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Christsein von innen her
Annäherung an Themen der Mystik
von Heinz Grosch

LeerEine Vorbemerkung erscheint mir notwendig. Über Grundfragen und -themen der christlichen Mystik soll nachgedacht und gesprochen werden. (1) ‚Über’ etwas zu reden und nachzudenken - das könnte den Eindruck vermitteln, der Vortragende wie auch der Kreis der Zuhörer stehe ‚über’ der Sache und könne gewissermaßen deren Grenzen abstecken, den ‚Gegenstand’ definieren. Das mag bei bestimmten Themen möglich sein oder sogar notwendig. Bei Themen wie dem, das uns beschäftigen soll, ist es im Grunde nicht möglich. Weshalb nicht? Weil hier - wie bei jeder Frage, die auf Glauben, auf Hoffnung und auf Liebe zielt (Mystik hat mit all dem zu tun) - der Redende und der Hörende ganz unmittelbar selbst mit im Spiel ist. Er kann nicht davon absehen, daß es auch um seinen Glauben, seine Hoffnungen, seine Weise des Liebens und Geliebt-Werdens geht.

Zum Sprachgebrauch

LeerWenn wir vom Alltagssprachgebrauch ausgehen, so könnten uns bei dem Wort Mystik die merkwürdigsten Dinge einfallen: vielleicht Werbeslogans für Räucherstäbchen, die ‚mystische Düfte’ versprechen, oder das ‚mystische Halbdunkel’ eines Raumes, der nur von Teelichtern beleuchtet ist, oder ‚mystische Klänge’ östlicher Herkunft... Vielleicht denkt aber mancher auch an die Handlung eines Films, eines Theaterstücks, eines Romans, in dem der rätselvolle Weg eines Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis nachgezeichnet wird. Immerhin kommentiert Goethe das Ende seines Faust mit dem Gesang eines Chorus mysticus. (2) Mystik - eine Sache für einschlägig disponierte Leute oder für Fachgelehrte in Sachen Literatur und Theologie? Andererseits konnte Karl Rahner sagen, der Christ von morgen werde - ein Mystiker sein - „einer, der etwas erfahren hat” - oder es werde ihn gar nicht mehr geben. (3) Wäre dann Mystik nahezu identisch mit dem christlichen Glauben überhaupt?

LeerIch setze mit meiner Antwort zunächst ein beim Wort Mystik und seinen Ableitungen. Mystérion (das Geheimnis, die Geheimlehre), mystes (der Eingeweihte) und mystikos (geheimnisvoll, ‚mystisch’) - diese griechischen Termini sind ursprünglich bezogen auf die vielfältigen religiösen Kulte des Altertums, genauer auf deren Riten. Nur wer dazugehörte, kannte sie und verstand ihren Vollzug. Für die anderen war der betreffende Kult ‚verborgen’. Das zugrundeliegende Verb (myo) bedeutet so viel wie ‚ich schließe die Augen’, ich sehe also nichts, weiß nicht, was da geschieht, ich begreife es nicht es sei denn, ich würde eingeweiht.

LeerIn den Evangelien kommt das griechische Wort ‚mysterion’ nur ein einziges Mal vor (nach Mk 4, 11 spricht Jesus vom Geheimnis der Gottesherrschaft); um so häufiger begegnet es in den Briefen des Paulus, wenn er etwa vom Geheimnis des Willens Gottes (Röm 11, 25), vom Geheimnis Christi (Kol 2, 2), vom Geheimnis der Botschaft des Glaubens (1. Kor 4, 1) oder vom Geheimnis der Bedeutung eines alttestamentlichen Bildwortes redet und in Eph 5, 31 f. das Votum über Mann und Frau aus Gen 2, 24 (‚sie werden ein Fleisch sein’) als geheimnisvollen Hinweis auf Christus und die an ihn Glaubenden deutet.

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LeerBei biblischen Aussagen von der Art der letztgenannten Stelle und bei der Unterscheidung von Buchstabe und Geist (2. Kor 3, 6) scheint nun der nachdenkende Glaube - die Theologie - schon früh anzuknüpfen, wenn gefragt wird nach dem geistlichen Sinn eines alttestamentlichen Textes, nach seiner tieferen Bedeutung für den glaubenden Christen. Origines (185-254), einer der großen Lehrer der jungen Christenheit, verwendet genau in diesem Zusammenhang die Formulierung ‚mystische Auslegung’, die er neben die buchstäbliche (auf die ‚Fakten’ zielende) und die moralische (ermahnende) Interpretation der Heiligen Schrift stellt. Geht es beim ‚Buchstaben’ um die Dinge oder um die äußeren Ereignisse, von denen in einem Text die Rede ist, gilt die moralische Auslegung dem Verhalten und Handeln des Lesers oder Hörers, so sucht die ‚mystische’ Auslegung aufzuspüren, wie in einer Schriftstelle Gottes gegenwärtiges Handeln in Christus an der Gemeinde (also auch an mir) sichtbar wird. Parallel zu diesem Umgang mit der Bibel entwickelt sich eine ähnliche Theologie der Sakramente.

LeerDer aus Flandern stammende Wahlamerikaner Louis Dupré (4) sagt hierzu: „Gleich wie Christus verborgen in den Schriften (auch schon des ersten, ‚alten’ Testamentes) enthalten ist - selbst wenn die Wörter nicht ausdrücklich von ihm reden -, so ist er es auch in der Eucharistie, in den Zeichen von Brot und Wein. So kam es dazu, daß das Mystische auch auf das sakramentale Zeichen bezogen wurde. Aber eines ergänzt das andere. Für Origines hat der Christ einen doppelten Zugang zum mystischen, in der Erfahrung gründenden Wissen von Gott - nämlich durch das Lesen und Verstehen der Schriften wie auch durch das Empfangen der Sakramente.” Daß es beim „Wissen von Gott”, welches „in Erfahrung gründet”, letztlich um das Innerste und Eigentliche meiner Existenz geht, um „das Geheimnis, das ich bin”, wie Guardini einmal gesagt hat, sei nicht nur am Rande vermerkt. Jede andere Art von Theologie wäre überflüssig. Auf geistlich-geistige Erfahrung - so könnte man sagen - zielte die verstehende Aneignung des mystisch gedeuteten Wortes, auf geistlich-leibliche Erfahrung zielte die Einverleibung der Schöpfungselemente Brot und Wein. (5)

LeerDupré fügt nun aber noch hinzu, es sei allerdings in jener Art von Glaubenserfahrung „um die Erfahrung der ganzen Gemeinde” gegangen, wir aber hätten „die gemeinsame Erfahrung, das gemeinsame Widerfahrnis der Begegnung mit dem Göttlichen verengend reduziert auf die Erfahrung des je einzelnen Menschen.”; Die mit anderen geteilte religiöse Erfahrung sei für uns Heutige - gegen den Ansatz der großen Mystiker - zu etwas Privatem geworden. Deshalb gelte Mystik heute für viele als etwas, das eine bestimmte Veranlagung voraussetzt, aber kein zentrales Element des Glaubens der Christenheit ist.

