wurde, aber seinerzeit in hohem Ansehen stand, ausführlich von der Geburt des Heilandes in einer Höhle berichtet. Im Bewußtsein der Christen lebte diese Tradition weiter. Ich habe mir sagen lassen und gelesen, daß es im Heiligen Land viele Höhlen gibt, die bestimmten Personen oder Ereignissen aus den Evangelien geweiht waren oder noch sind, und daß über nicht wenigen von ihnen Kirchen errichtet worden sind. Die Christen, die seit alter Zeit als Pilger, nicht nur als Touristen, dorthin kamen, »wußten« aus ihrer inneren Beziehung zu den Höhlen, daß das Hinabsteigen und das Verweilen im Gebet ihr Heil vertiefte und förderte.

LeerAuch heutzutage können, wie mir berichtet wird, orthodoxe Kirchen von Rußland über Griechenland bis zum Heiligen Land bei dem Eintretenden das Gefühl auslösen, in eine erleuchtete Höhle zu kommen. Rosenberg meint sogar, dies »Höhlengefühl« sei kennzeichnend für die christliche Grundgestimmtheit: die Erwartung der Wiedergeburt. Daher die Höhle als Ort der Wiedergeburt, als Schoß des neuen Lebens.

LeerSo überrascht es nicht, daß sich die Höhle auch in ostkirchlichen Liturgien wiederfindet, besonders in den Hymnen vor dem und zum Weihnachtsfest: Aus der Fülle der Beispiele, die Ernst Benz aus den ostkirchlichen Liturgien erwähnt, nenne ich diese:
»Die Jungfrau gebiert heute den Überwesentlichen,
und die Erde bringt die Höhle dem Unzugänglichen dar.
Die Engel singen Lobgesänge mit den Hirten,
die Magier wandern mit dem Stern, denn um unsertwillen
wurde geboren als kleines Kind der ewige Gott.«
Leer So heißt es in der Liturgie des Morgengottesdienstes zum Weihnachtsfest; und in der Liturgie des Festes der Gottesmutter vom 26. Dezember finden wir die Worte:
»Hier in Bethlehem bist du erschienen,
in der Höhle hast du gewohnt;
den Himmel hast du zum Thron,
aber ließest dich in eine Krippe legen.
Die Heerscharen der Engel umkreisen dich,
aber du stiegest zu den Hirten herab,
um zu retten unser Geschlecht voll Erbarmen.
Ehre sei dir!«
LeerAn dieser Stelle möchte ich eine Form von Höhle einbeziehen, die im kirchlichen Bereich im Baustil der Romanik ausgebildet wurde. Es sind die Krypten. Sie finden sich in vielen Kirchen, die damals offenbar als bedeutend angesehen wurden. In ihrer Urgestalt sind die Krypten Kulträume, in denen die Eucharistie gefeiert wurde, weil die Gebeine eines Märtyrers, also Reliquien, hier bewahrt wurden. Fast ausnahmslos wurde eine Krypta unter dem Hauptaltar angelegt, der mehrere Stufen über dem Niveau des Schiffs liegt. Um in die Krypta zu gelangen, ging man hinunter, hinein in die Erde, eben in eine Höhle. Wenn hier das Meßopfer gefeiert wurde - also das Mysterium, daß der geopferte Christus als der Auferweckte gegenwärtig ist -, dann identifizierte sich der Gläubige mit diesem Ursprungsgeschehen des christlichen Glaubens.

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LeerDie Eucharistiefeier, ausgelöst durch die hier geborgenen Reliquien, nimmt in der Höhle der Krypta den Gläubigen in dies Wandlungsgeschehen vom Sterben des alten zum Empfang des neuen Lebens mit hinein. Der Weg hinunter in die Tiefe und dann wieder hinaus in das Tageslicht verstärkt diese spirituelle Erfahrung intensiv. Diese Erfahrung läßt sich wohl am besten in winzigen Krypten nachspüren (für mich selbst am stärksten in Rohr/Thüringer Wald; ich nenne aber auch Verden an der Aller, in der Schweiz Spiez am Thuner See oder Disentis in Graubünden). Dieser Einbau einer Krypta muß in der karolingischen und romanischen Kirchenbauzeit einem tiefen Bedürfnis entsprochen haben, weil diese Bauweise von zwei ganz verschiedenen Zentren ausgegangen ist: von St. Peter/Rom ebenso wie von den iroschottischen Klöstern und deren Missionstätigkeit (für Northumberland wird z.B. Hexham und Ripon angegeben).

LeerMit diesem Motiv, symbolisch/geistlich zu sterben und aufzuerstehen, kehrt in völlig anderem Gewand etwas wieder, was der Frühmensch auf dem Weg zu seinem Heiligtum tief im Innern des Berges erfahren haben dürfte: »Kriechend und kletternd, durch unterirdische Seen schwimmend und an Abgründen auf schmälstem Grat entlangrutschend, durch steile Felskamine hinauf und über fast unüberschreitbare Felsplatten hinweg, wurde der heilige Ort erreicht, in tiefster, nur durch die flackernden Mooslämpchen erhellter Dunkelheit, in dauernder Bedrohung durch die Gefahren des Weges ...« Was Erich Neumann mit diesen Worten einfühlend andeutet, wird gestützt z.B. durch den Bericht von dem geradezu abenteuerlichen Zugang zu den steinzeitlichen Felsmalereien in der Höhle von Tuc d'Audoubert in den Pyrenäen durch den Nestor der deutschen Vorgeschichtsforschung, Herbert Kühn: »Der Weg war beschwerlich, das Klettern schwierig, lange mußten wir durch das Katzenloch auf dem Bauche kriechen, aber dann öffnete sich der letzte große Saal, und der Eindruck ist überwältigend...«

