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Predigt auf dem Evangelischen Kirchentag
München 1993 über Matthäus 11,25-30

von Maria Kaißling

LeerGestern nachmittag traf ich mich mit einer russischen Freundin aus St. Petersburg. Sie ist gerade zu Gast in München. Für Raissa ist unser heutiger Textabschnitt vom leichten Joch und der sanften Last Jesu kein Problem. Bis zu ihrem 44. Lebensjahr war sie eine berühmte, heißbegehrte und hochbezahlte Wissenschaftlerin. Als Dr. der Medizin und Dr. der Chemie gehörte sie zu der dünnen privilegierten Oberschicht der Sowjetunion. Vor ungefähr zehn Jahren, mit dem Tag ihrer Taufe und ihrem Eintritt in die Kirche, hörte ihr für sowjetische Verhältnisse phantastisches Leben auf. Teils freiwillig, teils gezwungen gab sie ihre Ämter und Privilegien auf. Sie wurde eine heimliche Nonne. Seit damals arbeitet sie unter schwierigen Bedingungen als eine Krankenpflegerin: Sie versorgt schwerkranke Alte. Noch ist sie die einzige Ärztin in der Fünf-Millionen-Stadt, die Hausbesuche macht. Sie wäscht und pflegt ihre Patienten, putzt auch die Wohnung und, wo nötig, bereitet sie auch Mahlzeiten zu. In ihrer spärlichen Freizeit (und zum Lebensunterhalt) restauriert sie Ikonen.

LeerWieso versteht sie, wie so viele Russen ihrer Art und Herkunft, dieses Wort Jesu von der leichten Last so leicht?

LeerSie gehört zu den Unmündigen, zu den Kindern im Geist, über die Jesus, der Sohn Gottes, den Vater preist

LeerAm letzten Tag in den Messehallen hören wir aus unserem Textabschnitt:
Jesus lobt Gott
und er verspricht, uns im Lob Gottes zu erquicken.
LeerDen Weisen (den Vielwissenden), den Klugen (den Spezialisten) bleibt zunächst verborgen, »wie das geschehen mag«. Doch den Unmündigen, den Laien, den Kindern steht der geheimnisvolle Zusammenhang offen. Sie haben Zugang zum Lob Gottes, sie haben Frieden in ihren Seelen - selbst mitten im dichten Gewühle und in der Hitze der Messehallen.

LeerStellen Sie sich ein Kind aus ihrer Familie vor, zwischen vier und sechs Jahren: Dann können Sie Jesu Wort besser nachvollziehen.
  Kinder - sie müssen noch vieles lernen;
  - sie verstehen weniges und nur partiell;
  - sie können nichts von sich aus oder ganz alleine tun. Kinder erwarten alles in einer erstaunlichen Sorglosigkeit.

LeerMonika, eine Vierjährige unserer Gemeinschaft, steht am Tor und erwartet ihren Vater, der vier Wochen in der Kur war. Ihr Gesicht glüht in Vorfreude, als sie mir sagt: »Nachher kommt der Vati. Dann spring ich ihm entgegen und setze mich ganz nah auf seinen Schoß und erzähle ihm alles!« Sorglos und arglos glaubt das Kind: Ich bin meinem Vati am wichtigsten. Vati hört mir zu, meine Erlebnisse interessieren ihn. Selbstverständlich glaubt das Kind: Vati ist mir wichtig, ich bin ihm nah - wir gehören zusammen.

LeerDen Unmündigen, den Kindern ist das Geheimnis des Erfrischtwerdens durch das Lob Gottes vertraut und anvertraut. Aber uns anderen - den Wissenden unter uns - warum ist uns dies Geheimnis der leichten Last Jesu im Alltag so oft verborgen?

LeerWir schleppen die Lasten, die uns die Welt auflädt, die wir uns manchmal auch selbst aufladen:
 - die vielfältigen und notwendigen Aufgaben;
 - die Verantwortung;
 - die Skepsis gegen allzu leicht aussehende Antworten;
 - die Angst, etwas, Menschen zu verpassen und so fort.

LeerFür den letzten Tag in den Messehallen bietet uns Christus an: seine leichte Last, dazu Ruhe für unsere Seelen - wenn wir wie Kinder sind und lernen: sorglos zu lassen, was er nicht gibt. Und genauso sorglos anzunehmen und wie ein Geschenk auszuwickeln, was er gibt: an Freundlichkeiten, an Begegnungen im Laufe des Tages. Die Freundlichkeit Jesu begegnet uns gleich spürbar im Abendmahl, zu dem er uns einlädt.

Quatember 1993, S. 173-174

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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