LeerUnversehens sind wir damit von der Frage nach den Worten und Begriffen zur Sache selbst gekommen. Der Sprachgebrauch mag es verraten haben: von ‚Begegnung’ war die Rede, von gemeinsamer und individueller ‚Erfahrung’ und vom ‚Widerfahrnis’ einer solchen Begegnung. Abermals lohnt es sich, genau auf die einzelnen Wörter zu achten. ‚Erfahrung’ (von ‚fahren’ abgeleitet) hat zu tun mit dem Unter-wegs-Sein. Walther Hensel, der im Jahr der ersten Berneuchener Konferenz seine erste Singwoche hielt, hat das in seiner Fassung des alten Wanderliedes bildstark ausgedrückt: „Mancher hinterm Ofen sitzt / und gar fein die Ohren spitzt,/ kein Stund vors Haus ist kommen aus./ Den soll man als G'sell erkennen? / Oder ein'n als Meister nennen,/ der noch nirgend ist gewest, / nur gesessen in sein'm Nest?”

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LeerDie „Ohren spitzen”, wenn von der Begegnung zwischen Mensch und Welt, zwischen Welt und Gott die Rede ist, etwas vom Hören - Sagen kennen, rechtgläubigtheologische Sätze ‚über’ Gottes Gegenwart im Sakrament schreiben oder aufsagen können, das ist eines - Erfahrung mit der Welt Gottes, reale Begegnung des Geschöpfes mit seinem Schöpfer, Einverleibung des gesegneten Brotes und des gesegneten Weines in der Eucharistiefeier ist etwas anderes. Gleichwohl kann das Wort Erfahrung mißverstanden werden, zumal im Zusammenhang mit der Redewendung ‚Erfahrungen machen’. Das Zitat von Dupré spricht vom „Widerfahrnis der Begegnung mit dem Göttlichen” - also von einem passiven Moment in der Gottesbegegnung. (6) Wer die Welt zu ‚erfahren’ sucht, wird allemal auch auf das Nicht-Machbare stoßen, auf das, was uns widerfährt, was uns - ohne daß wir etwas dafür tun - entgegenkommt: bedrohlich vielleicht oder aber beglückend.

LeerMit diesen einführenden Überlegungen sind, denke ich, bereits die verschiedenen Aspekte im Blick, unter denen eine Annäherung an Grundthemen der christlichen Mystik vorstellbar ist. Ich benutze dabei das Bild von der Wanderung, das ja vorhin schon anklang: Der Wanderer braucht Markierungen, denen er folgen kann; er wird immer wieder mit dem Unerwarteten konfrontiert sein; er muß sich der Grundrichtung für sein Gehen vergewissern; er bedarf des Überblicks über den Weg, den er gegangen ist; er muß sich darauf einstellen, daß zur Wanderung schmerzhafte Erfahrungen gehören; er wird anderen, ihm bisher nicht bekannten Lebensformen begegnen, und schließlich darf er Stufen, Höhenunterschiede, Steigungen und Gefällstrecken nicht scheuen.


LeerIn der Sprache der Mystik: Wir werden zu fragen haben
Leer- nach Wegmarkierungen in Gestalt spiritueller Erfahrungen, nach dem Verhältnis von Handeln und Widerfahrnis,
Leer- nach dem ‚Ort’ Gottes als Ziel des geistlichen Weges,
Leer- nach dem Erinnern und seiner Bedeutung,
Leer- nach dem Leiden (Stichwort: Nachfolge Christi),
Leer- nach unserm Verhältnis zu den Mitgeschöpfen und
Leer- nach den „Stufen” des geistlichen Weges.

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Themen christlicher Mystik

Spirituelle Erfahrungen

LeerMit hoher Wahrscheinlichkeit hat jeder von uns irgendwann spirituelle Erfahrungen gemacht. Ob es uns im Augenblick des Geschehens bewußt war, mag dahinstehen. Wie könnten wir sie zu beschreiben versuchen? Vielleicht so: Daß uns etwas klar vor die Augen trat, was wir vorher nur geahnt oder nicht einmal geahnt hatten (eine Erleuchtung haben, sagen wir zuweilen). Oder: daß wir durch einen äußeren oder inneren Impuls etwas von dem wahrnehmen, was unsern alltäglichen Lebensvollzug, unser alltägliches Verständnis von Mensch und Welt durchbricht oder übersteigt. Das kann ein religiöser Impuls sein, es kann aber auch etwas scheinbar ganz Profanes sein.

Leer Ich versuche zu exemplifizieren. Daß Menschen und Dinge entstehen und vergehen, daß sie uns nur auf Zeit begleiten, können schon Kinder oder Jugendliche begreifen. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war ich neun Jahre alt; mein sehr viel älterer Bruder kam im Winter 1942/43 in Stalingrad um, mein Vater kurz vor Kriegsende in Thüringen, aus dem Einfamilienhaus in Sachsen, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, wurden meine Mutter und ich 1946 gewaltsam vertrieben, weil ein kommunistischer Funktionär darin wohnen wollte. 1948 verließ ich meine Heimatstadt, nachdem man mir das Studium verwehrt hatte. Endlichkeit war also für mich kein bloßes Wort, und wenn ich damals schon die Verse 4 bis 6 des 90. Psalms gekannt hätte, wäre mir das, was sie ausdrücken, nicht fremd gewesen. Dennoch war der andere Satz aus dem selben Psalm - „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen” - merkwürdigerweise noch ganz weit weg. Das ‚uns’ und das ‚wir’ bekam seine Bedeutung für mich erst bei einer anderen und (äußerlich betrachtet) höchst unscheinbaren Gelegenheit -1949 bei einem Sinfoniekonzert in Hannover. Ich war 19 Jahre alt; wir - mein gleichaltriger Freund und ich - hatten uns mit Klavierauszügen ein wenig auf das Programm vorbereitet, und beim Schlußsatz einer Haydn-Sinfonie geschah es dann. Im Hören der Musik sah ich die letzte Notenseite gleichsam vor mir, und plötzlich zählte ich unbewußt die Takte mit: noch 32, noch 24, noch 16, noch 8, noch 4, noch 2, und dann der Schlußakkord. Siedendheiß durchfuhr es mich: Das Wunderbare, das, was eben noch ein tiefes Glücksgefühl in mir ausgelöst hatte (oder sogar dieses Glücksgefühl selbst), war also nichts Beständiges, ging vorüber, mußte vergehen: mit der Notwendigkeit zählbarer Taktschläge. Warum konnte es nicht bleiben? Was würde überhaupt bleiben? Nach dem Verklingen des Schlußakkords herrschte einen Augenblick Stille in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal, danach der rauschende Beifall. Aber ich konnte nicht mitklatschen ...

