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Jesus und niemand anderem als Jesus folgen
Eberhard Arnold (1883-1935)

von Frank Lilie

LeerIn Scharen kamen sie den Hügel herunter, schwer bewaffnete Polizisten der Gestapo. Sie umstellten die Gebäude und trieben alle Mitglieder des Rhönbruderhofes im Eßsaal zusammen. Der Leiter der Polizeiaktion verlas nun einen amtlichen Bescheid: „Ich mache euch hiermit bekannt, daß der Rhönbruderhof jetzt vom Staat aufgelöst ist und nicht mehr existieren soll.” Dann wandte er sich an Hans Meier, den Leiter des Hofes: „Ich verlange von Dir die Bücher und alle Schlüssel. Und verkündige Euch auch, daß in vierundzwanzig Stunden alle vom Hof fort sein müssen. ”

LeerDie Frist wurde zwar wegen einer Grippeepidemie unter den Kindern des Hofes um einen Tag verlängert. Doch offiziell endete am 14. April 1937 die Geschichte der Bruderhofbewegung in Deutschland. Formaler Grund der Auflösung dieser Gemeinschaft war das 1933 erlassene Gesetz zur Abwehr kommunistischer staatsfeindlicher Gewaltakte; eine pazifistische und internationale Gemeinschaft konnte im neuen Deutschland nur als „unerwünscht” gelten. Alle Mitglieder mußten den Bruderhof verlassen. Mit sich nehmen durften sie lediglich das, was sie selbst tragen konnten. Sie versuchten, so rasch wie möglich den Bruderhof in Liechtenstein zu erreichen oder gleich weiter vom Festland fort nach England zu gelangen. Vermutlich war es nur der Anwesenheit zweier hutterischer Brüder aus Nordamerika zu verdanken, daß die Bruderhofmitglieder nicht in Konzentrationslager interniert wurden. Auf sie geht auch der Bericht von der Gestapoaktion zurück.

LeerZwei Jahre bevor die Nationalsozialisten die Bruderhofgemeinschaft zu zerschlagen suchten, war ihr Gründer, Eberhard Arnold, bereits gestorben. Es war ihm noch gelungen, die schulpflichtigen Kinder des Hofes 1934 in das neutrale Liechtenstein zu bringen, um sie dem Einfluß der NS-Schulen zu entziehen. Aber es wäre verfehlt, das, was Arnold geleistet und gelebt hat, nur von seinem spektakulären Kampf gegen den Nationalsozialismus her zu verstehen. Sicher, hier hatte sich christlicher Glaube in einer besonderen Weise zu bewähren. Doch Arnold sah eigentlich sein ganzes Leben als eine solche Bewährung an. Denn der Glaube befand sich für ihn immer in der Auseinandersetzung mit dem, was er die „Welt” nannte und mit deren verworrenen, christusfernen Zustand er sich nicht abfinden wollte. Leidenschaftlich auf Christus ausgerichtet - so hatte er gelebt, seit er als Jugendlicher beschlossen hatte, ein Nachfolgender zu werden. Er lebte dies in der Form totaler Hingabe. Kompromisse blieben ihm zeitlebens fremd.

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GEGEN DEN STROM

LeerGegen den Strom, so hat Emmy Arnold, seine Frau, ihre Erinnerungen an ihren Mann und an ihren gemeinsamen Weg überschrieben. Und in der Tat, hier war einfach alles ein Schwimmen gegen den Strom - obgleich Begabung und Startbedingungen auch ganz andere Bahnen ermöglicht hätten, angesehenere, erfolgreichere, bequemere. Aber das alles war Eberhard Arnolds Sache nicht.

