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„Ein unsichtbares Band”
Vor 70 Jahren
von Jürgen Boeckh

Leer1923 kam „Das Gottesjahr” zum ersten Mal mit einem Kalendarium heraus, in dem auch „Wochensprüche” verzeichnet waren. Diese - wechselnden - Wochensprüche waren nur zum geringen Teil der Bibel entnommen. Im März 1925 finden wir das Lutherwort: „Wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit.” Am Sonntag Lätare heißt es: „Ein Leid weglügen - das heißt nicht trösten.” Neben den ursprünglich lateinischen Monatsnamen stehen die altdeutschen Bezeichnungen, so zum Beispiel „Lenzmond” und „Ostermond”. In diesem Monat - April - heißt ein Wochenspruch: „Der Herr erweckt mich alle Morgen. ” Wir denken an Jochen Kleppers Lied: „Er weckt mich alle Morgen ...”

LeerDer Herausgeber Wilhelm Stählin hat in jenem Jahr unter der Überschrift „Tägliche Andacht” auf die Wochensprüche hingewiesen. Bald danach hat er sich schon auf die biblischen Wochensprüche konzentriert, die später Gemeingut der evangelischen Kirchen im deutschen Sprachraum werden sollten.


LeerDie Wochensprüche sind manchen Lesern das Liebste Und Wichtigste des ganzen Jahrbuchs geworden. Oder haben wir in unserem Leben auf Kalenderzetteln so viel ungereimtes und abgeschmacktes Zeug gelesen, daß wir es gar nicht mehr für der Mühe wert halten, einen Kalenderspruch gründlich und besinnlich zu lesen? „Wenn ich bitten darf, dann bitte ich doch um das eine: Laß den Wochenspruch am Sonntagmorgen tief in dein Inneres eindringen und dann nimm ihn eine lange Woche, alle sechs Werktage hindurch, immer wieder vor dein inneres Auge, sage ihn vor dich hin, sage ihn in dich hinein, wenn du am Morgen zur Arbeit eilst, und horche noch einmal auf ihn, wenn du dir einen kurzen Feierabend gönnst.” Wer um ein solches Wort ernsthaft ringt, vor dem tun sich freilich Tiefen und Geheimnisse auf, über die der oberflächliche Leser hinweggleitet wie der Reiter über den Bodensee, und er merkt erst, wie schwer ein Wort sein kann, das leicht schien, als es ihm zuerst unter die Augen kam.

LeerEtliche Worte, die sich mir und anderen im Laufe des vorigen Jahres bewährt haben, kehren in dem neuen Kalender wieder; daneben stehen Worte, die, so hoffe ich, als schlichter, klarer Ausdruck einer schlichten Wahrheit befunden werden. Man hat mich gefragt, wie man denn solche Worte recht gebrauche. Die Frage hat ihr gutes Recht; denn es haben ja allerdings so viele von uns, ja vielleicht wir alle jenes betende Lesen und Denken verlernt, dem allein ein solches Wort sich öffnet. Wir lesen mit dem Verstand, zergliedern einen Satz und kommen dann unwillkürlich ins Kritisieren und Besserwissen hinein; und es gibt keine geistige Haltung, die so vollkommen unfruchtbar wäre wie diese. Wir müssen in der Tat neu lernen, einen solchen uns dargebotenen Satz lebendig zu ergreifen und aus seinen Tiefen zu schöpfen.

LeerIn aller Bescheidenheit, weil ich wohl weiß, daß andere hier besser als ich den Weg zeigen könnten, gebe ich einen Rat: wenn du eine Zeitlang den Wochenspruch als Ganzes hast auf dich wirken lassen und still und geduldig gewartet hast, was er an Echo in dir weckt, dann nimm hernach ein Wort um das andere besonders heraus, schau durch dies Wort hindurch wie durch ein Fenster auf die Wirklichkeit, die damit gemeint ist, und stelle dich, daß ich so sage, Auge in Auge, Brust an Brust mit dieser Wirklichkeit. „Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.”

