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Die Summe altkirchlichen Denkens im Werk des Aurelius Augustinus
von Ulrich Wickert

Für Jürgen Boeckh, den Siebzigjährigen

I Geschichtlicher Ort

LeerIm Blick auf Augustinus (354-430) ist von der »Summe« altkirchlichen Denkens die Rede. Das ist anders gemeint, als wenn jemand von der theologischen »Summe« eines Scholastikers spräche. Thomas von Aquino zum Beispiel hat auf der Hohe des Mittelalters, im 13. Jahrhundert, eine theologische Summe verfaßt. Sie ist ein nach streng definierten Methoden des Denkens abgezirkeltes Werk, in welchem das Wissen der erleuchteten Vernunft über Gott und die Welt geordnet und durch Argumente gesichert ist. Die Wirklichkeit ist hier zum System geworden, zustande gebracht durch ein schrittweise sich vor sich selbst verantwortendes Denken, das, indem es sich von einer Station zur anderen allererst gewinnt, sich auch selber in der ihm eigenen Vernünftigkeit durchsichtig wird. Augustinus hat eine solche theologische Summe nicht verfaßt. Er läßt sich eher mit Goethe vergleichen, der von sich sagen konnte, er habe in seinem Werk die Summe seiner Existenz gezogen. Die Summe nicht als logisch stringentes System, sondern als einheitliche Gestalt gelebten Lebens, das in einer Fülle kaum noch zu überblickender Gelegenheitsschriften auf die akuten theologischen Probleme seiner Zeit reagiert und immer neue Aspekte des dramatisch vollzogenen Erkenntnisprozesses sehen laßt: Das ist Augustin. Die in sich freilich geschlossene Gedankenwelt des reifen Marines ist nicht das Resultat logischer Deduktion, sondern die Frucht eines inneren Weges, den der nachmalige Bischof von Hippo Regius durch viele Stadien einer geistigen Entwicklung zurückgelegt hat. Was in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts in der Luft lag, das hat der junge Rhetor in sich aufgenommen, zum Teil wieder abgestoßen, zum Teil verwandelt; und was am Ende herauskam, das war jene geschichtlich gewachsene »Summe« existentiell ergriffenen Wissens, das sich niemals einem System fugt. Wo Lebendiges unterwegs ist, da bleibt immer ein Rest. Damit ist der, wie mir scheint, entscheidende Unterschied zwischen patristischem und scholastischem Denken berührt. Nicht daß ein Thomas den Entwurf seines Systems nicht kraft seines christlichen Existenzvollzugs geleistet hätte - er ist ja im Denken fromm! Nicht daß Augustinus die rationale Stimmigkeit seines Denkens vernachlässigt hätte! Aber die Akzente sind unterschiedlich gesetzt. Die Kirchenväter sind damit beschäftigt, sich die christliche Denkwelt allererst zu erkämpfen, das Dogma aus biblischer Tradition, griechischer Philosophie und römischen Geschichtsbewußtsein teils erst herauszuziehen, teils apologetisch dagegen abzuschirmen. Die Scholastiker konnten dies Erbe übernehmen, sie mußten nicht noch einmal ganz von vorn anfangen. Als die in der Kette der Überlieferung Zweiten waren sie frei, einen schon vorgegebenen Inhalt verständiger Untersuchung zu unterwerfen. Damit hängt offenbar zusammen, daß die altkirchliche Vaterlehre so oft die Züge eines objektiv Gewichtigen trägt, wahrend die Scholastik auf weite Strecken hin das Gesicht einer spielerisch experimentierenden, ihrer Ratio sich jugendlich freuenden Subjektivität zeigt. Sonderbare Verkehrung der Proportionen! In der Alten Kirche war der existentielle Einsatz riesengroß und die Frucht weithin: ein gleichsam schwerblütig bei sich selbst beharrendes Objektives. In der Kirche des Mittelalters wurde das überkommene Objektive des altkirchlichen Dogmas zum Gegenstand der Bearbeitung durch eine Ratio, die sich ihrer eigenen Prinzipien viel stärker bewußt wurde; und gerade dadurch, wie es scheint, entstand ein Freiraum für die immer deutlicher sich profilierende Subjektivität - ein Weg, der in gleitenden Übergängen zur Neuzeit führt. Die altkirchlichen Vater waren früher, sie machen einen älteren Eindruck: Irgend etwas an ihnen ist archaisch.

