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Jochen Klepper - Anfrage an Glauben heute *
von Heinz Grosch

LeerAm 11. Dezember 1992 jährte es sich zum 50. Male, daß der Dichter und Schriftsteller Jochen Klepper mit seiner Frau Johanna und deren Tochter Renate in den Tod ging; am 22. Marz 1993 würde er - wäre er noch am Leben - seinen 90. Geburtstag begehen. Historie oder Gegenwart? Ein Mensch, dessen irdischer Weg vor einem halben Jahrhundert endete, gilt uns fraglos als eine Gestalt der Geschichte. Ein Neunzigjähriger wäre als Gesprächspartner auch für uns Heutige sehr wohl vorstellbar. Vielleicht würden wir ihn fragen, was er meinte, als er im April 1925 - zweiundzwanzigjährig also - an einen seiner theologischen Lehrer schrieb, er leide an einer »unleugbaren Angst vor der Zukunft überhaupt.« (1) Wir könnten ihn fragen, wieso es für ihn gerade angesichts einer ungewissen Zukunft tröstlich gewesen sei, »doch immer noch zur Kirche zu gehören« (so im gleichen Brief). Wir könnten ihn fragen, weshalb er zehn Jahre später, 1935, das Wirken dieser Kirche fast ebenso ärgerlich empfindet wie das Wirken des staatlichen Winterhilfswerkes: »... man braucht dringend einen Zentner Kartoffeln und bekommt ein Päckchen Pfefferkuchen.« (2)

LeerEs könnte sinnvoll sein, über die Jahre und Jahrzehnte hinweg in eine Art Gespräch mit Jochen Klepper einzutreten. Vielleicht daß uns in diesem Gespräch eigene Fragen bewußt werden, vielleicht, daß uns darin Antworten auf die Fragen zukommen, die wir ihm stellen würden - nein: die sich im Hinhören auf ihn uns selber stellen. Drei Gedankenschritte mögen dieses Gespräch, diese Annäherung, strukturieren. Zuerst wollen wir uns - wenigstens mit einer knappen Nachzeichnung - des äußeren Weges von Jochen Klepper vergewissern (I), danach werde ich unter dem Stichwort »Grundmotive des Lebens« einige tragende Elemente und Linien zu benennen suchen, die den Weg des Dichters begleiten und durchziehen (II), und schließlich möchte ich von diesen Grundmotiven her ein paar abschließende Gedanken formulieren, die eine Brücke vom gelebten Glauben Kleppers zu unserem eigenen Verständnis von Glauben schlagen sollen (III).

I. Daten zum äußeren Weg

LeerJochen Klepper stammt aus einem schlesischen Pfarrerhaus. Als drittes von fünf Kindern kam er 1903 in Beuthen an der Oder (gut 20 km nordwestlich von Glogau) zur Welt. Eine starke Zuneigung zur Mutter, die - ursprünglich katholisch - eine sensible und künstlerisch begabte Frau gewesen sein muß, bestimmt ihn durch Kindheit und Jugend hindurch bis ins Mannesalter. Das Gymnasium besucht er in Glogau, die letzten drei Jahre vor dem Abitur wohnt er auch dort. Danach studiert er in Erlangen und Breslau Theologie, aber kurz vor dem Examen verläßt er die Universität, um Schriftsteller sein zu können. Hatte er sich schon vorher im Schreiben versucht und gelegentlich eins seiner Gedichte veröffentlicht, so arbeitet er jetzt als Redakteur beim Evangelischen Presseverband, rezensiert Neuerscheinungen, kommentiert Zeitfragen und erprobt sich als Autor. Der erste große Roman allerdings, »Die große Direktrice«, wird 1931 bei Knaur abgelehnt, weil das »reichlich enthaltene jüdische Element« einer Veröffentlichung »nicht sehr günstig« sei. Schon 1929 hatte Klepper die um 13 Jahre ältere Witwe eines jüdischen Rechtsanwalts und Mutter zweier Kinder, Johanna Stein, kennengelernt und bei ihr Wohnung gefunden - eine Begegnung, die für beide Menschen von einschneidender Bedeutung werden sollte. Am 28. Marz 1931 heiraten sie, und im Herbst des gleichen Jahres übersiedelt Jochen nach Berlin. 1932 folgt ihm seine Frau mit den Kindern (zu diesem Zeitpunkt beginnt er, das Tagebuch zu führen), und er bekommt eine Anstellung beim Rundfunk - um den Preis seiner Mitgliedschaft bei der SPD. Wenige Wochen später erlangen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland.