LeerIm ostpreußischen Königsberg kam er am 26. Juli 1883 zur Welt. Damals war sein Vater noch Lehrer am dortigen Gymnasium, zog aber bald mit der Familie nach Breslau in Schlesien, weil er einen Ruf als Professor für Kirchengeschichte an die Universität erhalten hatte. Eine Laufbahn im akademischen Milieu der Gründerzeit hätte Eberhard Arnold beginnen können, finanziell gesichert, gesellschaftlich angesehen - es gab etliche Möglichkeiten. Doch mit sechzehn Jahren erlebte er das, was wir eine regelrechte Bekehrung nennen müssen. Durch Gespräche mit seinem Onkel Ernst Ferdinand Klein, der Pfarrer in Lichtenrade bei Berlin war, kam er mit einem Christentum in Berührung, das er so noch nicht erlebt hatte. Klein wußte sich als Pfarrer ganz auf der Seite der Armen. Er hatte in Schlesien die noch immer notvolle Lage der Weber kennengelernt (wir sind in der Zeit der frühen Dramen Gerhard Hauptmanns!) und erkannt, daß das Kirchenchristentum der wilhelminischen Zeit keine Antwort auf die sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zu geben vermochte. Auch Diakonie und Innere Mission änderten daran nur wenig. Kleins Äußerungen brachten ihm nur Feindschaften ein: In Schlesien wie in Lichtenrade wurde er angefeindet und regelrecht bekämpft; wiederholt warf man ihm die Fensterscheiben ein.

LeerAls der junge Eberhard Arnold eines Tages an einem Gespräch zwischen seinem Onkel und einem jungen Heilsarmeeoffizier teilnahm, war er von der brüderlichen Art des Umgangs und von der brennenden Christusliebe der beiden so angetan, daß er eine große Sehnsucht empfand, auch selbst die Quelle dafür zu entdecken. An einem Tag im Oktober 1899, nach langem Studium der Bibel, nach Gesprächen und Gebeten, war sich Arnold dann mit einemmal gewiß: Christus rief ihn in die Nachfolge. Man mag skeptisch gegen Bekehrungserlebnisse und ihre Psychologie sein. Und hier wird gewiß auch häufig forciert und ein Gefühlsüberdruck erzeugt, der im Alltag rasch verpufft. Glaubenserlebnisse sollten uns aber auch immer eine gewisse Keuschheit des Umgangs abnötigen. Denn was auch immer sich hinter ihnen verborgen halten mag - es sind Lebensäußerungen, die ernst genommen werden wollen. Ob sie auch wahr sind, muß dann das Leben des Bekehrten selbst erweisen. Eberhard Arnold lebte von dieser Zeit an jedenfalls ohne jeden Kompromiß das, was er als den Weg der Nachfolge erkannt hatte. Wenn Wahrheit etwas mit Bewährung zu tun, dann war seine Bekehrung wohl eine echte Christusbegegnung. Arnold sammelte einen kleinen Kreis gleichgesinnter Freunde um sich, er besuchte des öfteren die Versammlungen der Heilsarmee und trat auch öffentlich für sie auf, sehr zum Leidwesen seiner Eltern, die sich ob solcher Aktivitäten nur schämten.

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LeerDie Schule und dann das Abitur schaffte er nur mit Mühe; seine Zeit war ihm damals für anderes als das Lernen wichtiger. Zunächst begann Arnold dann aber doch zu studieren, Evangelische Theologie, Philosophie und Pädagogik in Breslau, Halle und Erlangen. Aber Pfarrer der Evangelischen Kirche zu werden kam für ihn nicht in Frage. Die beiden prägenden Motive seines Christentums, die Christusnachfolge, wie er sie bei der Heilsarmee, und die soziale Frage, wie er sie bei seinem Onkel kennengelernt hatte, machten es ihm nicht möglich, sich ohne weiteres in den Apparat der bestehenden Kirche einzufügen. Emmy Arnold sagt im Rückblick über diese Jahre: „Sehr beschäftigte uns damals das Einswerden mit Christus und die innere Beziehung zu denen, die dasselbe erlebten und die dasselbe Ziel vor sich hatten und was sie geglaubt hatten. Dadurch wurde die soziale Frage und auch die Kirchenfrage immer mehr akut für uns.” 1909 hatten Emmy von Hollander und Eberhard Arnold in Halle geheiratet. Ihre Eltern konnten der Radikalität der beiden jungen Leute bald schon nicht mehr folgen. Als Arnold dann noch die Ablegung des ersten theologischen Examens verweigert wurde, weil er nicht in den Kirchendienst einzutreten gedachte, kam es beinahe zum Bruch. Er promovierte in diesem Jahr über Urchristliches und Antichristliches im Werdegang Friedrich Nietzsches. Daneben traten Vorträge und Reisen zu den verschiedensten Versammlungen.