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LeerNun ist aber der geschichtliche Ort Augustins nicht nur dadurch zu bestimmen, daß man den Kirchenvater zu denen in Beziehung setzt, auf die er gewirkt hat. In seiner nächsten Umgebung, zu seiner Zeit nimmt Augustin eine klar umrissene Stellung ein. Er ist der letzte in der Reihe der drei großen Afrikaner, die man als Repräsentanten eines die Kirche des Amts (das Kollegium der Bischofe) transzendierenden Spiritualismus bezeichnen darf. Der erste ist Tertullian (um 200), der zweite Cyprian von Karthago (um 250). Was bei Tertullian in zwei Phasen seiner Biographie auseinanderbricht - für den Katholiken Tertullian ist die Kirche die Summe der Bischöfe, für den zum Montanisten Gewordenen ist die Kirche der Geist -, das ist bei Cyprian in einen einheitlichen Lebensvollzug, in eine zusammenhängende Denkbewegung versammelt. Für Cyprian ist das Mysterium der Einen Kirche als Braut Christi, als Mutter der Gläubigen im Bischof präsent - das spirituelle Moment ist in die Kirche des Amtes gleichsam zurückgeborgen. Auf Tertullian und Cyprian folgt Augustin. Die vorfindliche Kirche des Amts und der Sakramente tritt bei ihm mit der geistbestimmten Kirche der Glaubenden und Erwählten zu einer spannungsvollen Einheit zusammen.

LeerDie geschichtliche Ortsbestimmung ist aber auch damit noch nicht an ihr Ende gekommen, daß man Augustinus als letzten in der Reihe dieser drei nordafrikanischen Theologen vom Ende des zweiten bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts sieht. Zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte und zur Herkunft aus einer bestimmten altkirchlichen Region und Tradition tritt drittens der Gesamthorizont der Großkirche des Altertums aus Griechen und Römern, die seit dem Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus im Werden begriffen ist. Augustinus repräsentiert sie in einem ausgezeichneten Sinne. Die Großkirche aus Griechen und Römern entsteht gegen Ende des ersten Jahrhunderts in dem Augenblick, da sich mit der christlich modifizierten jüdisch-apokalyptischen Endzeiterwartung der Urchristenheit das kosmologische Weltgefüge der hellenistischen Popularphilosophie ausdrücklich verbindet - in welchen Raum der einstweilen noch beharrenden Welt dann überdies die metaphysisch gedachte geistige Sphäre von »oben« leuchtend hereindringt. Der mit griechischen Denkmitteln begriffene, geozentrisch gedeutete Kosmos wurde nunmehr als Geschöpf des Gottes Israels geglaubt und auf den wiederkommenden Christus hin orientiert. Weder den Schöpfungsglauben noch die Endzeiterwartung hat die Alte Kirche preisgegeben. Aber beides hat sie mit der von den Griechen ererbten Weltsicht kombiniert und in die für römisches (lateinisches) Bewußtsein zielstrebige Weltgeschichte integriert. Griechisches Denken bekehrte sich zu Christus, ohne aufzuhören, griechisches Denken zu sein. Der römische Wille kehrte zu Christus um, ohne deswegen aufzuhören, römisch zu wollen. Durch beide Vorgange ist Augustinus an seinem Ort entscheidend geprägt. Sein Denken ist von griechischen und lateinischen Traditionen gespeist: Er ist auch und gerade als Christ ein lateinischer Grieche gewesen.

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II. Augustins innere Entwicklung

LeerAugustins verschiedene Lebensperioden müßten durchsichtig vor Augen stehen, damit als »Summe« seiner Existenz die innere Form seiner Lehre zum Vorschein käme. Sein Weg hat damit begonnen, daß er, neunzehnjährig, an einer philosophischen Schrift des vorchristlichen römischen Autors Cicero (106-43 v. Chr.), nämlich an dessen Dialog Hortensius, die Erweckung zum Geist, zum philosophischen Bios erfuhr. Dies geschah in dem Sinn, daß hier eigentlich sein Herz schon zu Christus erweckt wurde - sehr merkwürdig, aber doch verständlich, wenn man bedenkt, daß im jungen Augustin die Möglichkeit, Christ zu werden, als Frucht der Erziehung durch seine Mutter Monnica schon bereitlag; und wenn man zugleich in Betracht zieht, wie eng das damalige Christentum und ein platonisierendes Denken einander berührten. Seine Erweckung hat Augustinus in den Confessiones mit eindrucksvollen Worten geschildert.(1) Der junge Mann wurde von Liebe zur himmlischen Weisheit ergriffen, er nahm in sich eine Wesensveränderung wahr; die Richtung seines Willens wurde auf elementare Weise neu orientiert, eine ihm bis dahin verborgene geistige Dimension erschloß sich für ihn; und er bemerkte, wie seine innersten Strebungen und Wünsche, die bis dahin nur Karriere und nichtigen Ruhm umkreisten, auf einmal Tiefgang und einen Zug zum ewigen Du gewannen. Der junge Mann begann zum ersten Mal wirklich zu beten. Und die negative Entsprechung zu diesem Durchbruch zum Geist war die auf der Stelle geschehende Entlarvung des menschlichen Treibens, die Entdeckung, daß der Mensch durchschnittlich in einer Verfallenheit lebt, die er freilich erst gewahrt, wenn er in gewissem Sinne schon davon frei ist. Augustinus war imstande, von dieser Wirkung auf ihn, den neunzehnjährigen Studenten, zu sagen: Dies war doch eine Philosophie, gegen die selbst ein Paulus nichts hätte einwenden können! Nur der deutlich ausgesprochene Name Christi fehlte ihm in jenem ciceronischen Dialog.