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LeerGerade noch schien der Weg des inzwischen Dreißigjährigen nach oben zu fuhren - die Deutsche Verlags-Anstalt hat seinen kleinen Oderschiffer-Roman »Der Kahn der fröhlichen Leute« übernommen -, da wird ihm die frühere Verbindung zu den Religiösen Sozialisten und zur SPD und die Ehe mit Johanna Stein zum beruflichen Verhängnis. Man entläßt ihn beim Funk, er findet eine neue Stelle beim Ullstein-Verlag, aber nach zwei Jahren legt man ihm auch hier die Kündigung nahe. Unter all diesen Belastungen und Spannungen entsteht vom Herbst 1933 an der dritte und bedeutendste Roman Kleppers, das Buch »Der Vater«, die Geschichte Friedrich Wilhelms I. von Preußen. Die Vorbedingung für einen Druck des Werkes ist Kleppers Beitritt zum »Reichsverband Deutscher Schriftsteller«, einer Untergliederung der nationalsozialistischen Reichsschrifttumskammer. Im Herbst 1935 kann er die erste Fassung des Romans abschließen, und es beginnt die mühselige Phase von Überarbeitungen, Ergänzungen, Streichungen und neuen Überarbeitungen. Die Freude über das eigene Haus, das die Familie inzwischen in Berlin-Südende beziehen konnte, wird bald von der zugespitzten innenpolitischen Situation überlagert. Im Februar 1937 hält Klepper zwar das erste gedruckte Exemplar des »Vater« in seinen Händen, aber zur gleichen Zeit verkündet der »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda«, Joseph Goebbels, »daß der Reichskulturkammer keine Juden, keine Halbjuden und keine jüdisch versippten Mitglieder (mehr) angehören«. Klepper selbst wird vier Wochen später von seinem Ausschluß informiert. Wahrscheinlich war das starke und positive Echo, welches das Buch fand, ein Grund für die im Herbst erteilte »jederzeit widerrufliche Sondergenehmigung zur schriftstellerischen Tätigkeit «. Dafür muß er jedoch von nun an jedes Manuskript vor der Veröffentlichung zur Prüfung vorlegen. Daß eben dies zu verstärktem Mißtrauen der Behörden fuhren wird, kann Klepper nicht ahnen. So werden seine beiden Bändchen »In tormentis pinxit« und »Der Konig und die Stillen im Lande« zwar ebenso zum Druck freigegeben wie die Gedichtsammlung »Kyrie«, aber das darin enthaltene Neujahrslied »Der du die Zeit in Händen hast« gilt den Zensoren als Ausweis »absolut jüdischer« Gesinnung; von einem Dichter des »heutigen Deutschland« müsse erwartet werden, daß er nicht »auf die knechtische Einstellung der Psalmen« zurückgreift. Noch hofft Jochen Klepper, das schon 1936 begonnene Projekt eines Romans über Katharina von Bora zu einem guten Ende fuhren zu können, aber die Lasten und Aufgaben des Alltags rauben ihm die notwendige Kraft.

LeerDie Pläne der Nationalsozialisten für eine Umgestaltung Berlins - Klepper »erschauert vor der Hybris dieses armen Volkes« - zwingen die Familie 1938 zum Verkauf des Hauses. In Nikolassee richten sie sich ein neues Heim ein, aber die Wolken, die den Himmel über den Juden Deutschlands und schließlich über ganz Europa verdunkeln, bedrohen auch die Existenz der vier Menschen im Haus Teutonenstraße 23. Die Ereignisse des 9. November 1938, die Auswanderung der älteren Tochter von Johanna nach England und der Kriegsausbruch markieren bereits Stationen eines Weges, der nicht mehr in die Normalität eines kreativen Schriftstellerlebens zurückführen wird. Die Rettung der jüngeren Tochter Renate scheitert an den Gesetzen der Gastländer, zuerst der Schweiz, dann Schwedens, und an deutscher Behördenwillkür. Auch die Hoffnung des Dichters, durch sein Soldatwerden die Seinen vor dem Rassenhaß schützen zu können, bleibt eine Illusion. Wegen seiner Ehe wird er bereits im Herbst 1941 für »wehrunwürdig« erklärt und aus der Deutschen Wehrmacht entlassen. Als sich das Netz um Jochen, Johanna und die inzwischen zwanzigjährige Renate immer enger zusammenzieht, erlischt auch der letzte Lebenswille. In der Nacht vom 10. zum 11. Dezember 1942 eilen sie zu Gott (so sollte es Jahre später Reinhold Schneider ausdrücken), »ehe er sie gerufen hatte«. Der erste Vers von Psalm 126 ist das letzte Bibelwort, das Klepper in sein Tagebuch eintragt: »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Traumenden ...«