LeerEin Missionar der Gemeinschaftsbewegung? In gewisser Weise ja. Aber immer mehr reifte im Ehepaar Arnold die Gewißheit, daß es beim bloßen Predigen nicht bleiben dürfe. Berief Christus nicht den ganzen Menschen in die Nachfolge? Forderte er nicht eine Entscheidung, die einen Weg ohne Nebenwege vorzeichnete? Wenn es die Bürgerlichkeit der bestehenden Kirche nicht war (vergessen wir nicht: In dieser Zeit war das Gesicht der Evangelischen Kirche noch vom Landesherrlichen Kirchenregiment wilhelminischer Prägung gezeichnet!), so mußte nach neuen Formen der Gemeinschaft gesucht werden, bei denen nicht mehr die bürgerliche Existenzsicherung, sondern Christus selbst in der Mitte stand. Es ist nur zu verständlich, daß die Betonung der Entscheidung für Christus Arnold bald auch zur Ablehnung der Kindertaufe und damit dann auch zur Kritik der gesamten volkskirchlichen Struktur führen mußte. Und auch für die nationalen Eruptionen des Ersten Weltkrieges war ein solches Denken nicht empfänglich. Gegen den Strom - immer stärker, immer kraftvoller. Die junge und allmählich wachsende Familie lebte in diesen Jahren von den bescheidenen Einkünften, die Arnold als Mitarbeiter des Hilfswerkes für Kriegsgefangene und des neugegründeten Furche-Verlages erhielt. Die nationalen Töne, die dort und auch in der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung zu hören waren, für die Arnold reisend und vortragend tätig war, mußten ihm zutiefst widerstreben.

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LeerNach dem Ende des Krieges geriet Arnold immer stärker in die Opposition zu gängigen christlichen Auffassungen. 1919 sprach er auf einer Versammlung bei Marburg/Lahn auf dem Frauenberg. Das Thema des Treffens lautete: „Wie verhält sich ein Christ zu Krieg und Revolution? - Kann ein Christ Soldat sein?” Seine Antwort war ein klares „Nein!” Jesus habe zwar die Macht des Staates erkannt, doch seine Verkündigung sei allein auf das Reich Gottes gerichtet. „Der Christ soll ein immerwährendes Korrektiv für den Staat sein, ein Gewissen für den Staat und für dessen Gesetzgebung, ein Sauerteig, ein fremder Körper in dem Sinn eines höheren Wertes. Aber er kann nicht Soldat, Scharfrichter oder Polizeipräsident sein. Es ist unsere Aufgabe, in Wort und Tat zu bezeugen, daß nichts in Jesu Worten verwirrt werde. Wir müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen! Wir müssen ein Korrektiv in dieser Welt sein.” Hermann Schafft, der unter den Zuhörern saß, widersprach Arnold besonders heftig: Der Staat sei nach Paulus eine Dienerin Gottes, „um das Böse zu strafen und das Gute zu fördern.”Auch wenn Arnold das in einem gewissen Sinne durchaus anerkennen konnte, blieb er jedoch bei seiner Erkenntnis: Christ und Welt gehören nicht zusammen, jetzt sei die Stunde, den Willen Jesu, die Gewaltlosigkeit eines Nachfolgers Christ zu bezeugen.

LeerIst es nicht naheliegend, daß Arnolds Radikalismus in manchen Kreisen der deutschen Jugendbewegung auf fruchtbaren Boden fiel? Es kam zu Begegnungen, zu Gesprächen. Die Bergpredigt rückte immer mehr ins Zentrum - die Magna Charta für alle, die das Reich Gottes als Lebenswirklichkeit und nicht bloß als eschatologisches Motiv verstanden wissen wollen. Doch wie sollte sie denn nun gelebt werden? Etliche Vorschläge wurden erwogen: Könnte man nicht eine aufklärende Volkshochschulbewegung ins Leben rufen? Sollte man gar, auch das wurde besprochen, mit Planwagen über Land von Dorf zu Dorf ziehen und sich mit Musik und Vorträgen den Unterhalt verdienen - ein Dasein als Vaganten Gottes führen? 1919 fuhr Arnold zum ersten Mal nach Schlüchtern in Osthessen. Dort hatte sich um den Volksschullehrer Georg Flemming eine Gruppe von Menschen gesammelt, die ähnliche Gedanken wie Arnold und seine Freunde hegten. Die Schlüchtern-Bewegung entstand damals, Treffen von hundert, manchmal tausend Menschen, erfüllt von einem eher unbewußten Drang, etwas gestalten zu wollen und die Zukunft nicht einfach den tonangebenden Schichten Deutschlands zu überlassen. Hier kamen jene Teile der Jugendbewegung zusammen, die sich bewußt als christlich und auch kirchlich gebunden verstanden. Ein Brutschrank von Ideen, von Plänen, von umstürzlerischen Gedanken. Lebensreformer im Namen Gottes, unausgegoren in vielem, gewiß, aber begeistert und vorwärtsdrängend: Es mußte sich doch etwas ändern lassen!