LeerDie innere Erfahrung des jungen Augustin muß nach zwei Seiten betrachtet werden. Negativ bedeutet sie die plötzliche Distanzierung von der nichtigen Hoffnung auf irdischen Ruhm und Gewinn. Positiv bedeutet sie die Entdeckung des Geistes - nicht abstrakt, sondern in einem personal-substantiellen Sinn, als Hingenommensein in die intelligible Sphäre des göttlichen Du. Nun war aber der Studiosus darnit in eine dualistische Grundhaltung geraten. Die unsterbliche Weisheit, nach welcher Augustins Geist von nun an dürstete, drängte die nichtige Hoffnung auf Irdisches in ihre Schatten zurück, jedoch: Dort im Schatten rumorte es weiter. Augustinus geriet in den Zwiespalt zwischen Wollen und Nichtkönnen, zwischen der grundsätzlich eröffneten Möglichkeit eines geistbestimmten Daseins und der Unfähigkeit, die Fesseln des Hiesigen wirksam zu sprengen. In diesen Zusammenhang gehört, daß Augustinus nun darüber zu grübeln begann, wie das Böse in die Welt gekommen sei. Ciceros Hortensius hatte also einen Anstoß gegeben, aber der in dieser Schrift nachwirkende Platonismus hatte nicht durchschlagend befreiend gewirkt. Vielmehr war Augustinus, in den Kampf zwischen Gut und Böse gestellt, nun reif fur den Manichäismus geworden; eine dualistische Weltreligion, die im vierten Jahrhundert im Westen wie im Osten weit um sich griff; nach dem Babylonier Mani (216-276) benannt, der in Indien und Persien missioniert hatte. Als Manichäer, der Augustinus nun wurde, war er damit beschäftigt, den Teufel durch Beelzebul auszutreiben. Im Anfang waren zwei Grundprinzipien, das Gute und das Böse; der gegenwärtige Weltzustand zeigt eine Vermischung aus beiden; aber wer den Geistfunken in sich trägt, der kann am Ende entmischt und befreit werden. Diese manichäische Erklärung für den von Augustinus als quälend empfundenen Zustand war im Grunde doch nur geeignet, seine innere Zerklüftung zu bestätigen und zu fixieren. Aber nicht nur dieser im engeren Sinn biographische Aspekt ist hier von Belang. Vielmehr ist von Bedeutung, daß Augustinus auf seinem ganz persönlichen Weg in die geistesgeschichtlichen Spannungen gerät, die die Kirche von ihren Anfangen her bedrängen. Es ist von außerordentlich weitreichender Wirkung gewesen, daß Augustinus den Kampf, welchen die Kirche in Auseinandersetzung mit der dualistischen Gnosis wahrend des zweiten Jahrhunderts für sich schon gewonnen hatte, in seiner Person noch einmal so grundlegend ausfechten mußte. Vermutlich wäre er nicht imstande gewesen, dem mittelalterlichen Denken im voraus die Straße zu bauen, wenn er nicht die größte Gefahr, durch welche die Alte Kirche gleich von ihren Anfangen her gegangen war, in sich selbst noch einmal hatte bestehen müssen. Man muß sich, wie Nietzsche bemerkt, zur Abbreviatur der Geschichte machen, um zu wirken. (2)

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LeerAugustins hohe Bedeutung für die Geschichte des christlichen Denkens stellt sich aber nun nicht einfach dadurch her, daß er nach seiner Enttäuschung durch den Manichäismus, dem er neun Jahre lang angehörte, auf den überlieferten Glauben der Kirche stracks zurückgegangen wäre. Für kurze Zeit führte ihn seine Ernüchterung dazu, daß er sich dem philosophischen Skeptizismus öffnete. Von ihm befreite er sich auf eine Art, die offenkundig bis in die Neuzeit, bis zu Descartes hin ihre Wirkung getan hat. Er sagte sich, wenn er denn an allem zu zweifeln ein Recht habe, so doch jedenfalls daran nicht, daß er sich in seinem Bewußtsein als ein Zweifelnder gegeben sei - woraus er schließen müsse, daß er als ein Zweifelnder jedenfalls existiere. Also gewissermaßen: Dubito sum - Ich zweifle, also bin ich; eine Vorwegnahme des genereller konzipierten Cogito sum - Ich denke, also bin ich, bei Descartes (1596-1650).