LeerMomente dieser Art (manche werden sie von ganz anderen Situationen her kennen) gibt es wohl nicht nur einmal im Leben. Die Frage nach dem, was bleibt, meldet sich immer wieder von neuem. Ist in ihr eine spirituelle Erfahrung enthalten? Ja, wenn wir uns von ihr öffnen lassen für das andere, das wahrgenommen sein will. Bei einer Fastenwoche auf dem Kirchberg, die Gérard Siegwalt aus Straßburg leitete, waren für die Messe des letzten Sonntags einige Taize-Gesänge vorbereitet worden. Der kurze, vielfach wiederholte Ruf „O, adoramus te, Domine!” durchzog den ganzen Gottesdienst. Nach der Präfation, also unmittelbar vor den Einsetzungsworten, sollte eine Teilnehmerin in den Ruf der Gemeinde hinein ein jubelndes Sanctus singen. Sie hatte es geübt und wußte auch, wann sie es zu singen hatte. Vielleicht aber war sie doch ein wenig zu aufgeregt - das Sanctus jedenfalls fand nicht statt. Es blieb beim Gesang der Faster: „O, adoramus te”.

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LeerDie Eucharistiefeier ging zu Ende, und auch nach dem Segen stimmte irgendjemand noch einmal die Zeile an, für die inzwischen keiner mehr die Noten brauchte: „O, adoramus” Plötzlich aber faßte sich unsere Solistin ein Herz und sang zum Auszug der Liturgen und der Gemeinde ihr Sanctus: „Heilig, heilig, heilig ist Gott... Alle Lande sind seiner Ehre voll... Gelobt sei, der da kommt...” Einem liturgiewissenschaftlich gebildeten Theologen hätten sich vielleicht die Haare gesträubt. Uns - den Fastern, Br. Siegwalt und mir - erging es anders. Wir spürten (und etliche sprachen es auch aus): Der große Lobgesang der Engel und aller Geschöpfe ist ein bleibendes Geschehen und hat seinen Ort in jedem Jetzt - nicht nur dort, wo ihm die Liturgien der Menschen einen Platz zuweisen; er begleitet uns auch dort, wo unsere Gottesdienste enden.

LeerAn diesen kleinen und gewiß allzu persönlichen Beispielen mag zweierlei deutlich werden. Zum einen, daß solche Erfahrungen wohl immer mit bestimmten Lebenssituationen verbunden sind. Wie alles haben auch sie ihre ‚Stunde’. Sie sind so etwas wie Markierungen unseres Weges, aber weil eben dieser Weg den Stufen und Wandlungen des Lebens unterworfen ist, haben auch spirituelle Erfahrungen eine immer wieder andere und neue Gestalt. Jedes Leben, ja, jede Phase eines Lebens trägt auch spirituell ein eigenes und unverwechselbares Gesicht. Zum anderen: Die beiden von mir beschriebenen Erfahrungen (besser sollten wir vielleicht von Wahrnehmungen sprechen) - die des Vergehens, des Zu-Ende-Gehens, und die eines bleibenden Jubels, einer bleibenden Freude und Erwartung - beide Arten von Wahrnehmung sind nicht das Privileg einer geistlichen Elite. Sie finden, in welcher Form auch immer, im Alltag statt, im Alltag von Leuten etwa, die gern Musik hören, in einem beliebigen Sonntagsgottesdienst oder noch öfter vielleicht dort, wo sich unser ganz ‚gewöhnliches’ Leben abspielt.

LeerKönnten wir also hier abbrechen und uns einfach vornehmen, künftig ein wenig mehr achtzuhaben auf das, was um uns herum geschieht und was dies in uns auslöst? Nun haben wir aber vorhin gehört, Mystik lasse sich nicht auf die spirituellen Erfahrungen des Einzelnen reduzieren und schon gar nicht auf Erfahrungen, die ich ‚machen’ müßte oder könnte. Von dem, was ich vermag, von dem, was ich tue, kann ich letztlich nicht leben. Wovon aber dann?


Wovon leben wir wirklich?

LeerWieder gehe ich von einer (scheinbar) profanen Begebenheit aus. Zwei Menschen, die sich wie durch Zufall - Zufälle aber gibt es nicht - im Zweiten Weltkrieg als Kinder kennengelernt und eine merkwürdig intensive innere Verbundenheit miteinander entdeckt hatten, geraten als junge Erwachsene in je eigene, voneinander weg führende Situationen hinein, und nach einigen Jahren trennen sich ihre Wege ganz. Über fünf Jahrzehnte hinweg wissen sie nichts über einander. Erst durch den Tod eines gemeinsamen Bekannten und durch das Ende der politischen Spaltung zwischen Ost und West erfährt einer von beiden die Anschrift des anderen und schreibt ihm. Der Brief, in dem er von seinem Weg durch die zurückliegenden Jahre berichtet, endet mit den Worten: „Nach einer langen Odyssee scheint sich mein Lebenskreis zu schließen, und ich möchte nun allen, die mir etwas bedeutet haben, Adieu sagen -auch Dir, lieber Freund aus der Kinderzeit. Gott segne Dich und die Deinen und gebe Euch noch eine gute Zeit!” Um dem anderen die Freiheit zu lassen, den Brief entweder zu lesen und beiseite zu legen oder aber seinerseits den Faden aufzunehmen, gibt er seine genaue eigene Anschrift nicht an. Heute - fünf Jahre später - sind beide samt ihren Familien in engem persönlichen Kontakt, und aufgrund ähnlicher Erfahrungen (in ganz verschiedenen Weltgegenden!), Entwicklungen und Interessen erwuchsen aus der Wiederbegegnung sogar gemeinsame Arbeitsvorhaben. Der Empfänger jenes Abschiedsbriefes hatte sich auf Umwegen die Adresse des Briefschreibers besorgt und in einer dankbaren Antwort seiner Freude Ausdruck gegeben, daß etwas geblieben war, was auch durch ganz unterschiedliche Lebensverläufe oder durch politische Ereignisse nicht zerstört werden konnte.