LeerNach dem Schluß der Pfingstkonferenz 1920 brachen Arnold und ein kleiner Kreis von Jugendlichen in das Dorf Sannerz in der Nähe Schlüchterns auf. Dort, so hatte man ihnen erzählt, stand ein großes leeres Haus zum Verkauf oder zur Verpachtung frei. Geld war keines vorhanden. Mit einem kaum vorstellbaren Mut entschloß man sich zum Abschluß eines Pachtvertrages auf zehn Jahre. Ein wohlhabender Freund gab überraschend die nötige Summe, Arnolds legten noch die Erträge ihrer gekündigten Lebensversicherung dazu. „Wir wollten alle Brücken hinter uns abbrechen, um uns ganz und gar in das Vertrauen auf Gott zu stellen, wie die Vögel unter dem Himmel, wie die Blumen auf dem Felde. Das sollte das Fundament für die Zukunft werden, das sicherste Fundament. Darauf wollten wir bauen.”


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BRUDERHOF

LeerSchwärmer - diesen barschen Titel kennt die Reformationsgeschichtsschreibung für die radikalen Täufer und Aussteiger. Man denkt an die Vorgänge in Münster oder an Schwenckfeld, an Karlstadt, Sebastian Franck, Valentin Weigel oder Thomas Müntzer. Ob man dem Phänomen so gerecht wird? Arnold und die Seinen wußten sich jedenfalls in deren Tradition, ohne über dem eigenen Glauben ins Schwärmen zu geraten. Von Gott alles erwarten - ist das schwärmerisch, gar unchristlich? In Sannerz trafen immer mehr Menschen ein, um sich an das ‚Experiment Urgemeinde’ zu wagen. Man lebte in einer Art von urchristlichen Kommunismus von einer kleinen Landwirtschaft und von Vorträgen und Veröffentlichungen. Ein Verlag publizierte eigene Schriften Arnolds, Jahrbücher, Texte verwandter Autoren und längst vergessene Bücher von Geistesverwandten der Vergangenheit. Das alles konnte anfänglich nur sehr bescheiden aussehen. Die sieben ersten Hausbewohner begannen den Tag um sechs Uhr morgens mit einer schweigenden Andacht nach Art der nordamerikanischen Quäker, dann ging es an die Arbeit. Es konnte nicht ausbleiben, daß dieses für die damalige Zeit außergewöhnliche Leben manche Menschen anzog, die nur schwer allein zurechtkamen, seelisch Kranke, sozial Gestrauchelte, mitunter absonderliche Gestalten, wie sie im Europa der Zwischenkriegszeit in vielen Gegenden umherzogen.

LeerDas brachte etliche Belastungen mit sich. Ende 1921 war die Gruppe dann auf vierzig Menschen angewachsen, ein lockerer Bund zunächst, der nach einer Form verlangte. In dieser Zeit trat eine weitere Gemeinschaft hervor, die sich auf die Schlüchtern-Bewegung zurückführte. Der schweizer Pfarrer Emil Blum suchte von seinem Habertshof aus einen ähnlichen Weg einzuschlagen, wollte sich aber nicht in die radikale Opposition zu Kirche und Welt wie Arnold begeben. Auf den zunächst noch gemeinsamen Treffen sprach auch Wilhelm Stählin. Zu einer näheren Bekanntschaft zwischen den beiden Männern ist es jedoch wohl nicht gekommen, denn Stählin erwähnt Arnold in seinen Lebenserinnerungen nicht. Unter den Einflüssen der Habertshöfer kam es zu einer ersten schweren Krise der Lebensgemeinschaft. Sollte nicht doch eher der Weg in die Veränderung der bestehenden Verhältnisse angestrebt werden und weniger stark der Bruch? 1922 hatten die Auseinandersetzungen um Lebensform und -inhalt eine solche Schärfe gewonnen, daß man sich trennen mußte. Ein Neuanfang wurde notwendig, denn Arnolds waren nicht bereit, sich ihre Sehnsucht nach dem Reich Gottes zerstören zu lassen.

