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Unsere Kirche - wie sie ist und was sie braucht;
Überlegungen eines »neuen« Bundesbürgers

von Peter Staak

LeerWas ich hier als Theologiestudent aus den neuen Bundesländern schreibe, ist eine Art Zusammenfassung aller Gespräche, die ich seit drei Jahren mit Altbundesländlern immer wieder über eine von diesen gestellte Frage geführt habe: Na, wie war's bei Ihnen denn so?

LeerJa, wie war es bei uns? Normal. Das trifft zumindest für den Zeitraum zu, den ich beobachten konnte, etwa seit Ende der siebziger Jahre. Es war ein alltägliches Miteinander von Kirche und Gesellschaft, man mochte sich nicht, aber man ertrug sich leidlich. Eine Minderheit der Bevölkerung gehörte irgendwie zur Kirche, vielleicht waren es 25 Prozent. In ihr gab es die wenigen treuen Kirchgänger, meistens alte Frauen, die mit großer Geduld den Gottesdienst durch die Zeiten trugen, ein paar Freikirchler, Evangelikale usw., die im stillen wirkten und öffentlich nicht bemerkt wurden, und es gab kleine Gruppen, die sich mit sozialen, ökologischen und Friedensfragen beschäftigten, sich mehr am Rande befanden und oft mehr am bestehenden Freiraum als am Christentum selbst interessiert waren. Die große Mehrheit in der Minderheit waren Menschen, die sich so ungefähr zur Kirche rechneten, vielleicht Kirchensteuer zahlten und mal Weihnachten zur Kirche kamen. Die Gemeinden waren stark überaltert. Unter den Rentnern waren die meisten in der Kirche, sogar Parteigenossen, unter der Jugend waren es nur noch wenige.

LeerDie Christen waren keine Widerständler. Sie gingen zur Wahl und schickten ihre Kinder zu den Pionieren, in die FDJ und zur Jugendweihe. Ähnlich war das auch bei den Pastoren, obwohl es hier vielleicht regionale Unterschiede gab. Pfarrerskinder in der FDJ und bei der Jugendweihe waren keine Ausnahme mehr. Diese Anpassung bedeutete nicht Veränderung der eigenen Überzeugung, sondern war eine nicht zu vermeidende Angleichung an den gesellschaftlichen Alltag. Trotzdem gab es für Christen große Probleme, zum Beispiel in der Schule. Dort waren sie einer latenten Diskriminierung und manchmal offener Anfeindung ausgesetzt. Es war für sie ausgeschlossen, Offizier oder Staatsbeamter zu werden. Sie waren als Lehrer und Erzieher, als Professoren und Leiter in der Volkswirtschaft nicht erwünscht. So entstanden immer wieder Versuchungen, die Kirche zu verlassen. Nicht wenige Christen haben dem aber mit großer Treue und unter persönlichen Opfern widerstanden.

LeerDer Glaube der meisten, auch in der Kirche, war ein allgemeiner Gottes- und Fügungsglaube, der sehr unbestimmt war. Kirche war Religion allgemein. Jesus hatte irgend etwas mit Kirche zu tun. Der Pfarrer war Kirche, egal ob evangelisch oder katholisch. Das Verhältnis der Bevölkerung zur ihr schwankte zwischen Sympathie und Gleichgültigkeit. Offene Feindschaft gab es nur selten. Organisierte Atheisten waren eine Kuriosität. Aber die Kirche fing langsam an zu sterben. Viele aus der mittleren Generation verließen sie aus Gleichgültigkeit und um Nachteile zu vermeiden und hielten ihre Kinder von ihr fern. Die jungen Leute, die in den kirchlichen Religionsunterricht gegangen und konfirmiert worden waren, zogen der besseren Verdienstmöglichkeiten wegen in die großen Satellitenstädte, wo sie die Verbindung zu ihren alten Heimatgemeinden verloren und sich der Kirche entfremdeten.

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LeerEs kam freilich vor, daß junge Leute durch die ganze DDR reisten, um ihre Kinder vom altvertrauten Pfarrer taufen zu lassen. Aber zu ihren neuen Gemeinden fanden sie keinerlei Zugang. Das führte dazu, daß mit jedem alten Menschen, der starb, auch ein Stück Kirche dahinging. Auf der anderen Seite wuchsen die sozialen und moralischen Probleme. Der Alkoholismus breitete sich aus, auch unter jungen Leuten und Frauen. Ganze Familien gingen durch die Trunksucht zugrunde. Selbst Kinder tranken. Viele Ehen und Partnerschaften zerbrachen. Die Anzahl der alleinstehenden Mütter nahm slark zu. Die allgemeine Moral am! iel so sehr, daß die SED schon anfing, darin eine Bedrohung ihrer Macht zu sehen. Von diesem moralischen und sozialen Verfall waren auch viele Menschen in der Kirche betroffen.

LeerMit der Wende änderte sich die soziale und politische Lage der Kirche grundlegend, ihre innere Situation aber blieb dieselbe. Das führt zu zwei Problemen. Das erste ist, daß die Kirche wegen ihrer inneren und äußeren Schwäche die neuen Freiheiten nicht nutzen kann. So hat sie eine Reihe von Krankenhäusern übernommen, wo die gesamte Besatzung vom Pförtner bis zum Chefarzt fast durchweg aus Nichtchristen besteht. Der einzige Unterschied zu anderen Krankenhäusern besteht im Türschild. Die Kraft und der Wille, das zu verändern, sind gering. Das zweite ist, daß die Kirche durch die Anpassung der materiellen Verhältnisse besonders bei der Versorgung ihrer Pfarrgemeinden in große Schwierigkeiten gerät.

