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Zur Erinnerung an Gerhard Tersteegen von Kurt Abel |
In den Lebensbeschreibungen heiliger Seelen erzählt Gerhard Tersteegen vom Leben eines abgedankten Soldaten des lothringischen Heeres. Nach einer schweren Verwundung, in deren Folge er auf einem Bein lahm blieb, suchte dieser nach einem neuen Sinn seines Lebens. Er hatte schon mit etwa 18 Jahren, wohl noch vor seiner Soldatenzeit, ein tiefes Erlebnis gehabt. Er erzählt, daß er eines Tages im Winter einen Baum gesehen habe, der zu dieser Zeit von allen seinen Blättern völlig entblößt war. Er stellte sich vor, wie nach einiger Zeit die Blätter wieder hervorkommen würden, bald darauf die Blüten und dann die Früchte. Dabei empfing er einen tiefen Blick in die Vorsehung und Allmacht Gottes, der nie mehr aus seiner Seele ausgelöscht wurde. Dieser, so sagte er einmal, habe ihn ganz von der Welt losgemacht und habe eine solche Liebe zu Gott in ihm erweckt, daß er nicht sagen könne, ob diese Liebe in den vierzig Jahren, die nun schon verflossen seien, seitdem er diese Gnade empfangen habe, sich bei ihm noch vermehrt habe. Nicolas Hermann (so hieß der spätere Bruder Lorenz mit bürgerlichem Namen) wurde im Jahr 1611 in Lothringen geboren. Als Soldat des lothringischen Heeres im 30jährigen Krieg erlebte er die zuvorkommende Güte und Barmherzigkeit Gottes. Einst wurde er von einem Haufen deutscher Soldaten gefangengenommen und für einen Spion gehalten. Nicolas verblieb bei dieser Begebenheit in größter Geduld und Stille. Als man ihm endlich gar drohte, ihn zu erhängen, antwortete er unerschrocken, er sei der nicht, für den sie ihn hielten; sein Gewissen beschuldige ihn keines solchen Lasters, er erwarte deshalb den Tod ohne Schrecken, woraufhin ihn die Offiziere freiließen. Als die Schweden in Lothringen einfielen, wurde der junge Soldat verwundet und mußte nach Hause zurückkehren. Er behielt ein lahmes Bein und wurde als Soldat entlassen. Zu dieser Zeit faßte er den Entschluß, sich ganz dem Herrn hinzugeben. Die Ausführung dieses Entschlusses brauchte allerdings noch eine gewisse Zeit. Zunächst wollte er dem Vorbild eines ihm bekannten Adligen folgen und als Einsiedler leben. Bald merkte er jedoch, daß diese Lebensform nicht für jedermann geeignet sei und besonders nicht für einen Anfänger in der Gnade. Deswegen beschloß er nach einigen Überlegungen und Zweifeln, sich nach Paris in das Kloster der Karmeliter zu begeben. Er trat damit in die Fußstapfen eines frommen Onkels, der ebenfalls Karmeliter war. Tersteegen erinnert an dieser Stelle an die Rolle des geistlichen Führers für unser spirituelles Leben. In Paris ist er dann als Laienbruder des Karmeliterordens aufgenommen worden. Er bekam den Namen Bruder Lorenz von der Auferstehung. Seine Oberen bestellten ihn zu den allerniedrigsten und schlechtesten Diensten, doch hat er sich dabei niemals beklagt. Einmal erzählte ihm ein Mitbruder, er habe gehört, daß man ihn zum Kloster hinausjagen wolle, worauf Lorenz antwortete: »Ich bin in der Hand Gottes. Er mache es mit mir wie es ihm gefällt. Ich habe in meinem Tun kein Absehen auf irgendeinen Menschen, wenn ich dem Herrn nicht hier diene, so diene ich ihm an einem anderen Ort.« Bruder Lorenz wollte sich Gott völlig überlassen und allzeit in seiner Gegenwart leben. Von nun an fand sich seine Seele, die bis dahin stets in Unruhe war, in einem tiefen inneren Frieden, gleichsam als ob sie in einem Zentrum und an einem Ort der Ruhe wäre. Es gab damals Menschen (wie es sie heute gibt), die die Übung: »Sich allzeit in Gottes Gegenwart zu führen« für Müßiggang, Selbstbetrug und Eigenliebe hielten. Aber wenn man das tägliche Leben des Bruder Lorenz betrachtet, dann merkt man, daß nur diese innere Ruhe ihn gleichzeitig fähig und bereit machte, seine Aufgaben wahrzunehmen. Man hat beobachtet, daß er besonders darauf