LeerNach solcher Selbstbefreiung war der nächste wichtige Schritt, daß Augustinus auf seinen durch Cicero vermittelten platonisierenden Anfang gereifter zurückgreifen konnte: daß er Einsicht in den seit dem dritten Jahrhundert neu begründeten Platonismus gewann, daß ihm klar wurde: Gott ist Geist; Gott ist im höchsten und tiefsten Sinne gut; Gott bestimmt die von ihm ausgehende Wirklichkeit so durchgreifend und total, daß es für ein neben ihm stehendes gleichwertiges Prinzip des Bösen keinen Raum gibt. Was böse ist, das ist böse durch den Abfall vom ewigen Guten. Ein Mangel an Gutem ist das Böse, privatio boni; eine eigenständige Existenz und Bedeutung kommt ihm nicht zu. Augustinus entwickelt sich also in seiner Begegnung mit dem Neuplatonismus im wohlverstandenen Sinne zu einem Monisten. Er war nun imstande, die Schatten, das Böse, die Verfallenheit und Nichtigkeit der irdischen Dinge, auf welche sich die Hoffnung der Verblendeten richtet, in ein umfassendes, durch Gott allein bestimmtes Weltgefüge zu integrieren. Gott war das höchste Sein und höchste Gut, summum esse und summum bonum, alles nichtgöttliche Seiende befand sich im Status eines von Gott her abgeleiteten und abgeschatteten Seins, und das Böse war keine eigenständige Position, sondern Manko, Defekt. Für den Christen Augustinus wurde das Böse auf dieser Grundlage späterhin zur willentlichen Abkehr vom eigentlich seienden Gott, zum Absturz in die selbstverschuldete Nichtigkeit, in welcher der Verdammte durch göttlichen Richterspruch alsdann fixiert ist. Hier war für Augustinus nicht nur ein partielles Problem (die Frage nach dem Ursprung des Bösen) gelöst. Vielmehr hatte er nun im Ganzen des Wirklichen seinen eigensten Existenzraum gefunden: Er wußte jetzt, wo er sein eigenes Böses anzusiedeln hatte.

LeerAugustinus hatte grundsätzlich seinen Existenzraum gefunden, aber, wenn man es so sagen wollte, innerhalb dieses Existenzraums noch nicht seine Identität. (3) Er konnte in diesem Existenzraum noch nicht existieren, denn noch handelte es sich um reines Kopfwissen, um einen besseren Begriff von Gott und der Welt, ohne daß der Platonismus ihn dazu hätte ermächtigen können, seine innere Zerspaltung auch existentiell zu überwinden und ein anderer Mensch, ein ganzer, zu werden. Zur wirklichen Selbstfindung kam es erst, als bei ihm durchschlug, was schon bei der Lektüre des ciceronischen Hortensius als Element der Erweckung auch in ihm wirksam gewesen war die christliche Qualität der neu entdeckten geistigen Sphäre, die ihm in Wahrheit nicht durch Cicero, sondern durch seine Mutter Monnica -vorwegnehmend - vermittelt war. Entscheidend wurde für Augustinus jetzt der Umgang mit jenem Presbyter Simplicianus, der späterhin Nachfolger des Bischofs Ambrosius auf der Mailänder Cathedra werden sollte. Von ihm lernte Augustinus, man müsse die Logoslehre des Johannesprologs als Vervollkommnung der Lehre des Neuplatonikers Plotin (um 205-270) vom Geist, vom Nus verstehen. Mit anderen Worten: Der präexistente Christus rekapituliert in sich die von Platon entdeckte intelligible Sphäre! Von Simplicianus lernte Augustinus außerdem, daß Paulus für das Verstehen und den Vollzug des christlichen Glaubens von entscheidender Wichtigkeit sei. Man sieht: Auch ein Augustinus hat, wie Luther, seinen Staupitz gebraucht. Und jetzt ging Augustinus an Paulus auf: Alles, was die Platoniker auf ihre Art Richtiges sagten, konnte doch erst zünden, wenn er als Zuspruch der Gnade begegnete. Gott war nicht weltenfern und mußte nicht auf Leitern der Ratio erstiegen werden. Nein, umgekehrt war Gott zum Menschen hin unterwegs! Hiermit hing die ganz persönliche Erfahrung zusammen, die Augustinus offensichtlich bei der Lektüre des Textes gemacht hat, welchen wir den Christushymnus des Philipperbriefs (Kapitel 2) nennen. An der Selbsterniedrigung des Gottessohnes ging ihm die Demut, die humilitas Christi auf - mit dem Ergebnis, daß sein eigener Hochmut (superbia) in der Begegnung mit diesem Demütigen zu nichts zerschmolz und er einen Geschmack von jener Liebe bekam, die nicht von oben herab, sondern von der Basis der Demut (a fundamento humilitatis) her aufbaut. (4)