LeerDie Höhle verbindet uns auch mit dem Weg der Nachfolge Christi, vor allem in der Johanneischen Variante der Nachfolge. Während es in den drei anderen Evangelien heißt: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach« (so Lukas 9,23), lesen wir im Johannes-Evangelium (3,3): »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.« Wo für den Jesus der drei ersten Evangelien das Kreuz steht, geschieht nach dem Jesus des Johannes-Evangeliums eine Neugeburt des Menschen. Das Mißverständnis einer zweiten natürlichen Geburt des Menschen bei Nikodemus nimmt Jesus insofern auf, als er dann von der Geburt aus »Wasser und Geist« spricht. Jetzt sind wir nicht mehr bei der Gebärmutter-»höhle«, sondern beim symbolischen Verständnis von Höhle.

LeerDamit sind wir zugleich beim Taufgeschehen. Auch das Taufbecken ist Uterus, Höhle, mit Wasser gefüllt, aus der in der Kraft des Geistes Gottes neues Leben, der neue Mensch, entsteht. Die Ganztaufe in der Alten Kirche und manchen Gruppierungen noch heute sowie das Anlegen des weißen Gewandes für den Neugetauften gehören in diesen Verständniszusammenhang. Unübertroffen dicht hat Luther in seiner Erklärung zum 4. Hauptstück des Kleinen Katechismus es ausgedrückt, wie im Taufgeschehen Sterben und Neugeburt zusammengehören:

Leer»Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.«

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LeerDaß die Höhle und die Höhlensymbolik in der christlichen Kirche - besonders in den Ostkirchen - eine derartige Wertschätzung, solche Ausformungen erhalten haben, ist erstaunlich genug, hat doch das alte Israel einen hartnäckigen, erbitterten Kampf gegen die heidnischen Höhlenkulte und die sich in ihnen zeigende Religion der Großen Mutter geführt - denn so muß wohl das große Schweigen des Alten Testamentes über das Thema »Höhlen« gedeutet werden, wenn wir einmal absehen von 1.Könige 19,8 ff., wo Elia sich in einer Höhle am Berghang birgt, um von hier aus dem vorbeigehenden Herrn zu begegnen.

LeerEin Kirchen- und Religionshistoriker wie Ernst Benz hat keinen Zweifel: Die »heilige Höhle gehört zur tiefsten Schicht und zu den ältesten Ausdrucksformen menschlicher Religiosität«. Die Kirche ihrerseits aber hat »die Höhle erleuchtet. Sie hat eine Art Rückwendung zur Höhle vollzogen, aber nicht mehr im alten Sinne, sondern in einem neuen Sinne, indem sie die Höhle in Beziehung setzte zu dem menschgewordenen Herrn... Sie hat auch das uralte Symbol der Höhle als eine Verheißung auf Christus gedeutet. An die Stelle der Magna Mater (der Großen Muttergöttin - G.St.) tritt die jungfräuliche Gottesmutter, an die Stelle des hieros gamos (der heiligen Hochzeit im heidnischen Kult - G.St.) tritt die apokalyptische Vereinigung der irdischen Gemeinde mit ihrem himmlischen Herrn.« Die Kirche hat die Höhle auch in der Weise »erleuchtet«, daß sie die Krypten, die anfänglich in der Erde lagen, im Verlauf der romanischen Kirchenbauzeit immer mehr dem Tageslicht und damit auch dem Bewußtsein entgegenhob, bis sie in der Gotik ganz vom Gotteshaus selbst aufgenommen wurden, das nun sehr hell und licht wird, architektonisch besonders wirkungsvoll durch die Einführung der Obergadenfenster über den Seitenschiffen.

LeerIn der christlichen Zeit wird unser Thema, die Gottesgeburt in einer Höhle, vielfältig variiert: In Höhlen werden Kirchen hineingebaut, so etwa im Monte Gargano in Süditalien eine Michaelskirche. In der Zeit der ausgehenden Antike, die von vielen als Verfallszeit empfunden wurde, zogen sich Menschen in die ägyptische Wüste zurück (»Retraite«) und lebten nicht selten als Einsiedler in Höhlen, um sich Gott ganz auszusetzen und hinzugeben. In der von Athanasius verfaßten Lebensbeschreibung des Antonius, Begründer und Leitbild der Mönchsbewegung dort, erfahren wir, wie er alle Sicherungen des sozialen Lebens hinter sich läßt, sich fernab der Menschen in ein leeres (Höhlen-)Grab begibt und sich dort den Dämonen ausgeliefert sieht, den versucherischen Mächten, die alles daran setzen, ihn vom Weg mit Gott abzuhalten. Ein erheblicher Teil dieser Lebensbeschreibung spricht von dem immer erneuten Ringen des Antonius mit den Dämonen.

LeerAuch im Rußland des 11. Jahrhunderts gilt in den alten Heiligenlegenden die Höhle, etwa im Kiewer Höhlenkloster, als besonderer Ort des Kampfes mit den bösen Geistern. An einer Stelle heißt es von Feodossij: »Wer sollte diesen Seligen nicht bewundern, der in einer solchen dunklen Höhle allein blieb, nicht fürchtend die Menge der unsichtbaren Teufelshaufen, sondern, feststehend als ein starker Held, Gott und den Herrn Jesus Christus um Hilfe anrief!«

Fortsetzung folgt.

Quatember 1992, S. 229-234

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-07
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