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von Ulrich Wickert |
Als im Jahre 1961 die sogenannte »Berlin-Krise« uns den Atem stocken ließ, suchte mich - es war in Tübingen - einer meiner studentischen Hörer auf und fragte mich: Was können wir als Christen in dieser Lage tun, auf die wir keinerlei Einfluß haben und die nach menschlichem Ermessen womöglich aussichtslos ist? Ich holte vom Schreibtisch mein griechisches Neues Testament, schlug 2. Korinther 1, 8-10 auf und sagte: Das können wir tun! Paulus ist in Lebensgefahr. Wir wissen nicht, wie, davon steht nichts im Text; jedenfalls erkennt er die nach menschlichem Ermessen aussichtslose Lage. Und wie benimmt er sich? Er späht nicht angstvoll nach einem Strohhalm, der sein verwirktes Leben noch retten könnte. Vielmehr trägt er nüchtern-entschlossen der Situation Rechnung: er fällt im stillen das Todesurteil über sich selbst. Der Tod greift nach mir, ich bejahe ihn. Ich bin einverstanden mit dem, was über mich kommt. Man könnte diese Haltung freilich auch mißverstehen. Sie könnte mit jener von Philosophen gelehrten Schicksalsbereitschaft verwechselt werden, die das Widrige akzeptiert, selbst wo es zu Tode verwundet. Aber diese »Liebe zum Schicksal« (lateinisch »amor fati«) meint Paulus nicht. Er fällt über sich das Todesurteil, weil er darauf verzichtet, auf einem falschen Selbstvertrauen zu beharren, das, wenn es ans Letzte kommt, in jene Verzweiflung umschlägt, die jeden überfällt, der bei seiner eigenen kreatürlichen Nichtigkeit Halt gesucht hat. Der Apostel ist von Verzweiflung frei, weil er auch von der illusionären Zuversicht frei ist: Hier ist ja eines jeweils nur die Kehrseite des anderen. Und er hat diese Freiheit gewonnen, weil er sein Vertrauen auf den Gott setzt, der die Toten erweckt. Freilich auch dies könnte mißverstanden werden. Allerdings denkt Paulus an die Auferweckung Jesu Christi von den Toten, die ihm seit seiner Damaskusstunde gewisser ist als irgend etwas in der Welt. Aber diese Gewißheit setzt sich bei ihm nicht in den Gedanken um: Irgendwann einmal wird Gott ja auch mich von den Toten erwecken - folglich macht es nichts, wenn ich jetzt mein Leben verliere. Das hieße ja, sich in höchster Not mit einer Ideologie oder Weltanschauung trösten, die wohl meine Vorstellung beherrschen, mich aber in der Tiefe meiner Person nicht wirklich frei machen kann. Der Gott, auf welchen Paulus sein Vertrauen setzt, errettet nicht »irgendwann einmal, aber jetzt noch nicht« vom Tode; er ist im Gegenteil der, der schon jetzt - in diesem Augenblick - von den Toten erweckt. Das hat Paulus erfahren, denn er schreibt: Gott hat mich aus der großen Gefahr errettet. Paulus kann sich der Todesgefahr getrost überlassen, weil ihm darin das Kreuz Jesu Christi begegnet, das dem alten Menschen, diesem trotzigen und verzagten Wesen, den Garaus macht. Und er kann sich dieser Gefahr desto getroster überlassen, als ihm dort in dem Gekreuzigten zugleich der verborgen Auferstandene begegnet. In der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Gekreuzigten wird sein verwirktes Leben nicht etwa vor dem Tode bewahrt, sondern aus dem Tode errettet. Der Gott nämlich, der die Toten erweckt, rettet eine Minute nach zwölf - keine Sekunde früher. Das meint Paulus, wenn er im dritten Kapitel des Philipperbriefs schreibt: Ich will die Gemeinschaft der Leiden Christi »erkennen«, indem ich nämlich seinem Tode gleichgestaltet werde - um auf diese Weise zur Auferstehung von den Toten zu gelangen. Die Freiheit der Person, von welcher Paulus Zeugnis gibt, hat in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus ihren Grund. Sie ist nirgendwoher sonst zu erklären und abzuleiten. Verstehen und nachvollziehen kann sie nur, wer den gekreuzigten und auferstandenen Jesus versteht. Der Gekreuzigte, in dessen Gemeinschaft ich zugrunde gehe; und der Auferstandene, in dessen Gemeinschaft ich von neuem geboren bin - er ermächtigt mich, und zwar jetzt, mich auszuliefern und mitten im Tode das Leben zu haben - jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Quatember 1993, S. 59-60 |
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