LeerDaß jener Brief des Erinnerns geschrieben wurde, lag nicht in der Hand des Empfängers - es war für ihn ein Widerfahrnis. Daß der Brief beantwortet und der Faden aufgenommen wurde, war in gewissem Sinne allein Sache des Empfängers. Hätte er nicht geantwortet, so wäre das Wort des ersten Schreibers ins Leere gegangen. Wäre aber das erste Wort ungesagt geblieben, so wäre die Antwort nicht einmal denkbar gewesen. Voraussetzung für ein Gespräch ist allemal die Bereitschaft zum Miteinander auf beiden Seiten, aber jede Antwort lebt vom vorausgegangenen, vorausergangenen Wort. Zugespitzt: Daß der Empfänger des nach Jahrzehnten geschriebenen Briefes sich heute so versteht, wie er sich versteht (nämlich als Beschenkter und also dankbar), daß er der ist, der er jetzt ist, hat seinen Grund gewissermaßen im anderen. Die mystischen Ausleger des Glaubens deuten das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in ähnlicher Weise. So ließe sich in Anlehnung an Angelus Silesius sagen:

Leer„Ich weiß, daß ohne Gott ich nicht ein Nu kann leben; wird er zunicht, muß ich vor Not den Geist aufgeben.”

LeerDas ist im Grunde eine Liebeserklärung - ähnlich wie die schlichten Zeilen des alten Abendliedes: (7) „Du bist nun mein, und ich bin dein, dir hab ich mich ergeben...” Weil aber eine solche Ich-Du-Beziehung von Wechselseitigkeit lebt, darum könnte der Vers von Angelus Silesius auch lauten:

Leer„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.”

LeerEben diese Version ist übrigens die Originalfassung des Sinnspruches aus dem Cherubinischen Wandersmann. Mit überraschender Kühnheit drückt der Arzt und spätere Seelsorger Johannes Scheffler aus, wie sehr der zuerst Redende auf eine Reaktion gehofft und gewartet hat, wie sehr ER noch immer hofft und wartet. Wo aber wartet ER - Gott - auf uns? Wohin müßten wir gehen?


Wohin sollen wir gehen?

LeerIn vielfältiger Weise haben die Religionen diese Frage zu beantworten gesucht und auf Orte verwiesen, an denen uns das Heilige mit seiner Macht begegnet: auf Bäume, Haine und Wälder, auf Grotten und Höhlen, auf Steine und Berge, auf Quellen und Flüsse. Wo solche Stätten überbaut wurden, da entstanden Tempel als Behausungen der Gottheit - Orte, an denen Bilder des Göttlichen dessen Gegenwart sichtbar machten und die Feier seiner Nähe ermöglichten. Wir Menschen brauchen wohl solche Orte, wir brauchen wohl auch Bilder, wir leben von der gemeinsamen Anrufung seines Namens an festen Orten und angesichts von Bildern. Das ist uns eingeschaffen. Aber zugleich ahnen wir, daß im Grunde kein Bild, kein Raum, kein Ort, kein Begriff und keine Definition das Heilige wirklich zu fassen vermag. (8) Nicht nur Angelus Silesius (1624-1677) und Meister Eckhart (1260-1327) haben dieser Ahnung Ausdruck gegeben, sondern bereits der unbekannte Theologe des 5. Jahrhunderts, der als Pseudo-Dionysius in die Geschichte des Glaubens eingegangen ist, konnte formulieren: „Gott ist jenseits aller Begriffe.” Damit befindet sich dieser frühe Mystiker ganz in der Spur neutestamentlichen Denkens, denn „niemand hat Gott je gesehen” (Joh 1, 18), und „ER wohnt in einem Lichte, da niemand zukommen kann” (1. Tim 6,16). Auch das Alte Testament weiß Gott im Unzugänglichen verborgen: im Feuer und in der Wolke (Ex 13), in der Höhe (Ps 93), im Wettersturm (Hiob 38) und in der großen Stille (1. Kön 19). Gott als der Unzugängliche -das ist beinahe so etwas wie ein biblisches Grundbild. Und dennoch setzt uns der Glaube, vor allem wie er sich im Neuen Testament artikuliert, bei unserm Suchen und Fragen auf eine Spur, indem er nämlich vom „Wort” redet, durch das „alle Dinge” gemacht sind (Joh 1, 3), vom Wort, das „alle Menschen erleuchtet” (1, 9), vom Wort, das „Fleisch wurde” (1, 14) und IHN verkündigt (1, 18).

LeerWohin aber weist uns dieses Wort, wenn wir nach einem Weg fragen, der zu IHM führt, zu SEINER „Wohnung”, wie es nicht nur die Psalmen in einem sehr weltlichen Bild ausdrücken? Ich setze ein bei dem,was das Lukasevangelium (17, 21) als Antwort Jesu auf eine Frage der Jünger überliefert. Die Königsherrschaft Gottes, ER selbst also, sei entós hymon. Dieser griechische Ausdruck ist mehrdeutig. Wer noch die ursprüngliche Lutherübersetzung des Verses kennt, wird sich der Formulierung „inwendig in euch” erinnern. Heutige Ausleger meinen die Stelle anders wiedergeben zu sollen: „mitten unter euch” oder „(schon) bei euch”. Jörg Zink dagegen und der katholische Neutestamentler Fritz Tillmann folgen der Version Luthers. Ich denke aber, die beiden Deutungen schließen einander nicht aus. Der sachliche und sprachliche Kontext legt es vielmehr nahe, die wirkende Gegenwart Gottes (und sie ist ja mit der Königsherrschaft gemeint) auf doppelte Weise wahrzunehmen: „inwendig in” uns, damit wir sehend werden für SEIN Wirken „unter uns” und „zwischen uns”.