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II. Grundmotive des Lebens

LeerEin erstes Grundmotiv im Leben Kleppers, ein erster Blickwinkel, unter dem wir auf diesen Lebensweg hinschauen können, wird 1933 im Tagebuch angesprochen: »Wenn ein unpolitischer Mensch in ein politisches Zeitalter gerät, ist es fast, als ob er unter die Räder kommt.« (3) Klepper weiß, daß er keine Beziehung zu »Wehrgeist« und »Gemeinschaftserlebnis« hat (4), und »jeder Versuch, politisch zu werden«, so schreibt er wenige Monate nach dem Machtwechsel in Deutschland, »wird eine Aufgabe meines Wesens bedeuten«. (5)

LeerHat diese eigentümlich bewußte Abstinenz gegenüber dem, was wir den gesellschaftlichen Kontext nennen würden (6), ihren Grund in der »entsetzlichen Müdigkeit«, unter der Klepper immer wieder leidet? Fürchtet er Konflikte, die er vielleicht nicht durchzustehen vermag? (7) Eine Antwort ist schwer zu geben. Wohl aber ist erkennbar, wie das politische Geschehen im Lichte von Kleppers Beziehung zu seiner Frau, wie die Ehe im Licht der politischen Ereignisse zum Impuls für diesen gerade erst dreißigjährigen Mann wird, die Solidarität zu entdecken, in der wir uns allemal vorfinden - ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Für Jochen Klepper trägt diese Solidarität die Gestalt der Einbindung in »jüdisches Schicksal« (8), und Gott selbst ist es, der ihn dabei führt - kein moralischer Entschluß. Zum erstenmal wird Klepper dieses Zusammenhangs inne, als ihm seine Frau im Sommer 1933 die Scheidung vorschlägt, um ihm bei der »Karriere« als Schriftsteller nicht im Wege zu stehen; »es käme mir vor, als verriete man die Anrede Gottes«. (9) Zum letztenmal trifft er diese Entscheidung - genauer: durchlebt er diese Anrede Gottes - fast auf den Tag genau acht Jahre später als Soldat in Rußland. Wahrend er mit Bangen den staatlichen Verfügungen über Mischehen entgegensieht, erfährt er von der Anordnung, daß in Deutschland »alle Juden in der Öffentlichkeit sichtbar auf der linken Brustseite des oberen Kleidungsstückes einen gelben Judenstern tragen müssen«.

LeerDie Spannung dieser Situation ist für Jochen Klepper »ein Abgrund«, aber über dem Abgrund sieht er »Gottes Hände«. Am gleichen Tag (10) kann er notieren: »Als Gott in Christus Mensch wurde, wollte er den Juden gleich sein. Wer unschuldig leidet in dem 'Gleichwerden' seines Schicksals mit dem Christi unter dem Judentum, erlebt ein in die letzten Tiefen reichendes Ähnlichwerden mit Christus, in dem allein der Sinn unseres Daseins liegt.« Solches »Ähnlichwerden mit Christus«, das dem Dasein des Glaubenden Sinn verleiht, ist kein abstrakter theologischer Gedanke; es verleiblicht sich in erfahrener und gelebter Liebe, in der Beziehung zwischen diesem Mann und dieser Frau. »Was will ich denn mehr vom Leben? Diese Liebe ist so groß, daß ich sie mir gar nicht vorstellen kann«, schreibt Klepper am 10. Juni 1934 in sein Tagebuch.