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LeerEs handelt sich mithin bei Augustinus um einen doppelten Schritt der Integration. Der recht verstandene Platonismus verhalf ihm dazu, seinen Dualismus durch einen die Totalität des Wirklichen in sich verklammernden Monismus zu überwinden. Der Paulinismus verhalf Augustinus dazu, nun wiederum den Platonismus zu integrieren, die vorab theoretisch sichergestellte Realität nun wirklich als Lebensraum für sich zu gewinnen. Durch die wirksam in die Niedrigkeit und Tiefe des Menschseins dringende Liebe zu Christi war Augustin sich unversehens aus der Hand genommen - er fand zur Freiheit von sich selbst und von der versuchlichen Realität, und darin gerade, paradox, in die radikale Nahe zur Realität. Die durch Irrungen und Wirrungen hindurch angeeignete Welt konnte jetzt erst wirklich verantwortet werden. Bester Beweis hierfür ist jener christlich-platonische Stufenweg, den Augustinus in Ostia im Gespräch mit seiner Mutter Monnica durchschritt - bis hin zu jenem äußersten Gipfel einer mystischen Erfahrung, die ihn mit sanftem Schlag des Herzens an Gott rühren ließ, nachdem die Sphären der sinnlichen und geistigen Welt aufwärts durchschritten waren. (5) Paulus hat in Augustinus als Katalysator gewirkt, durch ihn ist der in dem Manne gespeicherte, aber einstweilen sterile Platonismus gleichsam liquide und von innen heraus schöpferisch geworden. Man darf in Augustinus kein falsches Entweder-Oder ansiedeln: Die Frage, ob er Christ oder Platoniker gewesen sei, ist ein leider immer wieder erörtertes Scheinproblem. Als (paulinischer) Christ erst ist er zum lebendig erweckten Platoniker geworden, (6) und hier ist der entscheidende und tiefgreifende Unterschied zu Luther, der durch seine nominalistische Herkunft dem authentischen Platonismus so gründlich entfremdet war, daß er diese Grundströmung der kirchlichen Überlieferung nicht zu apperzipieren vermochte. An dieser Stelle liegt ein theologisches Problem, dessen Lösung möglicherweise über die Zukunft des nunmehr fast zweitausend Jahre alten Christentums entscheiden wird: Wie verhält sich, im ökumenischen Horizont, Augustins Paulinismus mit Platon zu Luthers Paulinismus ohne Platon, und ist man sich dessen wirklich sicher, daß die Reformation in dieser Hinsicht das letzte Wort schon gesprochen hat?

LeerDie prästabilisierte Harmonie zwischen Paulus und Platon ist in Augustin freilich erst wirklich zum Zuge gekommen, nachdem seine Erfahrung im Mailänder Garten (wo er von einer Kinderstimme den Anstoß erhielt, Romerbrief 13,13 f. aufzuschlagen und auf sich zu beziehen) ihn zu dem Entschluß ermächtigt hatte, sich endgültig aus den ihn beengenden Fesseln der Sinnlichkeit zu losen und ein Leben im Geist zu fuhren - also endlich zu sein, was er im Grunde längst war. Um eine »Bekehrung« zum Christentum handelt es sich bei dieser sogenannten Gartenszene nicht, sondern um den Entschluß, eine asketische Lebensform zu wählen, nachdem die Entscheidung für den christlichen Glauben langst gefallen war. Augustinus überwand die von der Glut seiner Sinnlichkeit gespeiste Unentschlossenheit zum Geist - und in diesem Sinne kehrte er schließlich, auf den Umwegen seiner geistigen Odyssee, zu der nun endgültig christlich begriffenen ciceronischen Erweckung des Neunzehnjährigen zurück.

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III. Augustins Theologie als Rekapitulation von Geschichte

LeerAugustinus begreift sein eigenes, individuelles Leben als Entwicklung, als Geschichte, als eine Bewegung von Gott her zu Gott hin, wie er es in den Confessiones meisterlich zeichnet. Aber diese individuelle Entwicklung vollzieht sich in Augustins Bewußtsein nicht isoliert, sozusagen im stillen Kämmerlein; sie ist von vornherein ins Ganze von Zeit und Welt integriert. Darum weitet sich in den letzten Büchern der Confessiones der Blick, der individuelle Bios wird zur Schöpfung hin überschritten - Augustinus legt die ersten Passagen der Genesis aus. (7) Und wie in den ersten zehn Büchern die Zeit ausdrücklich der Weg war, der den begnadigten Sünder zur Ruhe in Gott hinführt, so wird in den letzten Büchern die Zeit zum philosophisch-theologischen Thema, zuletzt in dem Sinn, daß sie zu ihrer eigenen Aufhebung im Eschaton drängt. Hier fuhrt Augustinus den Gedanken der geschaffenen Weisheit (der sapientia creata) ein, und damit verspannt er den letzten Ausblick seines ins Ganze der Schöpfung mündenden persönlichen Lebensweges mit dessen Anfang, wo ihn Cicero zur Liebe zur ewigen Weisheit entflammte. Ein paradoxer Vorgang: denn die nun aufleuchtende geschaffene Weisheit darf mit der von Ewigkeit her gezeugten göttlichen Weisheit, die Augustin in Ostia mit seinem Herzen berührt hat, mit Christus also, nicht verwechselt werden! Die geschaffene Weisheit, im Anschluß an Sprüche 8 als Grund und Ziel der Schöpfung verstanden; sozusagen eine vorweltliche Immaculata (unbefleckt Empfangene), die freilich noch nicht Maria heißt, verwaltet den Raum zwischen Gottes Ewigkeit und der Zeit, in welcher, als der Grundform alles Seienden, die Welt geschaffen wurde. Diese geschaffene Weisheit ist zugleich das himmlische Jerusalem der Apokalypse, sie ist die himmlische Mutter von Galater 4, die Kirche und Braut, die himmlische Gottesstadt (civitas Dei) und als solche der kreatürlich-eschatologische Zielpunkt der Weltgeschichte. In ihrem Schoß macht sich der Dreieinige Gott den erlösten Menschen für ewig zum Eigentum. Dabei erweist sich die geschaffene Weisheit als ein vom Menschen anzugehendes, innig zu ergreifendes Du. Gott besitzt mich in dir, kann Augustinus zu dieser vorweltlichen Kreatur sagen: Aufregend, denn es ist die einzige Stelle, wo er sein Gebet zum barmherzigen Gott unterbricht, als welches die Confessiones von A bis Z, in ihrer Gänze sich darstellen. (8)