LeerSo hätten wir uns also zunächst einmal ‚nach innen’ auf den Weg zu machen? In der Tat: zum „Christus in uns” (Röm 8, 10), zu dem Ort hin, an dem „Gottes Geist in uns wohnt” (Röm 8, 9), zu dem Wort, das uns ins Dasein rief (Gen 1, 27) und als Atem ein „lebendiges Wesen” werden ließ (Gen 2, 7), zu dem Geist, der uns erkennen läßt, daß ER, Jesus Christus, im Vater ist und wir in ihm und „er in uns” (Joh 14, 20).

LeerDie Mystiker und Mystikerinnen des Mittelalters haben das Ziel des Weges nach innen näherhin zu beschreiben versucht. Tauler, auf den wohl die ursprüngliche Fassung des Adventliedes „Es kommt ein Schiff” zurückgeht, spricht vom „Seelengrund”, Meister Eckhart von der „kleinen Burg”, Katharina von Siena nennt diesen Ort „innere Wohnung des Herzens”, und bei Johannes vom Kreuz ist vom „Haus der Ruhe” die Rede, das „im Dunkel” liegt. Louis Dupré sagt hierzu: (9) „Alle diese Metaphern umschreiben einen verborgenen Ort, an dem Gott wohnt, sie meinen die Mitte des Geschöpf-Seins, die immer verbunden bleibt mit Gottes schöpferischem Handeln. Auf Michelangelos Fresko am Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle hat sich Adams ausgestreckte Hand gerade vom göttlichen Finger gelöst, und ein leerer Raum hat begonnen, die beiden zu trennen. Der Mystiker weiß, daß die Hand und der Finger sich auch weiterhin berühren - in einem gemeinsamen Raum. Dieser Raum ist das tiefere Selbst, das Heiligtum ohne Bilder, wie es Plotin (205-270) nannte.”


Der Weg nach innen

LeerAusgangspunkt unserer Überlegungen war die enge Verbindung zwischen der Mystik (als Erfahrungsweg des Glaubens) und dem gemeinsamen Leben der Glaubenden in der Gemeinde. Die Frage nach dem ‚Ort’ der Gotteserfahrung, der Gottesbegegnung, hat uns nun aber in eigentümlicher Weise auf den einzelnen Glaubenden, auf uns selbst zurückgeführt. Der Personkern, das Herz, die „innere Burg” (wie Teresa von Avila sagt), der „Seelengrund” ist von außen her für einen anderen weder zugänglich noch faßbar. Hier mag - cum grano salis - Augustins problematische Formel gelten: „Gott und die Seele begehre ich zu kennen. Sonst nichts mehr? Schlechterdings nichts” (10) Auf dem Weg nach Innen kann ich mich in der Tat weder durch andere führen noch gar vertreten lassen. Ich muß ihn selbst gehen. Aber wie?

LeerEs ist die Bibel, die uns hier eine Hilfe - die entscheidende Hilfe - gibt. Immer wieder fordert sie dazu auf, des Weges zu gedenken, den wir gegangen sind (theologisch gesprochen: den uns Gott geführt hat), und die Dinge zusammenzubringen, zusammenzufügen, die sonst wie ungeordnete Fotos in unserm Gedächtnis herumliegen. Die englische Sprache übernimmt dafür aus dem Lateinischen das treffende Wort ‚to recollect’ (wörtlich: ‚wieder versammeln’). In anderen germanischen Sprachen wie dem Niederländischen, Dänischen oder Deutschen gehen die entsprechenden Begriffe auf den Wortstamm ‚inner’ zurück, der eigentlich eine alte Steigerungsform ist. ‚Erinnern’ hieße dann: immer weiter nach innen gehen und den Zusammenhang aufspüren, der die einzelnen Ereignisse und Abschnitte unseres Lebensweges überspannt. ‚Erinnern’ hieße dann: der Quelle näher kommen, die meinen Lebensfluß gespeist hat und noch immer speist. Und dies nicht, um in Bildern des Vergangenen zu schwelgen, sondern um das Muster im Lebensteppich zu erkennen - das Muster des Teppichs, an dem ich selbst ja durch meine Entscheidungen, meine Worte und mein Tun knüpfe oder webe.

LeerAllerdings werde ich mich hüten müssen, selektiv nur das zu erinnern, was mir angenehm ist. Zum Gedenken, zum Gedächtnis, von dem es in Augustins Bekenntnissen heißt, in ihm wohne Gott - zu diesem Gedenken und Erinnern gehört auch die Wahrnehmung der Punkte, Ereignisse und Lebensabschnitte, die mit meiner Schuld verknüpft und verwoben sind. Mein Ja zu mir selbst und zu Gottes Weg mit uns wird zur Lebenslüge, wo ich meiner schuldhaften Vergangenheit ausweiche, wo ich nicht bereit bin zur „Reue” (wie Kierkegaard sagt). Mit Worten von Dupré: „Erst eine Besinnung auf die ganze Vergangenheit, erst das Bekennen führt zum Eingang des inneren Lebens, zum Beginn der Reise nach innen, über das Ich hinaus.” (11)

LeerWas soll das bedeuten: „über das Ich hinaus”? Wohin soll die Reise eigentlich führen?


Mit IHM gehen - Zu IHM gehen

LeerDer christliche Glaube antwortet auf die Frage nach dem Ziel der Reise in mancherlei Bildern und Zeichen mit dem Hinweis auf das Zeichen aller Zeichen, das Kreuz. Er antwortet mit dem Ruf in die Nachfolge, mit der Aufforderung, zum Stall von Bethlehem, zum Kind in der Krippe zu kommen. Daniel Sudermann - selbst Mystiker - hat das letztere Motiv aufgenommen und dem Taulerschen Adventslied vom ankommenden Schiff die Verse hinzugefügt, die vielen von uns vertraut sind: „ Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muß vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel; danach mit ihm auch sterben ...”