LeerEs war wohl diese wirkliche, d.h. in die Wirklichkeit Gottes eingebettete Liebe, die den Individualisten und Künstler - damit bin ich beim zweiten Motiv, dem unsere Aufmerksamkeit gelten muß - sehend werden ließ: gerade auch für das, was sich im Deutschland der dreißiger Jahre ereignete. Hier ist nicht der Ort, den großen Roman »Der Vater« zu deuten, aber ich denke, in diesem Werk findet nicht nur Kleppers Sensibilität für die facettenreiche Gestalt des »rauhen Billum mit dem erlesenen Geschmack«, für den »Vater« und für den »Bürgerkönig« oder ein wesentliches Stuck Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater zu Wort, sondern vor allem auch der Versuch, die »Führer« Deutschlands mit dem Bild eines Mächtigen zu konfrontieren, der sein Amt unter dem Wort der alttestamentlichen Weisheit zu fuhren sucht: »... durch Gerechtigkeit wird der Thron befestigt« (Spr 16,12). Klepper selbst war durchaus unsicher, ob er mit dem, was er sagen wollte, tatsachlich auch gehört werden wurde, aber er wußte zugleich, daß dort, wo sich die Schriftsteller der kritischen Distanz zum geschehenen Unrecht begeben, »nur noch Gott selber« sprechen kann. »Hier bleibt nur noch das Gericht des alles entlarvenden göttlichen Gerichtes.« (11)

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LeerDieses Gericht sieht Klepper schon im Herbst 1935 und vollends wahrend der Olympiade von 1936 auf Deutschland zukommen. In den »Königsgedichten«, die - wie die »Olympischen Sonette« - nur vertrauten Freunden bekannt waren, mischte sich darum ohnmächtige Diagnose mit der Hoffnung auf Errichtung eines Staatswesens unter Gott.
Die Völker stehen ganz erstarrt in Waffen,
und der gilt viel, der neuen Tod erdenkt.
Auch wenn sie Sicheln zu den Schwertern schaffen,
bleibt dennoch nur der Untergang verhängt.

Daß sie im guten Wahne noch vernichtet,
das ist die ärgste Wirrnis dieser Welt.
Nun muß der kommen, der dein Kreuz aufrichtet
und dieses Zeichen über alle stellt.

Die Welt in Waffen ist gar sehr entkräftet,
und mancher sieht den Trug in ihrer Macht.
Vom König, der den Blick aufs Kreuz geheftet,
von keinem sonst, wird Hilfe uns gebracht.

Nur wer das Kreuz sieht, hat von fern verstanden
die Heiligkeit im irdischen Gericht.
Wenn Könige dein Golgatha nicht fanden,
so fanden sie auch ihre Throne nicht. (12)
LeerWas wie der Traum von einer erneuerten christlich-abendländischen Monarchie anmutet, ist in Wirklichkeit eine scharfe Abrechnung mit den selbsternannten Führern, mit den Verführern des deutschen Volkes und dem »Trug in ihrer Macht«. Ähnliche Verse begegnen uns in den »Olympischen Sonetten«, für mich selbst am dichtesten im letzten Gedicht dieses Zyklus, überschrieben »Zeughaus«:
Die Ampeln brennen über den Kanonen.
Die alten Fahnen hangen stumm im Lichte;
doch nicht zum Fest: sie werden zum Gerichte.
Sie rauschten in den Schlachten und vor Thronen.

Vor ihnen gilt kein Leugnen und kein Schonen.
Vor ihrem Wissen wird der Trug zunichte.
Zerfetzt von allen Leiden der Geschichte,
verdammen sie und weigern sich, zu lohnen.

Sie, die einst brausend in die Zukunft wehten,
sind wie das Schweißtuch eines Todgeweihten
und allen Schwüren dieser Welt entnommen.

Von Liedern schweigend, zeugend von Gebeten,
erkennen sie nur die fürs Kreuz Bereiten
und rufen nur noch, die als Beter kommen.(13)
LeerIn die gleiche Richtung weisen Tagebuchnotizen zum sogenannten »Röhm-Putsch« und zur nationalsozialistischen Propaganda 1934 und 1935, zum Antikominternpakt und zur »Achse Berlin-Rom« 1936, zu kulturpolitischen Entscheidungen im Winter 1938 oder zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939.