LeerIch habe einen Bruder, der im Norden Brandenburgs angehender Pfarrer ist. Sein Dienst dort begann damit, daß er die benachbarte Vakanz dauernd übernahm. Er betreut nun sieben Kirchen, was eine enorme Aufgabe ist, und noch nicht einmal tausend Seelen. Als Mitarbeiterin steht ihm seine Frau zur Verfügung (was immer mehr zur Ausnahme wird). Er hat pro Kirche einen Gottesdienstbesuch von einem bis zu zehn Gemeindegliedern, fast durchgehend alte Frauen. Die jungen Leute verlassen die Dörfer. Die wenigen Kinder dort, die allein schon der Abwechslung wegen gern zur Christenlehre kommen, werden abwandern. Sarkastisch gesehen dient mein Bruder in dieser Gemeinde, um sie geordnet abzuwickeln. Seinen Kollegen in den Städten geht es nicht besser. Sie betreuen dort nur noch kleine bürgerliche Restgemeinden. Die Einzugsgebiete ihrer Pfarreien werden immer größer, 1.000 Gemeindeglieder, oft noch stark überaltert, auf 20.000 Einwohner ist schon nicht mehr selten. Sicher entbehren meine Beispiele nicht einer gewissen Dramatik, die durchgehende Tendenz aber ist eindeutig.

LeerIch habe kein Gefallen an meinem Jammerlied, und ich habe keine Freude am Elend meiner Kirche, denn ich liebe sie! Aber es fehlt uns die Perspektive. Man kann den Leuten, die mit der Kirche und für sie kämpfen, nicht zumuten, alte Restbestände abzuwickeln und im übrigen Mitarbeiter eines Kulturvereins mit sozialer Nützlichkeit zu sein. Heute aber bewegt sich die Kirche zwischen Rückzug und Anpassung. Die erste Bedingung für Engagement ist doch der gemeinsame Wille zur Zukunft. Die Kirche braucht heute die Mission in Deutschland. Die Leute gehen ihr nicht durch Mündigkeit, sondern durch Entfremdung verloren. Die christliche Botschaft ist den meisten entweder unverständlich oder unbekannt. Sie sind deshalb nur selten in der Lage, qualifiziert zu urteilen. Mission heißt daher selbstbewußte (!) Information über das Evangelium und den christlichen Glauben. Wir müssen mit den Leuten über dieses Thema ins Gespräch kommen, um Anknüpfungspunkte für die Verkündigung zu finden. Hier ist das entscheidende Arbeitsfeld der praktischen Theologie und der Missionswissenschaft.

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LeerMission bedeutet, die Menschen in ihrem Denken und Handeln grundlegend zu verändern. Mit der Verkündigung des Evangeliums wird der Verkündiger wie der Zuhörende unter das Vorzeichen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi gestellt. Das ist eine radikale Umwälzung des Lebens, der Vernunft, der Kultur und der Moral. Daher darf die Kirche nicht dem Zeitgeist hinterherhecheln, den sie doch nicht einholen kann. Mission heute ist die Konfrontation mit der Gesellschaft. Die Kirche kann ihr nicht ausweichen!

LeerDie Kirche war von Anfang an Mission. Die Jünger zogen aus, verkündeten das Evangelium, bekehrten die Leute, tauften und gründeten Gemeinden. Genau das müssen wir heute tun, nicht weniger und nicht mehr. Das bedeutet, daß die einzelnen Erweckungs-, Gemeinschafts- und Reformbewegungen ihre Partikularinteressen zugunsten des gemeinsamen Anliegens zurückstellen müssen. Das bedeutet, daß die Debatte um Volks- oder Freikirche überflüssig ist, denn in der Nachfolge Christi werden wir von ihm geführt, und darüber hinaus ist die kommende Form der Kirche offen wie die Zukunft selbst. Das bedeutet, daß alle, Bischöfe, Pastorinnen und Pastoren, Laien, Gemeinschaften und Bewegungen, Groß- und Freikirchen, Protestanten und Katholiken, dieselbe Aufgabe haben. Der kommende Weg der Christenheit muß ein konsequent ökumenischer sein.

LeerWir brauchen Missionswerke in Deutschland. Restgemeinden müssen in Missionsgemeinden umgewandelt werden. Jeder Theologe braucht eine missionarische Grundausbildung. Wir müssen die Vielfalt der Begabungen unter uns in die Mission einbeziehen. Ich begreife mich mit meinen Gedanken und Forderungen weder als evangelikal noch als fundamentalistisch. Meine einzige Mitgliedschaft ist die in meiner Landeskirche. Wenn die Kirche nicht zur Sekte werden will, muß sie aus der resignierenden Selbstbetrachtung heraus zu Christus hin aufbrechen. Denn sie hat eine Zukunft, aber noch fehlen ihr Mut und Glaube, ihr entgegenzugehen.

Quatember 1993, S. 102-105

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-14
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