achtete, daß er in seinem Tun nichts Außergewöhnliches von sich spüren ließ; er behielt immerzu die Einfalt des gewöhnlichen Lebens bei. Er ließ auch in seinem Umgang kein verdrießliches und strenges Wesen an sich erblicken, wodurch ja die Leute nur abwendig gemacht und zurückgestoßen werden. Während er nichts Ungewöhnliches und Auffälliges, nichts Gemachtes oder Verstelltes an sich hatte, war er gegen jedermann freundlich und höflich. Seinen Brüdern und Freunden gegenüber war er recht frei und gemeinschaftlich, ohne daß er sich aus affektierter Heiligkeit von ihnen hätte unterscheiden wollen. Bruder Lorenz war kein Priester, kein Theologe, kein Intellektueller, sondern ein einfacher abgedankter Soldat, ohne jede höhere Bildung. Er konnte jedoch lesen, schreiben und rechnen, was damals nicht allgemein üblich war. So übertrugen ihm die oberen des Klosters nach seiner Probezeit die Arbeit in der Küche. Er mußte für die Klostergemeinschaft während etwa 30 Jahren kochen. Man kann sich solche mittelalterlichen Küchen anhand von Rekonstruktionen in Museen auch heute noch vorstellen: Ein lahmer Invalide arbeitet in einer Küche mit einem offenen Herdfeuer und einem rauchenden Kamin. Das Wasser wurde im großen Faß herbeigefahren oder aus dem Brunnen geschöpft. Bruder Lorenz beschreibt seinen Gemütszustand in dieser Zeit so: Er habe gegen die Küche von Natur aus die größte Abneigung gehabt, nachdem er sich aber einmal daran gewöhnt habe, auch dort alles aus der Liebe zu Gott zu verrichten, könne er keinen Pfannekuchen mehr wenden, ohne es aus der Liebe zu Gott zu tun. Die Zeit des Wirkens oder Verrichtens äußerer Arbeit sei nicht von der Zeit des Gebetes unterschieden. »Ich besitze«, so sprach er, »Gott so ruhig in den unruhigen Geschäften meiner Küche, wo zuweilen viele Personen auf einmal etwas von mir fordern, wie wenn ich vor dem Altar auf meinen Knien liege.« Bruder Lorenz ist fast achtzig Jahre alt geworden. Er starb im Jahr 1691. Er muß die Menschen seiner Umgebung tief beeindruckt haben. So sammelte man bald seine Briefe, stellte Nachschriften von Gesprächen her und druckte einige kleinere Schriften. Tersteegen hat Hinweise auf ihn bei Mdme. Guyon und P. Poiret gefunden. Dieser einfache Laienbruder hat als Seelsorger weit über den Rahmen seines Klosters hinausgewirkt. Er selbst hat seine Übung, allzeit in Gottes Gegenwart zu sein, für das wichtigste gehalten, das er weitergeben wollte. So schreibt er in einem Brief an eine Ordensfrau: »Wäre ich ein Prediger, so wollte ich nichts anderes als die Übung der Gegenwart Gottes predigen; und wenn ich ein geistlicher Führer wäre, wollte ich sie allen Leuten anraten, für so nötig und leicht halte ich sie.« In sechs Abschnitten hat er seine Übung zusammengefaßt. Er meinte sicher, daß sie nun lernbar sei, obwohl uns das ungewohnt erscheint. Auch in dieser Betonung der Übung und des Lernens nimmt heutige christliche Meditationspraxis das Anliegen Gerhard Tersteegens auf, das er im Leben des Bruder Lorenz wieder fand. In einer der Schriften des Bruder Lorenz findet sich ein Hinweis auf die Mittel, die man gebrauchen kann, um die Gegenwart Gottes zu erlangen.
Als Bruder Lorenz auf dem Sterbebett lag, da fragte ihn ein Geistlicher, was er mache und womit sein Geist beschäftigt sei. Dem gab er zur Antwort: »Ich tue jetzt, was ich in alle Ewigkeit tun werde: ich preise Gott, ich lobe Gott, ich bete ihn an und liebe ihn von ganzem Herzen. Dies ist unser ganzes Geschäft, mein Bruder, daß wir zu Gott beten und ihn lieben, ohne uns um das übrige zu bekümmern.« Allzeit in Gottes Gegenwart zu sein, das muß man üben. Man übt es mitten in den täglichen Aufgaben: Beim Wenden der Pfannekuchen; beim Einkaufen von Wein oder auch im Sterben. Diese Übung kann ich am Leben dieses Bruders Lorenz erlernen. Quatember 1998, S. 35-19 |
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