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LeerWenn du schnell bereit bist zu sagen, dies Wort sei nichts für dich, weil es gar nicht der Stimmung entspreche, in der du dich befindest, dann freilich kann dies Wort dir gar keinen Dienst tun. Aber nun nimm einmal dies eine Wort „Leib”, ergreife ganz lebendig und gegenwärtig dies lebendige Ganze, spüre, wie der Leib in allen seinen Gliedern und Organen gegenwärtig ist, kläre in dir die Erkenntnis, daß jeder Leib etwas anderes ist als ein gemachtes Ding, sondern aus einer verborgenen geistigen Kraft Leben und Form empfängt; und dann nimm das an dich: „Mein Leib”, deine Daseinsform auf Erden, die Form deiner Seele, dein Gefäß, Werkzeug und Maß, durchdringe deinen Leib mit allen Kräften deiner Seele und erfülle so den großen Sinn dieser Worte: „mein Leib”!

LeerOder ein anderes Beispiel: „Es hilft uns nichts vor dem Ekel als die Liebe.” Es nützt gar nichts, wenn du versuchst, ein solches Wort als eine sentimentale Übertreibung abzutun; sondern du mußt den Ekel als eine harte und furchtbare Wirklichkeit vor dich hinstellen, mußt ehrlich dir selber bekennen, wie du dich bei so vielen Dingen und Menschen vor dem Ekel nicht retten kannst, mußt aus deiner Erinnerung hervorholen all die Wege, auf denen du versucht hast, dich vor dem Ekel zu retten, um dann ganz lebendig und wirklich zu wissen, daß es keine wahre und dauernde Überwindung dieses Ekels gibt als die große Liebe, mit der die Heiligen den Aussatz geküßt haben, die große Liebe, die um Gottes willen vor dem Wüsten, Häßlichen, Bösen nicht mehr flieht.

LeerDas ist die rechte tägliche Andacht, wenn wir so Tag um Tag uns einen neuen Schacht graben bis zu den verborgenen Goldadern der Wahrheit. Nicht Gedanken sollen wir bewegen, sondern Wirklichkeiten finden. Wie wollten wir dankbar sein, wenn diese Wochensprüche ein unsichtbares Band knüpften zwischen etlichen Menschen, die in täglicher andächtiger Betrachtung in früher Morgenstunde um diese Worte ringen, ringen, wie jedes echte Gebet ringt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!”

LeerDie Monate tragen heuer nicht einen Monatsspruch, sondern ein einzelnes Wort als Leitwort an ihrer Spitze. Vielleicht mag dieses Wort eben darum, weil es nur ein einzelnes Wort ist, noch nützlicher sein zu jener Übung des Geistes, die uns not tut. Was für ein Reichtum müßte sich entfalten, wenn wir wirklich treu genug wären, einen Monat hindurch Tag um Tag ein solches Wort zu vernehmen und es von immer neuen Seiten zu betrachten. Immer fügt es sich mit den Wochensprüchen zu einer inneren Einheit und entfaltet sich gleichsam, wie eine Knospe sich öffnet, in den einzelnen Wochen zu seinem vielfältigen Reichtum.

LeerAchtet auch auf die Sonntagsnamen. Nicht darum, weil sie, von wenigen Sonntagen abgesehen, dem vergessenen alten „Sonntagsevangelium” entstammen, sondern weil sie eine besondere Seite des Evangeliums, eine Erscheinungsform der Gotteshilfe oder ein Stück der dunklen Welt, in die das ewige Licht hereingehen will, vor der Seele erstehen lassen. Das sind wie lauter besondere Stimmen und Instrumente in einem großen Orchester, und wenn wir jeden besonderen Klang ganz tief in seiner besonderen Schönheit begriffen haben, dann ahnen wir wohl, was für ein vielstimmiges Singen und Geigen und Orgeln und Trompeten und Posaunen ein volles wirkliches „Gottesjahr” sein müßte!

LeerEin jeder Tag aber, und ein jeder Sonntag zumal, grüße uns alle auf dem Weg durch das neue Jahr, und immer sei uns, wenn wir irren und fehlen, die Hilfe bereit, die uns erweckt zum Licht und uns befriedet zur wahren Ruhe, Gott segne uns Abend und Morgen, Tag und Nacht!

Das Gottesjahr, 1925, 5. Jg., Greifenverlag, Rudolstadt/Thüringen

Quatember 1995, S. 57-58

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-23
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