LeerIn der Tat ist ein zentrales Thema der Mystik das Leiden - wenn ich es recht sehe, unter zwei Aspekten: Zum einen weil der Weg Jesu, zu dessen Nachfolge sich der Glaube doch aufgefordert weiß, ein Weg der liebenden Selbsthingabe und schließlich des Leidens ist. Zum anderen aber, weil die Mystikerinnen und Mystiker immer auch sehr nüchtern wahrnahmen, wie es um die Realität unserer menschlichen Existenz in der Welt steht: Wir strecken uns aus nach Leben, nach einem Mehr an Leben, nach erfülltem, nach erfüllterem Leben („Es muß doch noch etwas anderes geben”), und doch wissen wir, daß erfülltes Leben eine Gabe ist - SEINE unverfügbare Gabe und nicht durch uns herzustellen. Wir geraten immer wieder in Situationen, die uns ratlos machen und fragen lassen, wie es weitergehen kann und was wir tun sollen. Wir wissen vielleicht sogar, daß ER seine Weisungen längst gegeben hat, aber es fällt uns schwer, auf sie hinzuhören, und noch schwerer will es erscheinen, sie zu befolgen. Wir spüren, daß etwas neu und ganz anders werden müßte (mit uns und mit der Welt, in der wir leben). Die schicksalhaften Mitgiften, Umstände und Bindungen, die auf uns liegen und uns unfrei machen (die Theologie spricht hier - für viele mißverständlich - von ‚Erbsünde’), wie auch unser persönliches Versagen (unsere Verstrickung in individuelle Sünde und Schuld) erweisen sich als schmerzende Lasten. Und diese Lasten machen uns einsam, nicht nur unter den Menschen; sie verdunkeln auch das Bild des nahen Gottes, ja, sie können es sogar gänzlich verhüllen. Der erste Vers aus Psalm 22, Jesu Schrei am Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” ist Ausdruck dieser Erfahrung.

LeerDie Mystiker haben dieses furchtbare Geheimnis, das Leiden an Gottferne und Gottlosigkeit (das Leiden Jesu am Kreuz) als den Punkt verstanden, an dem letztlich nichts, aber auch gar nichts mehr in der Hand des Menschen, in meiner Hand liegt, sondern alles in der Hand dessen, nach dem wir uns ausstrecken und sehnen, auf den wir hoffen: „Der Glaube ist eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.”

LeerVor diesem Hintergrund mag zu verstehen sein, daß die mystisehen Texte der Bibel wie auch der christlichen Tradition immer wieder auf das Bild der Nacht, des Dunkels oder der verhüllenden Wolke zurückgreifen, wenn sie vom Weg zu Gott, vom Weg mit Gott, vom Weg Gottes zu uns reden. Vielleicht gehören hierher die Zeilen von Jochen Klepper, der dieses Dunkel, diese Nacht des Leids, die zugleich auch die Nacht der verborgenen Nähe Gottes ist, wie kaum ein anderer erfahren hat: „Gott will im Dunkel wohnen - und hat es doch erhellt...” Und: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld...” (12)


GOTT in allen Dingen

LeerDaß die Erfahrung von Leiden und Kreuz eine so zentrale Bedeutung für die christliche Mystik hat, könnte den Gedanken nahelegen, wir hätten es hier mit einem selbstquälerischen, ja, vielleicht sogar masochistischen Zug des Glaubens zu tun. Die mystische Rede vom Erleiden des Göttlichen (pati divina) droht diesen Verdacht noch zu verstärken, indem sie dazu verleiten kann, die menschliche Passivität, die in der Tat der Begegnung mit Gott korrespondiert, als Ausdruck eines ganz bei sich selbst bleibenden, letztlich in der Untätigkeit verharrenden Glaubens zu verstehen. Ein solcher Quietismus (lat. quies = Ruhe, Zurückgezogenheit) ist von den großen Mystikerinnen und Mystikern immer wieder abgewehrt worden - nicht zuletzt wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem biblischen Glauben. Was soll das heißen?

LeerAls wir vom Ziel des mystischen Weges sprachen, stießen wir auf die Formel des Paulus vom „Geist Gottes”, der „in uns wohnt”, und wir erinnerten uns zugleich an die Schöpfungsgeschichte (Gen 1, 27 und 2, 7) und an das johanneische Bild vom Anfangswirken des göttlichen Wortes: „Alles ist durch IHN (den Logos) geworden, und ohne IHN geworden ist nicht eines... Und ER, das Wort, ward Fleisch.” Das Bild Gottes in der Bibel ist also nicht das eines in sich ruhenden Seins, sondern vielmehr das einer wirkenden Kraft, die gleichsam mit sich selbst zu Rate geht - ich denke an die drei Engel auf der Rubljowschen Trinitätsikone -, die ausgeht und heimkehrt, die aussendet (den Sohn) und zurückholt, die pulsierend erschafft, zeugt und gebiert, die eingeht in die Schöpfung und ihr doch auch wieder gegenübertritt, um mit ihr zu kommunizieren.

LeerDer flämische Mystiker Jan van Ruusbroec (1293-1381) hat dieses Wunder zu beschreiben versucht als „ein ewiges Ausgehen” (d.h. als ein Hinausgehen aus dem vertrauten eigenen Raum), als „ewige Geburt” des Sohnes und „aller Geschöpfe”. Sie, die Geschöpfe, sind von Gott und voneinander unterschieden, sagt Ruusbroec, „aber nicht in jeder Hinsicht, denn alles, was in Gott ist, das ist Gott.” (13) Wenn wir aber, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt, ein „Bild Gottes” sind, so wird diese Gottebenbildlichkeit dort am deutlichsten sichtbar, wo auch wir aus uns selbst „hinausgehen”, anders ausgedrückt: wo wir uns liebend den Geschöpfen zuwenden, in denen ER selbst gegenwärtig ist. Der Kreatur liebend zu begegnen, das heißt (nach Ruusbroec) ihre Eigenart und zugleich ihr „ewiges Wesen”, ihr Von-Gott-Sein und ihr In-Gott-Sein wahrzunehmen. Ignatius von Loyola (1491-1556) kann darum sagen, wir sollen „Gott suchen in allen Dingen”, und Angelus Silesius dichtet: Gott ist mein Mittelpunkt, wenn ich ihn in mich schließe, mein Umkreis dann wenn ich aus Lieb in ihn zerfließe. Und für Novalis (1772-1801) gehört zum Christentum notwendig der „Glaube an die Allfähigkeit des Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein.” (14) Stimmen aus einer vergangenen Welt? Wieder gebe ich Louis Dupré das Wort: (15) „Sich aus Liebe eingebunden zu wissen in die Schöpfung ist für die christliche Mystik kein zufälliges Beiwerk, sondern gehört zu seiner Wesensmitte” Das ist, denke ich, zugleich eine theologische und eine (im weitesten Sinne) politische Aussage.