LeerNoch 1922 hatte sich die vierköpfige Familie Braun den Arnolds angeschlossen. Mit ihnen ging es wieder aufwärts. Und seit 1925 kann man von einer neuen Phase der Bruderhofsbewegung reden. Die Gemeinschaft wuchs und nahm immer mehr die Züge einer Kommunität an. Bald schon lebten wieder vierzig bis fünfzig Menschen fest in Sannerz. Das Haus war längst schon zu klein geworden. Einige Kilometer entfernt entdeckte man einen großen Hof mit fünfundsiebzig Hektar Land. Ohne auch nur einen Pfennig zu besitzen, unterzeichnete Arnold den Kaufvertrag. Kaum zwei Wochen später, die Anzahlungssumme war fällig geworden, schenkte ihnen ein Freund das notwendige Geld, wieder einmal. Der Röhnbruderhof entstand. Nach anstrengenden und mühevollen Ausbauarbeiten konnten die Gebäude 1927 bezogen werden. Der Mut dieser Menschen war beachtlich, denn Reichtümer waren bei ihrer Lebensweise nicht zu erwarten. Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit die Gemeinschaft die ständigen Geldsorgen und die drohenden amtlichen Maßnahmen der folgenden Jahre hinzunehmen bereit war.

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Leer„All dies”, so sagte es Emmy Arnold, „hatte eine lähmende Wirkung auf unsere Arbeitskraft, aber nie auf die Freude und Zuversicht für die uns aufgetragene Sache. Wir waren gewiß, daß es vorwärts gehen mußte.” Gelingen konnte diese Form des gemeinsamen Lebens nur, weil alle Beteiligten auf das verzichteten, was das bürgerliche Dasein ausmachte, nämlich Individualität und Existenzsicherung. Nichts für sich allein wollen, sondern zuerst die Gemeinschaft und deren Weg in das Reich Gottes sehen - so stellte sich der Röhnbruderhof dar. Die Anerkennung bleibt nicht aus, denn auf der staatlichen Seite konnte man nicht umhin, die positiven Auswirkungen des Bruderhofes für die Region als Port für Gestrandete und sozial Randständige wahrzunehmen. Ein Heim für gefährdete Kinder traf in besonderer Weise auf Zustimmung. Die Kommunität wurde bekannter. Und immer wieder trafen Spenden ein, die das Überleben für die nächsten Zeit sichern halfen.

DIE HUTTERER

Leer Arnolds urgemeindliche Bestrebungen, seine Einstellung zur Taufe und sein radikaler Pazifismus mußte ihn zwangsläufig auf die Geschichte der Hutterer stoßen lassen. Die mährischen Hutterer waren als radikale Taufgesinnte schon bald nach der Reformationszeit aus Europa geflohen und hatten sich in den USA angesiedelt, wo sie ähnlich wie die mennonitischen Amischen, in eigenen Dörfern zusammenleben. Arnold war tief beeindruckt von dem, was er über die Hutterer erfuhr und nahm deshalb 1930 sofort die sich ihm bietende Gelegenheit wahr, in die USA zu reisen. Der Aufenthalt währte bis zum Mai 1931- Zwar konnte, wie sich Arnold erhofft hatte, die sehr viel größere und bereits fest etablierte Hutterer-Gemeinschaft dem Rhönbruderhof keine finanzielle Unterstützung zukommen lassen, doch wurde die Vereinigung beschlossen: Von nun an galt der Bruderhof als eine Gemeinde der Hutterer, die damals außer in den USA noch in Kanada zu finden waren. Heute sind es vier Hofdörfer, eines in England (Darvell/Sussex) und drei in den USA (Woodcrest in Rifton/New York, New Meadow Run in Framington/Pennsylvania und Deer Springin Nofolk/Connecticut), in denen jeweils zwischen 150 und 400 Frauen, Männer und Kinder zusammenleben. In einer neueren Broschüre der Hutterer heißt es 1984: „Kommt uns besuchen, arbeitet mit, tauscht Euch aus! Für Unterkunft und Essen seit Ihr unsere Gäste. Wir zahlen keinen Arbeitslohn. Bitte schreibt keine Abhandlungen über uns. Kommt und helft uns, den Willen Gottes für die Menschen von heute zu erkennen.” In dieser schlichten Überzeugung erkannte auch Arnold damals seine eigenen Ziele. Die Verbindung in die USA sollte den Mitgliedern des Bruderhofes später dann das Leben retten.