LeerTraditionsgeschichtlich betrachtet ist dies die weisheitlich-platonisierende Überhöhung jener Mutter Kirche (Mater Ecclesia), deren Geheimnis wir bei Cyprian flüchtig berührt haben. Die sachliche Bedeutung liegt darin, daß Augustinus mit der geschaffenen Weisheit einen metaphysisch-eschatologischen Denkhorizont gewinnt, der nicht schon mit dem durch Trinitätstheologie und Christologie umschriebenen Denkhorizont identisch ist. Innerhalb dieses kreatürlich Umgreifenden begibt sich für Augustinus Gottes Handeln in Christus. In ihrer tiefsten Schicht ist die Schöpfung ein - weibliches! - Du, dem Herrn in Gehorsam und Liebe hingegeben. Die geschaffene Weisheit als Grundgestalt der Schöpfung: Augustinus ist mit dieser Konzeption bei seinen Zeitgenossen auf so viel bornierten Widerstand gestoßen, daß er späterhin keine Gelegenheit mehr genommen hat, den Gedanken öffentlich weiter zu verfolgen, wahrscheinlich im Sinne des Goetheschen »Sagt es niemand, nur den Weisen ...«

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LeerWeil aber Augustinus sein eigenes Leben als Geschichte Gottes mit einem begnadigten Sünder begriffen hatte, darum war er imstande, eine großangelegte Geschichtstheologie zu entwerfen, wie es in seinem apologetischen Werk Vom Gottesstaat (De civitate Dei) geschehen ist. In den Büchern 11-22 entwickelt er seine Auffassung von den beiden civitates - den beiden Gemeinwesen Kirche und Staat, so könnte man versucht sein zu übersetzen, wenn man nicht wüßte, daß es sich vielmehr um zwei unterschiedliche Lebenssphären handelt, für welche zwei durchaus gegensätzliche Existenzhaltungen konstitutiv sind. Der Gottesstaat (civitas Dei) und der Teufels- resp. der irdische Staat (civitas diaboli resp. terrena) stehen feindlich widereinander - in einem Kampf, der die ganze Menschheitsgeschichte von ihren Anfängen bis zum Jüngsten Tage bestimmt. Der Gottesstaat lebt im Status der pilgernden Kirche (ecclesia peregrinans), die, aufs Eschaton ausgerichtet, ihr irdisches Handeln als etwas Vorläufiges, Vorletztes begreift und ihren Weg zu ihrem festgefügten Wohnsitz in der Ewigkeit kraft ihres Glaubens bewältigt. Energisch ist die Abgrenzung gegenüber dem irdischen Staat, der dem wahren Gott die nichtigen Götzen vorzieht. In den guten und den bösen Engeln ist die Unterscheidung beider Grundhaltungen schon überirdisch vollzogen; in Kain und Abel finden beide »Staaten« ihre jeweils charakteristische Repräsentation. Die Geschichte des Gottesvolkes in Altem und Neuem Bund ist die Achse der Weltgeschichte: Die Geschichte der Heiden (der Völker) hat keinen eigenen Richtungssinn, und beinahe wird man hier daran erinnert, wie für Augustinus neben dem Guten das Böse eine eigene Existenz nicht beanspruchen kann. Die Geschichte der Menschheit endet, wenn Gott die Lebenden und die Toten richtet - dann kommt es zur endgültigen Scheidung der beiden civitates. Noch einmal sei in Erinnerung gerufen, daß es sich hierbei nicht um zwei Institutionen handelt, sondern um die Ermächtigung und Entscheidung, so oder so zu leben. Hier wird der letzte Maßstab in Gott, dort im Menschen gefunden. Hier geht es um die Liebe zu Gott, dort um die Selbstgefälligkeit. Hier tritt die Demut beiseite, dort macht der Hochmut sich breit.