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LeerUnübersehbar ist allerdings die Spannung, in die Jochen Klepper damit gerät: als Glaubender und Liebender, als Schriftsteller und als Deutscher. Was laßt ihn in dieser Spannung bestehen? Unter welchen Perspektiven wird nachvollziehbar, was die Tagebucheintragung vom 21. Februar 1938 meint? »... diese Zeit (kann) nur gelebt sein ... wie eine 'Endzeit': nie mehr im Hinblick auf Plan und Sicherheit, Entschlüsse und Wünsche. Es ist ein Zustand der dauernden Bedrohung, in dem man dankbar sein muß für jedes Bild des Friedens. Sonst reibt man sich auf, und Gott bliebe stumm zu all der Wirrnis, all dem Leiden.« Ich meine, es sind drei Ebenen (vielleicht konnte man auch sagen, drei Räume), von denen her Klepper Orientierung in der Wirrnis seines Weges und tröstende Stärkung im Leiden seines Lebens empfängt.

LeerDa ist zum einen die Ebene des gehörten Wortes, des gehörten Evangeliums, das er - ganz im Sinne des Apostels Paulus (Römerbrief 1,16)- als Kraft versteht, als Kraft eines Willens, der nichts will als heilen und heimholen, der »allen Dingen« das Siegel seiner Liebe aufdrücken, der allem (sogar den Leiden und den »Lastern«!) einen Namen, also einen guten Sinn geben will (14), der jedem Menschen, ja, der ganzen Schöpfung zuspricht: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein« (Jesaja 43,1; Kleppers Taufspruch). Da ist zum anderen der Ort, an dem Jochen Klepper dieses Wort als Trostwort für sich und die Seinen hört, und dieser Ort ist nicht das ebenso trauliche wie kultivierte Heim oder das eigene Herz, sondern die Gemeinde der Mit-Glaubenden. Daß er mit anderen zusammen »den Sonntag feiern« kann, hilft ihm immer wieder heraus aus den Zweifeln - auch gegenüber seinem eigenen Glauben. Die Gemeinde ist es, »in deren Mauern die Schrift zu uns zu reden beginnt« (15). In ihr, in der Kirche, kann er sich sagen lassen und anderen weitersagen: »Glaubst du auch nicht, bleibt ER doch treu.« Im wandernden Gottesvolk, das durch das Kirchenjahr hindurch sich der Spur Jesu Christi vergewissert, wird ihm die Kraft der Hoffnung zuteil:
Durch Stern und Krippe, Kreuz und Taube,
durch Fels und Wolke, Brot und Wein
dringt unaufhörlich unser Glaube
nur tiefer in dein Wort hinein.
Kein Jahr von unsrer Zeit verflieht,
das dich nicht kommen sieht. (16)
LeerDie Feste des Glaubens mit ihrer Liturgie und ihren Liedern vermögen für ihn auszusprechen, was der Predigt so oft »versagt bleibt« (Ostern 1935); sie bilden - so schreibt er ein Jahr vor dem Tod - »einen Bannkreis gegen Kummer, Angst und Sorge«. (17)

LeerMit diesem letzten Gedanken kommt bereits die dritte Ebene in den Blick, von der hier zu reden ist. Es ist die Ebene der Zeichen und Spuren, die uns auf die heilende Wirklichkeit, auf das reale Wirken Gottes hinweisen: sei es im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wort des Evangeliums, sei es mittelbar und im gebrochenen Licht der Schöpfung, die uns umgibt und an der wir selbst Anteil haben. Die Sakramente - Taufe und heiliges Mahl mit Brot und Wein -, »das Kirchenjahr mit seiner immer neuen Vergegenwärtigung und Darstellung des Lebens Christi« (18), das »Kerzenfest«, mit dem die Familie nach der Christmette das Kommen des Gottessohnes weiterfeiert, aber auch die alltäglichen Erfahrungen des Schönen und Geordneten -»ein Dom in den Bäumen der Ebene, das Pastorale und der Kuckucksruf aus den blühenden Akazien« (19)-,ja sogar die Mode als »Symbol für das 'Glück der Vergänglichkeit'«, als »Zeichen für die Bereitschaft der Menschen, die Vergänglichkeit alles Lebenden einzusehen und dennoch die Schönheit des Irdischen in unser Leben aufzunehmen, als gälte sie für immer« (20) - all dies wird ihm zum Fingerzeig für Gottes Nähe, zur Spur dessen, der sich uns in der Heiligen Schrift, in der Predigt, im Gottesdienst der Gemeinde zugesagt hat und immer wieder zusagt. In diesem Kontext gewinnen auch seine Liebe zu Johanna Stein und die Erfahrung des Geborgenseins in ihrer Liebe (nicht erst die 1938 nachgeholte kirchliche Trauung) einen gleichsam sakramentalen Charakter. (21)