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LeerGerade die entschieden unpolitische Haltung des Bruderhofes mußte politisch anstößig wirken. Auch Politikverweigerung ist eine Form politischer Wirksamkeit. Das NS-Regime sah hier eine große Gefahr für seine totalitären Bestrebungen - zu recht. Mit Menschen, die sich verweigern, ist nun einmal kein Staat zu machen. Bei der Scheinwahl vom November 1933 wurde der Gemeinschaft aber bald deutlich, daß unter den neuen Bedingungen Verweigerung andere Konsequenzen als bisher nach sich ziehen würde. Arnold hatte eine Erklärung formuliert, „die zum Ausdruck brachte, daß wir wohl hinter einer von Gott gesetzten Obrigkeit stünden, daß aber unser Auftrag ein anderer sei, nämlich der Auftrag Christi, nach seiner Art und nach seinem Vorbild als Korrektiv für diese Welt zu leben. Jeder schrieb diese Erklärung auf ein gummiertes Papier ab. Dann zogen wir alle gemeinsam hinunter nach Veitsteinbach, dem Dorf dem wir alle zugehörig waren. jeder von uns klebte diese Erklärung auf den Wahlzettel und warf ihn in die Urne. Zu unserem Erstaunen wurde in der nächsten Tageszeitung bekanntgegeben, daß ein jeder auf die Volksbefragung mit ‚ja’ geantwortet, also die Politik Hitlers bejaht habe.” Die Antwort blieb nicht lange aus. Vier Tage später wurde der Hof von etwa 140 SS-, SA- und Gestapo-Leuten umstellt und durchsucht. Besonders die Auslandsverbindungen galten als verdächtig. Papiere wurden beschlagnahmt, aber Kriminelles kam natürlich nicht zum Vorschein. Die Truppen rückten ab. Aber der Hof wurde von nun an scharf beobachtet.

LeerDie weitere Entwicklung war vorauszusehen. Es konnte nur klug sein, eine Ausweichmöglichkeit ins Ausland zu suchen. Man fand sie im neutralen Liechtenstein, ein altes Kurhotel. Wieder ein Anfang, ohne Mittel, ohne das Wissen, welche Zukunft bevorstand. Der Almbruderhof entstand und nahm bereits einige Erwachsene und zwölf Kinder auf. Arnolds blieben hingegen in der hessischen Rhön - und das, obgleich Eberhard Arnold seit geraumer Zeit an einem nicht ausheilenden Beinbruch schwer erkrankt war. Die Entwicklung im Hitlerdeutschland der kommenden Jahre zwang dann auch die übrigen Bruderhofmitglieder, sich mit dem Gedanken der Auswanderung vertraut zu machen. Die schulpflichtigen Kinder wurden nach Liechtenstein gebracht, die jungen Männer folgten ihnen, um dem Militärdienst zu entgehen. Arnold reiste noch, er hielt Vorträge, aber seine Gesundheit und die sich verschärfende politische Lage ließen es immer deutlicher werden, daß das Ende des Rhönbruderhofes absehbar war.

LeerAm 22. November 1935 starb er an den Folgen der notwendig gewordenen Beinamputation. Der schwäbische Theologe Karl Heim, der Arnolds Weg immer mit besonderem Wohlgefallen verfolgt hatte, schrieb in seinem Nachruf. „Nun ist dieser einzigartigige Lebensweg abgeschlossen, den der Heimgegangene geführt wurde von seinen Hallenser Studienjahren an über die Berliner Zeit bis zur Gründung und Leitung der Bruderhof-Gemeinde. Ich habe diesen Weg beinahe vom ersten Anfang an aus der Nähe und Ferne miterleben dürfen, und ich stand immer unter dem Eindruck einer einheitlichen Richtung und heiligen Notwendigkeit, mit der ein Schritt auf den anderen folgte, bis das ganze zur Vollendung kam. Man sah in diesem Lebensgang mit wunderbarer Deutlichkeit die unsichtbare Hand, die einen hohen Plan durchführt.”