LeerDen gleichsam noch naiven Weltoptimismus der östlichen, Griechisch sprechenden Mittelmeerwelt, der anfangs des vierten Jahrhunderts in der rückhaltlos begeisterten Parteinahme des Kirchenhistorikers Eusebius von Caesarea für Konstantin den Großen zum Ausdruck kam, hat Augustinus mit seiner Konzeption überwunden. Er besaß ein tiefes Wissen um den durch die Welt gehenden, im alten Aon nicht mehr zu heilenden Bruch. Freilich, auch jenen Eusebius sollte man nicht unterschätzen. Er war ja nicht, wie Jacob Burckhardt gemeint hat, der pure Hoftheologe, obschon gewiß etwas davon in ihm gesteckt hat. Er war viel mehr der Enkelschüler jenes großen Alexandriners Origenes († 254), welcher lehrte, die von ihrem heilen Ursprung losgerissene Schöpfung sei dabei, in gleitenden Übergangen zu dem einstigen Heilszustand zurückzukehren: ein gleichsam herakliteischer Zirkel, in welchem Anfang und Ende identisch sind. Eusebius, der diese Vision ins greifbar Historische übersetzte, sah in Konstantin den Vollstrecker der Heilsgeschichte, einen neuen Mose, der Gottes Volk aus der Gefangenschaft befreite. Das war freilich nicht die biblische Erwartung endzeitlicher Wehen, wie sie gegen Ende des zweiten Jahrhunderts im Werk des Irenaeus, des »Vaters der katholischen Dogmatik«, rekapituliert wurde. Und indem sich Augustinus mehr auf dessen Linie hielt, schien er Lügen zu strafen, was jene Griechen über einen vermeintlich wachsenden Pegelstand antizipierten Heils schon in dieser Zeit zu sagen wußten. In Wirklichkeit stießen hier zwei grundverschiedene Konzeptionen von Heilsgeschehen zusammen. Die Griechen sind niemals ganz von der Vorstellung losgekommen, die Welt müsse sich nur ein paarmal um sich selber drehen, um aus ihrer verborgenen Tiefe in die Nachbarschaft göttlichen Heilshandelns zurückzufinden. Lateinische Christen strebten in der Linie der sich dehnenden Zeit über den heillos verderbten Weltzustand hinaus - man denke an Augustins Erbsündenlehre. Wahrscheinlich kommt jeder der beiden Hinsichten eine particula veri zu - wir werden unter ökumenischem Vorzeichen, da alle geschichtlich gewachsenen Christentümer sich in der gegenwärtig erschlossenen weltgeschichtlichen Situation zusammenfinden, noch damit zu tun bekommen. Denn auch die Griechisch sprechende Kirche des Altertums ist, in Gestalt der östlichen Orthodoxie, noch unter uns.

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IV. Augustins Theologie als Rede von Gott

LeerFür Augustins Bewußtsein handelt Gott innerhalb jenes kreatürlich umgreifenden Horizonts, der mit dem zum Ganzen von Zeit und Welt sich öffnenden individuellen Bios einerseits, mit der zwischen Sündenfall und Gericht sich begebenden Menschheitsgeschichte andererseits erschlossen ist. Im Blick auf die von ihm formulierte Gotteslehre ist zweierlei zu beachten. Zum einen: Augustinus findet die kirchliche Trinitätslehre im wesentlichen abgeschlossen vor - die beiden einschlägigen ökumenischen Konzile von Nicaea (325) und Konstantinopel (381) hat er im Rücken -; und er erlebt die christologischen Streitigkeiten in einem noch nicht zur Entscheidung gekommenen Stadium - die beiden einschlägigen ökumenischen Konzile von Ephesus (431) und Chalcedon (451) sollten erst nach seinem Tode stattfinden. Zum andern: In Augustins Rede von Gott wird ein in der Hauptsache auf Platon zurückweisendes metaphysisches Denken mit der an Paulus orientierten Lehre von Sünde und Gnade verschmolzen. Der Gott der Philosophen wendet sich jetzt dem Menschen zu und gewinnt die Züge Jesu Christi. Umgekehrt ist christliche Heilserfahrung vom Seinsdenken der Griechen immer durchstimmt. Die Alte Kirche behalf sich zur Rechtfertigung dieser Synthesis mit der sogenannten Plagiattheorie: Was bei Platon Wahres steht, stammt in Wahrheit von Mose, dem ersten Philosophen. Diese pseudohistorische Legitimation enthält doch möglicherweise den Wink, daß die sogenannte natürliche Theologie der Antike und das durch die Offenbarung angestoßene Denken sachlich aufeinander verwiesen waren. Ohne ein gewisses Maß an Platonismus wird man das altkirchliche Dogma am Ende verlieren: Der Beweis, daß es sich so verhält, liegt bei den Theologen heute offen am Tage.