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III. Gelebter Glaube: Gratwanderung

LeerNicht erst seit Rita Thalmanns Buch über Jochen Klepper wurden und werden immer wieder Stimmen laut, die das Skandalon spiegeln, das Anstößige, das in diesem Lebensweg und im Ende dieses Lebens sichtbar wird.

LeerSchon 1959 war Klepper von einem schweizerischen Schriftsteller als »deutsches Schaf« apostrophiert worden, das der deutschen evangelischen Kirche nicht »zur Zierde gereicht«. Der Fall Klepper ruhe als ein Makel auf ihr, »von dem sie sich reinzuwaschen hat«. Die »Schicksalsergebenheit«, die in Kleppers Denken und Leben Ausdruck finde, sei »weit schlimmer als die vom dialektischen Materialismus geschaffene ...« (22)

LeerIn die Reihe der Voten, die sich kritisch von Klepper und seiner Haltung distanzieren, gehört nicht nur der Beitrag von Ernst Feil hinein, der zum 75. Geburtstag des Dichters in »Christ in der Gegenwart« erschien, sondern auch das, was über den Bildschirm zu vielen Menschen in Deutschland gelangte - zuletzt am Ewigkeitssonntag 1992 unter dem Titel »Ein Dichter unterm Hakenkreuz. Der Tod des Jochen Klepper«.

LeerGrundtenor war und ist dabei allemal der Vorwurf einer in falschem Obrigkeitsglauben und nationaler Befangenheit wurzelnden Unterwerfung gegenüber den Machthabenden. Abgesehen davon, daß die genauere Analyse des Tagebuches und des dichterischen Werkes von Jochen Klepper ein solches Urteil schlicht verbietet, ist soviel allerdings deutlich: Kleppers Leben aus Glauben hatte in der Tat ein anderes Gesicht als etwa das Leben Dietrich Bonhoeffers. Rita Thalmann sucht den Vergleich beider Existenzwesen auf den Begriff zu bringen, wenn sie schreibt: »Was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis vor seinem Tod im Konzentrationslager erkannte, hat Jochen Klepper wie die meisten Zeitgenossen nicht erfahren: daß hinter dem Blendwerk des Irrglaubens, der Vorurteile, des Klassen- und Rassendünkels die 'mündige Welt' existiert, die Welt derjenigen, die für die Gleichberechtigung und freie Entfaltung aller Menschen ohne Unterschied des Glaubens, der Nationalität, der Hautfarbe leben und kämpfen.« Klepper dagegen, »der mehr und besser als viele andere über den Ernst der Lage unterrichtet war, hat sich dennoch ins Schweigen und Dulden geschickt. Er hat sich immer wieder 'angepaßt', bis kein Anpassen mehr möglich war.« (23) Jeder wird, denke ich, die tiefe Spannung empfinden, die hier zutage tritt. Kann Christ-Sein wirklich auf so gegensätzliche Weise Gestalt gewinnen?

LeerMir selbst hat angesichts dieser Frage ein Gedanke geholfen, auf den ich bei Leszek Kolakowski gestoßen bin. (24) Dieser polnische Philosoph spricht einmal davon, es gebe zwei Arten, das menschliche Leben zu verstehen. Zum einen könne man den Menschen von seiner geschichtlichen Bestimmtheit her betrachten und damit zugleich im Blick auf seine Verantwortung als Handelnder. Andererseits sei es möglich, ihn - wie der polnische Philosoph vielleicht mißverständlich sagt - von den »biologischen Gegebenheiten« her anzusehen, und dazu zählt er vor allem Erscheinungen wie Jugend, Reife und Alter, die Geschlechter, die Begegnung mit dem Tod und die Liebe.