LeerWir kommen damit zum letzten und siebenten Schritt, der diese knappe und darum natürlich auch immer wieder verkürzende Skizze zu Themen den christlichen Mystik abschließen soll:


Stufen des mystischen Pfades

LeerJohannes vom Kreuz, der Mitstreiter der Heiligen Teresa bei der Reform der spanischen Karmeliten, hat einem seiner Hauptwerke den Titel Aufstieg zum Berg Karmel gegeben. Mit den darin enthaltenen Gedanken steht er in einer Jahrhunderte alten geistlichen Tradition: in der Tradition der Hoffnung, daß der Glaubende auf einen Weg gerufen ist, und eben dieser Weg führt über Stufen und Sprossen zu IHM hin, der uns geschaffen und uns das Leben gegeben hat. Paulus bringt im Philipperbrief (3,13) solche Hoffnung, solche Sehnsucht zur Sprache: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich aus nach dem, was vor mir ist” Die Metapher vom Weg zu Gott - wir könnten auch sagen: vom Weg mit Gott - ist im Alten Testament vorgebildet, in neutestamentlichen Szenen ausgelegt und in der mystischen Theologie vielfältig zu beschreiben versucht worden. Drei Motive, drei Stufen dieses Weges stehen dabei vom 5. Jahrhundert an immer wieder im Mittelpunkt: Reinigung, Erleuchtung und Einung.

LeerFür die Ohren evangelischer Christen mag das vielleicht fremd klingen, denn das Bild von den Stufen kann mißverstanden werden, nämlich als Aufruf zur Leistung, zu menschlicher Anstrengung, zur ‚Werkerei’. Das Stichwort Selbsterlösung könnte naheliegen - der Christ aber weiß sich doch erlöst „allein aus Glauben” (aus Vertrauen in die Treue Gottes), „allein aus Gnaden”, „allein durch Christus” So oder ähnlich könnte der Einwand klingen. Ich denke jedoch, daß nicht nur die vorangegangenen Überlegungen etwas anderes gezeigt haben, sondern daß auch in den drei Motiven selbst Erfahrungen enthalten sind, die im Glauben wie im Leben Anhalt und Grund finden. Weil genau hier eigentlich ein neuer und weitgespannter Gedankengang einsetzen müßte, beschränke ich mich auf ganz knappe Hinweise.

LeerBei der Reinigung geht es wohl um das, was auch mit Einübung umschrieben werden kann. So wie wir Menschen uns nun einmal vorfinden, bedürfen wir der Einübung in die innere Freiheit -man könnte auch sagen: ins Erwachsen - Werden, ins „Ablegen” dessen, „was Kind an mir war” (1. Kor 13, 11). Kyrilla Spiecker hat das einmal so ausgedrückt: (16)

„Greifen und festhalten
kann ich seit
der Geburt.
Teilen und
schenken
mußte ich
lernen.
Jetzt übe
ich das Lassen.”
LeerDas Loslassen der Angst um mich und meine Dinge, das Mich-Verlassen auf den anderen hin bedarf der geduldigen Übung. Es bedarf der Demut, das heißt: des nüchternen Wahrnehmens meiner eigenen Wirklichkeit, meiner Neigung zum Ausweichen ins ‚Leichtere’ und Angenehme. Solch ein Einüben ins ‚Abtun’ kann bei tiefen Frustrationen enden. Im Dunkel der verzweifelten Frage: Vermag ich das überhaupt - mich loszulassen? Kann ich akzeptieren, welchen Weg ich gehen soll und was ich abzulegen habe, um ihn gehen zu können? Ja, so schreibt Dupré, „vielleicht werde ich nichts Besseres zustande bringen, als still zu akzeptieren, daß ich unfähig bin zum Akzeptieren” Von der Heiligen Katharina von Siena wird überliefert, sie sei einmal von schlimmen Visionen des Bösen geplagt worden; danach habe sie in Verzweiflung betend gefragt, wo ER, der Herr, eigentlich war, während sie von jenen Visionen gequält wurde. Eine göttliche Stimme aber soll ihr geantwortet haben: „In deinem Herzen war ich.” Vielleicht verweist diese Zusage („in deinem Herzen” - Dir also näher, als du es dir überhaupt vorstellen kannst) schon auf die zweite Stufe des mystischen Weges, auf die via illuminativa, auf die Erleuchtung. In Katharinas „Dialog über die göttliche Vorsehung” sagt Christus von der verzweifelt hoffenden Seele: „Sie wendet sich nicht zurück, sondern setzt ihre geistlichen Übungen demütig fort ...In der Zelle ihrer Selbsterkenntnis eingeschlossen erwartet sie ... das Kommen des Heiligen Geistes, nämlich Mich, der ich dieses Liebesfeuer bin.” (17) So wäre - hier jedenfalls - Erleuchtung zu beschreiben als Klarheit über den Grund der Hoffnung, als Reflex des kommenden Lichtes („Liebesfeuer”) - obwohl wir noch eingehüllt sind vom Dunkel der Nacht, als Gewißheit, daß die „geistlichen Übungen” einen lebenserhaltenden Sinn haben.

LeerUnd schließlich die Einung (Teresa und andere Mystiker reden von „Vermählung”): Ist das eine einzelne, gnadenhafte Erfahrung? Ist es ein Zustand? Beides - oder etwas ganz anderes? Vielleicht kann darüber nur jemand sprechen, der diese Erfahrung gemacht hat - in welcher Form auch immer. Und wer sie gemacht hat, kann wohl nur von seiner Erfahrung sprechen - wenn er es nicht sogar vorzieht zu schweigen. Es scheint mir bedeutsam zu sein, daß manche Mystikerin, mancher Mystiker genau hier davor warnt, besondere Bewußtseinszustände zu erwarten (Trance) und außergewöhnliche Erlebnisse (Schauungen, Stimmen u.a.) allemal als Indizien für diese tiefste spirituelle Erfahrung zu werten. Ein sehr nüchternes Bild aus dem Schlußkapitel von Duprés Büchlein muß hier genügen, um das Gemeinte anzudeuten. (18) Das Leben in der Einung (unio mystica) sei, so schreibt er, „ein Leben auf zwei Ebenen zugleich. Auf der äußeren und sichtbaren Ebene ist der Mystikerganz involviert in die Beschäftigungen und Beziehungen des Alltags, die durch wirtschaftliche Faktoren und durch den sozialen Stand mitbestimmt werden, aber unter der Oberfläche hört er ununterbrochen den cantusfirmus, die Grundmelodie der göttlichen Musik. Eins lenkt nicht vom anderen ab. Im Gegenteil, die tiefere Schicht der Existenz stützt die weniger tiefe ab und versieht sie mit einem breiten Sinn-Fundament.”

