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von Wilhelm Thomas |
Alle Geschöpfe kehren in der Stille des Winters zu sich selbst zurück. Baum und Strauch ziehen ihr Leben aus den Organen, die sie in die Weite des Raumes hinausgestreckt, das Kraut verdorrt bis auf den Wurzelstock in der Erde, das Getier fällt in Winterschlaf. Es sieht aus wie ein großes Sterben. In Wirklichkeit kommt das Leben zu sich selbst, gewinnt Zeit, sich zu bereiten, daß es im neuen Jahr mit frischen Kräften in die Weite und in die Höhe dringe. Eine wunderbare Ordnung sorgt dafür, daß Schnee und Eis die Verborgenheit dieses neuen Anfangs wahren, Sturm und Frost und Sternenlicht abwehren, daß Erde ganz Erde sei, nur sich selbst lebend, den Ursprung ihres Lebens erneuend. Auch der Mensch steht drinnen in dieser Wendung zu den Wurzeln seines Daseins; auch der Mensch unserer Tage. Er möchte stille werden, vor den Stürmen des Novembers geborgen unter seinem Dach, an seinem Herd. Er möchte zu sich selbst kommen. Aber es fällt ihm nicht zu. Er steht ja in der Arbeit, in der Arbeit an der Maschine, die keinen Winter und Sommer kennt, in der geistigen Arbeit, die die winterliche Stille zu doppelter Fron und Betriebsamkeit mißbraucht. Er droht herauszufallen aus dem Winterschicksal der Welt. Und doch ist es gerade er, und er allein, an dem dieses Winterschicksal sich vollenden soll. Der nicht nur Ruhe haben soll, in wohligem Dahindämmern und Träumen. Dem eine neue Wachheit das zum Ziel führen soll, was in der Welt um ihn her begonnen und geahnt ist. Ein Doppeltes soll ihm widerfahren: die Winternacht soll ihm zur Weihe-Nacht werden, das Geheimnis der Erneuerung, von den andern nur dumpf gelebt, soll er schauen und hören dürfen. Und wie ihm Winter und Sommer das Nebeneinander verloren haben, also daß das Werk für ihn nicht abreißt durchs ganze Jahr: so soll winterliche Einkehr für ihn nicht mehr gebunden sein an die Stunde der Winternacht, sondern Wirklichkeit werden im ganzen Jahr und all sein Handeln durchdringen. Freilich: Zu-sich-selbst-kommen kann man das, was dem Menschen zur Aufgabe gesetzt ist, nicht mehr nennen. Das Sich-Verlieren an die Dinge, das hört auf. Aber wenn er es vertauschte damit, daß er sich nun um sich selbst drehte, an sich selbst dächte, sich selbst leben wollte - das wäre nicht die Einkehr, die ihm ziemte. Bei Tier und Pflanze mag das Leben in sich selbst zurücksinken. Menschliches Leben, geistiges Leben kommt nur zur Ruhe, wo es dem Gegenüber standhält; wo es einsinkt in Tiefen, die sich vor ihm auftun; wo es sich öffnet den Dingen, die in seine Tiefen sinken wollen. Versenkung heißt das Wort, das beides umspannt. Da kommst du heim, wo du dich versenkst, wo der Krampf deines Willens sich löst und du versinkst in die Wunder und Geheimnisse, die in Wort und Zeichen zur rechten Stunde dir begegnen. Und da kommst du heim, wo die Worte und Zeichen selbst sich - von selbst - in dich versenken, wo du ihnen erlaubst, „vom Herzen gelernt zu werden”, ohne dein Zutun, durch ihre eigene Macht, durch tagtägliche Begegnung. Hier mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht, wenn die Lichter und der Lärm des „Draußen” abgeblendet sind, in der tiefsten Nacht, die das Jahr kennt, da sollst du lernen Einkehr halten bei dem Geheimnis der Welt; da sollst du lernen dich versenken ins heilige Wort. Nicht immer ist solch offenbarendes Wort erklungen. Es gab eine Zeit, da war Winternacht nichts andres als Träumen und Schlafen und vielleicht eine dunkle Ahnung, daß die verborgenen Tiefen der Welt sich einmal auftun könnten. Bis die Zeit erfüllet war, bis jene Dinge geschahen, nach denen wir nun die Jahre irdischer Geschichte zählen. Bis Christus geboren