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LeerWahrscheinlich tun wir gut daran, diese beiden Sichtweisen nicht einfach gegeneinander auszuspielen. Alter und Geschlechtlichkeit sind ebenso wenig etwas bloß Schicksalhaftes, wie geschichtliche Verantwortung allein als das zu verstehen ist, was wir in jedem Falle wahrnehmen oder gar handhaben könnten. Dennoch will es sinnvoll erscheinen, gerade auch im Ineinandergreifen von Glauben und Leben, von Religiosität und konkreter geschichtlicher Existenz einmal eher die verantwortete Gestaltung, ein anderesmal eher das Widerfahrnis, die Führung und die Fügung zu sehen. Mit Worten und Bildern der Bibel ausgedrückt: Neben dem öffentlich Redenden und Tätigen, dem Propheten etwa, steht immer auch der »Stille im Lande« (Psalm 35,20); neben dem, der im weittragenden Handeln Gott vor den Menschen bekennt, steht immer auch derjenige, der sein und seiner Brüder Leben und Leiden ganz in die Hände Gottes legen muß, weil ihm äußere und innere Bedingungen die Aktion verwehren. Beide - der, der unerschrocken den herrschenden Gewalten entgegentritt und damit in die Geschichte eingreift, und der an den Ereignissen Leidende, ihnen wehrlos Ausgelieferte (der eben darin aber am Vertrauen auf Gott festhält) -, beide sind immer wieder zu Wegweisern und Leuchtfeuern geworden: in den Gestalten der Bibel selbst wie in denen, die man später die »Heiligen« nannte. Wieder und wieder geschah (oder geschieht) es, daß dieser oder jener unter ihnen Vor-Bild für einen anderen Menschen wurde und ihn so »aus der Begrenztheit des eigenen Horizontes« in die »unerschöpfliche Weite sich wandelnder Situationen und neu sich erschließender Erfahrungsraume« führte. Mehr noch: In der Begegnung mit ihnen erfuhren Menschen immer neu »die jeweilige Gegenwart als den Ernstfall des Glaubens« (25) - als den Ernstfall, vor den jedes Leben auf seine Weise gerät.

LeerBeide - Dietrich Bonhoeffer und Jochen Klepper - sehen die Gefahrdung, in die der Christ auf dem schmalen Kammweg des Glaubens geraten kann. Was Bonhoeffer mit dem Stichwort »Widerstand und Ergebung« umschreibt, spricht Klepper an, wenn er auf die notwendige »Scheidung zwischen Glaube und Fatalismus, Glaubenszuversicht und fanatischer Aktivität zur Rettung der Existenz« aufrnerksarn macht. (26) Bonhoeffer verklammert beide Haltungen - Widerstand und Ergebung -miteinander und sucht je und je neu zu bestimmen, was geboten ist. Klepper geht gleichsam einen mittleren Weg, von der Liebe geleitet, wie er sie versteht - nämlich als »Bleiben«. Als Bleiben bei denen, in deren Schicksal er sich hineingebunden weiß: bei Johanna Stein; bei der real existierenden Kirche, bei den Deutschen mit ihrer Schuld und ihrer Verstrickung. Dieses Bleiben-Wollen läßt ihn nicht zum aktiven Widerständer werden, aber es macht ihn auch nicht handlungsunfähig, läßt ihn nicht abgleiten in den Fatalismus. Kleppers Wille zum Bleiben bei den (tatsächlich oder vermeintlich) Ohnmächtigen laßt ihn das leisten, was ihm möglich ist: Fürsorge für die ihm anvertrauten Menschen. Als diese Fürsorge vergeblich zu sein scheint, tut er den anderen für ihn möglichen Schritt - auf den zu, dem seine Hoffnung im Leben und im Sterben gilt.