LeerSo zu leben, möchte ich lernen. So leben zu können - wenigstens augenblicksweise -, das erbitte ich nicht nur für mich.


Nachbemerkung aus gegebenem Anlass

Am 16.Tag nach Beginn des Golfkrieges 2003

Leer1956 erschien eine Auswahl von Predigten des Meisters Eckhart. Friedrich Heer formulierte im Vorwort zu jener Textsammlung (19) die Frage, auf die einst die Stoa, dann aber - in ganz eigener Weise - die mittelalterliche Mystik zu antworten suchte: „ Wie kann der geistig wache Mensch anständig leben und sterben, innerlich frei, wenn ihm die Zeitverhältnisse nicht gestatten, Einfluß zu nehmen auf die große und kleine Politik? Wie kann ein solcher Mensch sich den Glauben an einen guten Sinn göttlicher Weltordnung retten, ja erst erringen, wenn er tagtäglich sehen muß, wie Narren und Verbrecher Weltpolitik machen?” Die Antwort der Stoa zielte auf Zustimmung zur Vernunft einer göttlichen Weltverwaltung, in der noch das Schreckliche und Schlechte der ,Welf, noch das tatsächlich (oder vermeintlich) Unvernünftige und Böse aufgehoben sei (M. Forschner). Die Antwort Eckharts und der mystischen Trostbücher - so schrieb Heer 45 Jahre vor der Terrorattacke auf das World Trade Centre und auf das Pentagon, 47 Jahre vor Beginn des Angriffs auf den Irak - sei der Ruf zur „ Übernahme des Leidens Christi”, genauer: des Leidens Gottes mit seinen Geschöpfen; dieses Mit-Leiden allein könne uns jene bedrohte oder verlorene Freiheit geben oder zurückgeben. Anders ausgedrückt: Die Begegnung mit Gottes lebendigem Wort und damit, aus ihr erwachsend, die Teilnahme am Weg und Leiden Christi ist gleichsam die Voraussetzung für sinnvolles Leben und Handeln in der Welt - gerade angesichts von Erfahrungen scheinbarer oder wirklicher Ohnmacht und Sinnlosigkeit.

LeerJochen Klepper, dessen Geburtstag sich am 22. 3. 2003 zum einhundertsten Mal jährte, hat die Teilnahme am Leiden Christi in Gestalt einer radikalen Solidarität mit den Verfolgten (seiner jüdischen Frau und deren Tochter) gelebt. Der um drei Jahre jüngere Dietrich Bonhoeffer sah jene Teilnahme am Weg Christi in der „verantwortlichen Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift” (20) Beide Formen der Nachfolge Christi mögen gemeint sein, wenn Jan van Ruusbroec vom „Hinausgehen” spricht. Der flämische Prediger hatte wohl die Sätze aus dem Hebräerbrief im Ohr, die uns neu zum Buchstabieren aufgegeben sind: „So laßt uns nun hinausgehen aus dem Lager - zu IHM - und SEINE Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir.” Die Liebe, die das Leiden nicht scheut, lebt von der Hoffnung: von der Hoffnung auf IHN, der mit uns gehen will - auch heute. Auch dort, wo wir in Seinem Licht die Konturen des Saddam Hussein oder des George W. Bush in uns selbst erkennen.

Linie

Anmerkungen:

 1:  Geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags anläßlich der Tagung des Berneuchener Dienstesvom 5. bis zum 8. September 2002 im Kloster Kirchberg
 2:  Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; /
Das Unzulängliche, / Hier wird's Ereignis;'/
Das Unbeschreibliche, / Hier ist's getan; /
Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.
 3:  Vgl. K.Rahner: Frömmigkeit früher und heute (in: Schriften zur TheoIogie VII, 11-31; Zitat S.22)
 4:  L. Dupré: The Deeper Life. An Introduction to Christian Mysticism (New York 1981); deutsch unter dem Titel „Ein tieferes Leben. Die mystische Erfahrung des Glaubens” (Freiburg 2003) S.19. Den Grundgedanken dieser neun Vorlesungen, die L.D. vor dem Konvent der Brüder von Gethsemani (Kentucky/USA) gehalten hat, folge ich weitestgehend.
 5:  Die innere Beziehung zwischen beiden Erfahrungsweisen besingt Novalis in seinen Geistlichen Liedern; vgl.dort die „Hymne” (VII).
 6:  Die frühe Mystik umschreibt diesen Widerfahrnischarakter mit der Formel des Pseudo-Dionysios als „pati divina” (die göttlichen Dinge erleiden). Vgl.Otger Steggink, Art. Mystik (in: Prakt. Lexikon d. Spiritualität, Freiburg 1992)
 7:  Ev. Gesangbuch Nr. 473 (Strophe 3), vielleicht in Anlehnung an das Gedicht eines unbekannten Minnesängers „Du bist min, ich bin din ...” bzw. an die alte, zugleich auch rechtlich bindende Versprechensformel.
 8:  Vgl.Angelus Silesius: „Gott ist so über alls, daß man nicht sprechen kann, drum betest du ihn auch mit Schweigen besser an.”
 9:  Dupré, aaO, S. 24
10:  Augustinus: Alleingespräche, II.7
11:  Dupré, aaO, S. 28
12:  Ev.Gesgb. Nr.16 (Str.4 und 5)
13:  Jan van Ruusbroec: Die Zierde der geistlichen Hochzeit (Einsiedeln 1997), S.158
14:  Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Werke Bd.2 (München 1978) , S.749. Vgl. dazu auch das Sonett „Maß der Liebe” von M.L. Kaschnitz, in: Ges. Werke (Frankfurt 1981-1989) Bd.5 S.104 (abgedruckt auch im Ev.Gesgb. für Württemberg S.1071 bzw. für Bayern u.Thüringen S.1000).
15:  Dupré, aaO, S. 62
16:  K. Spiecker: Salzkörner (Würzburg 1980)
17:  Caterina von Siena: Gespräch von Gottes Vorsehung (Einsiedeln, 4. Aufl.1993), S.77
18:  Dupré, aaO, S. 85
19:  Meister Eckhart - Predigten und Schriften. Ausgewählt und eingeleitet von F.Heer (Frankfurt/Hamburg 1956, Fischer-Bücherei Nr. 124), Zitat S. 16
20:  D. Bonhoeffer: Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943 (in: Widerstand und Ergebung, 9. Aufl. 1959, S. 27)

Quatember 2003, S. 161-176

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-10-29
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