LeerWenn Augustinus von Gott spricht, dann kommt er von der Erfahrung her, daß sich im Aufschwung, im Überstieg die Wahrheit Gottes und das Herz des Menschen begegnet sind. Alles, was Augustin über Gott verlauten läßt, hat hier seinen Ursprung. Er war sich daher des Stammelns seiner Rede wohl bewußt. Aber er wußte auch, daß der Mensch zum Stammeln verpflichtet ist: Wehe denen, die von dir schweigen, so spricht er zu Gott. Das Bewußtsein dieses Dilemmas - nicht reden zu können und es doch zu müssen - führt Augustinus zu paradoxen Aussagen. (9) Gott ist groß, aber seine Größe ist nicht ins Wort zu fassen. Sie sprengt das Wort, sie sprengt auch Himmel und Erde. Gott ist nicht im Raum verfangen, aber er öffnet den Raum. Doch wiederum nicht so, daß er außerhalb des Raumes zu fassen wäre. Seine Allgegenwart umfängt alles Wirkliche von innen und außen - sie ist transzendent und immanent. Oder vielmehr: Gott ist nicht draußen und ist nicht drinnen, aber er ist immer zugegen. Seine Präsenz ist ein nicht räumlich zu fassendes In-Sein. Und zugleich ist sie ein Für-mich-sein: Er ruft mich und alle Dinge ins Sein und verschwebt doch selbst in ein unfaßliches Wort.

LeerDas ist ein durch den Glauben an Christus radikalisierter Platonismus, der bei den Mystikern zur Ausbildung der sogenannten negativen Theologie geführt hat. Gott ist für mich wirklich, indem er sich entzieht: In diesem Sinne tragt Augustins Denken dem Rechnung, daß, was wir von Gott prädizieren, mehr Unähnlichkeit als Ähnlichkeit mit ihm impliziert. Eine andere Art von Paradoxie entsteht dort, wo der philosophische Gottesbegriff mit Aussagen der Evangelien über Jesus zusammen-gedacht wird. Gott ist unbedürftig, aber Jesus sagt, Gott sammele die Menschen - als bedürfe er ihrer. Gott macht sich auf, die Verlorenen zu suchen, als wäre es möglich, daß ihm, dem Allgegenwärtigen, etwas verlorenginge. Er freut sich über Gewinn, wenn die ausgeteilten Talente verdoppelt wurden: Aber es fehlt ihm doch nichts, er ist doch Herr über Himmel und Erde. In der Gestalt des Barmherzigen Samariters erbietet er sich, die allfällige Schuld zu bezahlen; er macht sich zum Schuldner, aber was hätten wir je, das nicht sein wäre? Romano Guardini hat an solche Paradoxien mit der Frage angeknüpft, was wohl Gott dazu veranlassen konnte, neben sich, den Unendlichen, kraft der Schöpfung ein endlich-nichtiges Wesen zu setzen. Seine vorsichtig versuchte Antwort, in Gott habe gleichsam ein Durst gelebt, sich mit dem Nichtigen, das nicht Er ist, zu identifizieren (10), wirft Licht auf diese augustinischen Passagen. Augustinus selbst denkt als altkirchlicher Theologe von der Menschwerdung Gottes her. Nach seinen Voraussetzungen ist er genötigt, den in sich ruhenden Gott der Philosophen mit dem in die Menschengeschichte eingreifenden Gott der Bibel zusammenzudenken. Gott ruht, und er ist doch höchste Bewegung; er ruht, an und für sich gedacht, und er ist Bewegung, insofern er in Christus unter uns tritt. Aber diese beiden Aspekte werden nicht einfach aneinandergestückt. Die Dynamik des biblischen Glaubens schießt in die Statik des philosophischen Gedankens ein, und was von Hause aus das substantielle, in eine Abstraktheit zurückgenommene Göttliche ist, ist plötzlich von jener Bewegung durchstimmt, die der griechische Theologe als »Kathodos«, als Herabkunft Gottes zum Menschen anspricht. Da geschieht bei Augustinus Außerordentliches, aber er ist nicht der erste, der diese Gedankenarbeit leistet. Das alles ist bei dem genannten Origenes, dem ersten großen wissenschaftlichen Theologen der Kirche, bereits grundgelegt: Nicht umsonst hat er bei gebildeten Heiden mit seinem Gedanken Anstoß erregt, der ewige Logos erscheine in Menschengestalt und kümmere sich vor allem um die Schlichten - griechisch: idiotai -, die vom philosophischen Denken gar nichts verstehen.

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Anmerkungen:
1: Confessiones III, 4.
2: Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874.
3: Vgl. meine Berliner Antrittsvorlesung: Verwandelte Welt und Verzicht in die Niedrigkeit. In: Theologia Viatorum. XB (1973/4), S. 169-189.
4: Confessiones VII, 20.
5: Confessiones IX, 10.
6: Das läßt sich, in bescheidenerem Grade, genau so von Justin dem Apologeten im zweiten Jahrhundert sagen.
7: Confessiones XI f.
8: Confessiones XII, 21.
9: Vgl. die ersten Paragraphen der Confessiones.
10: Romano Guardini: Theologische Briefe an einen Freund, 1976, S. 7 ff. Die vierte, durch einen Vorspruch erweiterte Auflage erschien 1985.

Prof. Dr. Ulrich Wickert
Quatember 1993, S. 78-89

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-20
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