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WARTEN AUF GOTTES REICH

LeerNach Arnolds Tod blieben nur wenige Geschwister der Gemeinschaft auf dem Bruderhof zurück. Bis 1937 konnten sie sich noch in Deutschland halten, dann erzwang der Staat das Ende. Über den Almbruderhof in Liechtenstein gelangten die Mitglieder zunächst nach England, wo sie in Cotswold Zuflucht fanden, und gingen danach 1940/41 nach Paraguay, wo bis 1961 eine Gruppe von Brüdern und Schwestern unter den schwierigen tropischen Bedingungen ausharrte. Die meisten hatten jedoch nach dem Ende des Weltkrieges den Weg zurück nach England und vor allem in die USA zu den größeren Höfen der Hutterer gefunden.

LeerDer radikale Weg der Nachfolge - so stellt sich Eberhard Arnolds Leben dar.

LeerWir können es als Schwärmerei abtun, als unverantwortlich in seinen Pflichten gegenüber der größeren Gemeinschaft, wir können die Gegnerschaft zur Kirche und zum Staat als Ordnungsmacht Gottes ebenso kritisieren wie die fehlende theologische Reflexion der Sakramentsfrage. Aber mogeln wir uns damit nicht an dem Anspruch dieses Lebensweges vorbei, der sich allein Christus und dem Anbruch des Reiches Gottes verpflichtet fühlte? „Wenn das Reich Gottes ebenso Gegenwart wie Zukunft ist”, so schrieb Arnold kurz vor seinem Tod, „so muß den Glaubendenjetzt ein Leben gewiß werden, das dem zukünftigen Reich Gottes wirklich entspricht. Ebenso entspricht es dann dem historischen Leben Jesu. Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in alle Ewigkeit. Und wir müssen einig werden mit seinem Leben und seiner Zukunft, indem wirjetzt so leben, wie das Reich Gottes in Zukunft in Erscheinung treten wird.”

LeerGlauben wir das eigentlich? Glauben wir noch an die Kraft der Gemeinschaft („Wir müssen in Gemeinschaft leben, weil Gott will, daß wir auf die unklare Sehnsucht der heutigen Menschheit eine klare Glaubensantwort geben”), an den christlichen Widerstand gegen Verhältnisse und Strukturen, die Gott und der Erwartung seines Reiches spotten („Durch Christus und seine Gemeinde ist das Reich Gottes jetzt schon verwirklicht. Die Erde wird endlich ganz für Gott gewonnen. Es geht ums Ganze. Die Liebe Gottes kennt keine Grenze. Sie weicht vor keiner Schranke.”)? Wieviel Zutrauen haben wir noch zu Christus und was lassen wir uns dieses Zutrauen kosten („Unser Leben wird nicht enger, sondern weiter werden, nicht umgrenzter, sondern uferloser, nicht angeordneter, sondernflutender, nicht pedantischer, sondern großzügiger, nicht nüchterner, sondern enthusiastischer, nicht kleinmütiger, sondern waghalsiger, nicht trauriger, sondern glücklicher, nicht untüchtiger, sondern schöpferischer. Das alles ist Jesus und sein Geist der Freiheit. Er kommt zu uns.”)? Der Weg Eberhard Arnolds, eine abenteuerliche Verbindung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Christusmystik und Tat - eine noch immer unbeantwortete offene, eine bohrende Frage an uns.

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Anmerkung
Erhältliche Schriften von Eberhard Arnold:
Die Revolution Gottes. Aus dem Lebenszeugnis der hutterischen Gemeinschaft, Stuttgart 1984 (Sammlung von Äußerungen aus dem Zeitraum 1919 - 1935)
Gemeinsames Leben - wozu?, Gnadenthal 1978 (1925)
Salz und Licht. Über die Bergpredigt, Moers 1982 (Schriften 1915-1935)
Über Arnold und auch über die Hutterer ist Material erhältlich bei der Hutterian Society of Brothers, Woddcrest, Rifton, New York 12471 U.S.A. und bei The Plough Publishing House, c/o Basisgemeinde Wulfshagenerhütten, 24214 Gettorf
Wichtig ist auch Emmy Arnold, Gegen den Strom. Das Werden der Bruderhöfe, Moers 1983.
Zitate werden nicht einzeln ausgewiesen, sondern, um der besseren Lesbarkeit willen, aus den verfügbaren Schriften zusammengetragen.

Quatember 2000, S. 223-232
© Frank Lilie

[Siehe auch Erika Altgelt (1956) Die Bruderhofbewegung kehrt nach Deutschland zurück]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-13
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