ward. und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe... Einer, der es unserm Volk zu künden berufen war wie kein Zweiter, hat es mit kurzen Worten gesagt: „Das Evangelium ist so klar, daß nicht viel Auslegens bedarf, sondern es will nur wohl betracht, angesehen und tief zu Herzen genommen sein. Und wird niemand mehr Nutz davon bringen, denn die ihr Herz still halten, alle Ding ausschlagen und mit Fleiß dreinsehen; gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gar eben sich sehen lasset und kräftig wärmet, die im rauschenden, laufenden Wasser nicht also gesehen werden mag, auch nicht also wärmen kann. Drum, willtu hie auch erleucht und warm werden, göttlich Gnade und Wunder sehen, daß dein Herz entbrannt, erleucht, andächtig und fröhlich werde, so geh hin, da du stille seiest, und das Bilde dir tief ins Herz fassest, da wirstu finden Wunder über Wunder.” So ward aus der Winternacht die Weihe-Nacht. Seit das „Wort” Fleisch ward, hat der Winter seine Erfüllung, sein Fest gefunden; hat die Seele des Menschen das Geschenk, Wunder zu schauen, wenn sie sich versenkt in die Worte und Zeichen, deren die Welt voll ist, und deren Inhalt lautet: Immanuel, Gott mit uns, Gott-Mensch. Nicht „Auslegens” bedarf diese Botschaft, aber wohl daß du lernst, dich versenken. Du bleibst der im Werk Lebende, der nach außen Gewendete, der ungesättigt Gierende - du magst die Botschaft in dein Denken übernehmen oder nicht. Wenn's anders werden soll, dann mußt du Weihnacht feiern. Wie machst du es? Du willst Geschenke vorbereiten und Feierstunden, und willst Grüße austauschen, und willst Lieder lernen. Ich glaube: das alles wirst du tun, wenn du Einkehr gehalten hast und dich versenkt hast und „dein Herz entbrannt ist” und „erleuchtet”, wie das Wort, das wir hörten, sagt. Aber kehre es nicht um! Das Weihnachtslicht leuchtet im Dunkel auf. Zuerst kommt die Stille, die Abgeschiedenheit, das Lauschen, und dann das Fest. Zur Stille aber laß dich führen durch die Worte und Zeichen, die uns geschenkt sind. Schau in das Licht der Kerze, schau den Baum mit Blüten und Früchten, schau in der Krippe das Kind! Tu es noch einmal, tu es immer von neuem. Und höre das Wort, höre hinein ins Bibelbuch, da dies Wort erklingt, höre hinein immer von neuem. Dann werden dir die Augen aufgehen, und du wirst allenthalben, wie es insonderheit vom Weihnachtsevangelium gesagt ist, Bilder vor dir stehen haben, die dich nicht wieder loslassen, weil in ihnen und hinter ihnen das Leben selbst dir offenbar wird. Nicht Gedanken wirst du dir dann noch machen, sondern sehen, was da ist. Nicht mehr fragen wirst du, sondern dich fragen lassen, selbst ganz Auge und Ohr. Und ich glaube, du wirst mit der Frage zugleich die Antwort empfangen. Sieh, und nun will sich beides in deinem Leben verbinden: die Kraft deines Willens, sich selbst zum Schweigen zu bringen in seltenen Stunden, bis Worte und Zeichen laut und vernehmlich zu reden beginnen, und die Kraft der Bilder und Klänge, in dir heimisch zu werden, wenn sie nur immer und immer „wieder geholt” werden. Du versenkst dich in sie, so versinken sie fester und fester in dich. Sie bringen dich heim zum Ursprung der Dinge. Und so schließt sich der Ring. Festliche Stunden, große Stunden der Stille, sie stehen nicht mehr fremd in deinem Leben; der Alltag fängt das auf, was sie gegeben, und läßt es so erst dein eigen werden. Wie der Winter den Bäumen und Kräutern dient, daß in ihnen keime, was den Sommer fülle, so kannst du Weihnachten feiern, und sein Glanz geht übers Jahr hin; kannst Tag für Tag von innen her leben, weil dein Herz schöpft aus heimlichen Quellen. Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 11-14 |
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