LeerWer war, wer ist Jochen Klepper? Ist er mehr als nur ein tragischer »Fall«? Kann er Beispiel sein? Beispiel des Glaubens für diejenigen, die nach ihm leben, also auch uns? Im vordergründigen Sinne wohl nicht. Das Leben des Jochen Klepper ist zunächst das unverwechselbar-einmalige Leben eines Menschen im Spannungsfeld zwischen Hoffnung und geschichtlicher Wirklichkeit, zwischen den Forderungen des Gewissens und der Ohnmacht des Herzens, zwischen Selbstanklage und Zuspruch des Glaubens. Aber dieses unverwechselbare Leben weist in eben seiner Einmaligkeit über sich selbst hinaus. Es weist hinauf den, der allein zu tragen vermag - gerade dort, wo unsere »Schwinge ruht.« (27)

LeerHeinrich v. Kleist stellte über seinen Weggang aus der Welt den bitteren Satz: »Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.« Man könnte dieses Wort, läse man es in Beziehung auf Jochen Klepper, im doppelten Sinne als theologische Aussage verstehen. Zum einen als bleibende Anfrage an die Gemeinde, inwieweit sie fähig war, nein: fähig ist zum Tun der Liebe an denen, die sich selbst nicht mehr helfen konnten, als Anfrage an die Mitglaubenden, ob sie wirklich bereit waren und sind, den Bedrängten »ein Christ zu werden, wie Christus uns geworden ist« (28); zum anderen als Zeugnis des Vertrauens auf den Gott, der mit seinem »letzten Wort« alles »Vor-Letzte« außer Kraft setzt, als Zeugnis eines Vertrauens, das im Zerbrechen des Vor-Letzten schon den Vorschein des Letzten, den Advent des lebendigen Herrn wahrnimmt.

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Anmerkungen:
* Vortrag anläßlich einer Tagung der Ev. Akademie Hofgeismar, gehalten am 11. Dezember 1992.
1: Briefwechsel (hrsg. von Riemschneider), S. 19.
2: Tgb. S. 241 (10.3.1935).
3: Tgb. S. 99 (19./20.8.1933).
4: Tgb. S. 93 (3.8.1933).
5: Tgb. S.63 (28.5.1933).
6: Das Ja zu diesem Kontext kann sich positiv (mit-tragend) und negativ (als Kritik) ausdrücken, aber der »unpolitische Mensch«, als den sich Klepper sieht, verweigert zunächst beides.
7: Vgl.Tgb.S. 62f.
8: Tgb. S.105 (7.9.1933).
9: A.a.O. (8.9.1933).
10: 15.9.1933: vgl. Überwindung, S. 198 f.
11: Tgb. S. 474 (19.7.1937).
12: Ziel der Zeit, S. 40.
13: A.a.O. S. 38.
14: Tgb. S. 52 (18.4.1933).
15: Stadt der Mitte (1937).
16: Kyrie.S. 21 (hier: S. 23).
17: Tgb. S. 1009 (26.12.1941).
18: Klepper kann es zugleich als das »größte Kunstwerk der Menschen bezeichnen«, mit dem uns Gott gleichwohl »in immer neuem Lichte« und »in ganzer Fülle« sein Wort schenkt (Tgb. S. 728).
19: Tgb. S.182 (15.5.1934).
20: Briefwechsel, S. 35.
21: Vgl. Die Trias von Leidenserfahrung, schöpferischer Liebe und Glauben (»Angst um die Existenz ... Hanni...Die Kunst... Gott« in der Eintragung vom 11.3.1933 (Tgb. S. 42).
22: Rudolf Jakob Humm, zitiert bei Grosch: »Nach Jochen Klepper fragen«, Stuttgart, 1982, S. 168 f.
23: R. Thalmann: Jochen Klepper, München, 1977, S. 381.
24: Vgl. François Bondy: Der Teufel ist mir lieb. Ein Gespräch mit dem Philosophen L. K., in: Die ZEIT 42/1973, S. 18.
25: Karin Bornkamm: Das Gewicht der Kirchengeschichte. In EvER, 1976, S. 189-292 (Zitat 201).
26: Tgb. S. 691 (8.12.1938).
27: Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand,
ohne Gott ein Tropfen in der Glut,
ohne Gott bin ich ein Gras im Sand
und ein Vogel, dessen Schwinge ruht.
Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,
bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.
(Ziel der Zeit, S. 9).
28: Vgl. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), Clemens 2, 25

Heinz Grosch
Quatember 1993, S. 67-77

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-20
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