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Seelsorge
von Wilhelm Stählin

LeerWenn unsere Kirche sich in den Wochen nach dem Tag Johannis des Täufers als die Kirche der Heiligung und in den Wochen nach dem Tag des Märtyrers Laurentius als die Kirche der Liebe bekennt, dann laufen in dem Gedanken der Seelsorge gleichsam die beiden Linien zusammen. Denn Seelsorge ist nichts anderes als der Dienst der Liebe, den wir einander zu unserer Heiligung leisten.

LeerDas Verlangen nach Seelsorge unter uns ist groß; fast so groß wie die Not der Seelen, die Verwirrung und Ratlosigkeit der Herzen. Wir ahnen ja kaum, wie viele Menschen in seelischer Bedrängnis sind; oder doch wir ahnen es, bei wie vielen sich hinter der Maske äußerer Sicherheit, hinter einer nach außen gerichteten Aktivität, hinter der Starrheit und Anmaßung christlicher „Überzeugung” innere Hilflosigkeit, Verkrampfung und unüberwundene Lebenskonflikte verbergen. Es ist oft nur eine ganz dünne Hülle; ein geringfügiger Anlaß, ein in die Tiefe durchstoßendes Wort kann die dünne Hülle zerreißen und der Notschrei eines geängsteten oder verwirrten Herzens bricht hemmungslos hervor.

LeerWir meinen nicht mehr, der Mensch müsse unbedingt „allein mit sich fertig werden”, er dürfe niemanden hineinsehen lassen in seine Schwächen und die ungelösten Fragen, seine unüberwundenen Anfechtungen. Wir fangen an einzusehen, daß dieses Ideal der Selbständigkeit die meisten Menschen auch unter uns in peinlichster Weise überfordert, ja daß es ein Götzendienst menschlicher Eitelkeit ist, der manchem das Leben kostet. Vor einigen Jahren hat die Frankfurter Zeitung einen Aufsatz gebracht, der hernach berühmt geworden ist. Darin waren für Menschen unserer Tage „Stuben des Vertrauens” gefordert. Das Verlangen ist groß, sich irgendwo aussprechen zu können, irgendwo Rat und Weisung zu empfangen, um Klarheit und Ordnung in die verwirrte Seele zu gewinnen. Es gehört zu den stärksten Eindrücken der letzten Jahre, wie leicht dieses Bollwerk scheinbarer Sicherheit zu erschüttern ist, wie gerne es kapituliert und wie gerne ein Mensch sich Weisung und Führung gefallen läßt, wenn sie ihm in richtiger Form geboten wird.

LeerAber freilich, finden diese Menschen Rat und Hilfe in unserer Kirche? Es ist kein Zweifel: die wenigsten dieser nach seelischer Führung ausschauenden Menschen finden den Weg zum Pfarrer. Und wenn sie diesen Weg gehen, finden sie dort oft gerade das nicht, was sie suchen und brauchen. Gewiß, es wäre undankbar zu vergessen, wie viel Eifer und Treue an die Arbeit der Seelsorge gewendet wird und wie viel Segen von einzelnen begnadeten „Seelsorgern” ausgeht; aber auf's Ganze gesehen kommt diese Seelsorge der Kirche nur an einen sehr kleinen Teil der Menschen heran und die meisten, die der Seelsorge dringend bedürfen und die Seelsorge schmerzlich entbehren, suchen Rat und Hilfe an anderem Ort.

LeerEs gibt Wohlfahrtsbeamte, vielleicht noch mehr Wohlfahrtspflegerinnen und Fürsorgerinnen, deren Amtsstube zu einer solchen Stube des Vertrauens geworden ist; es gibt Lehrer, die die Vertrauten und Berater für die Eltern ihrer Kinder, ja für ganze Gemeinden sind; vor allem ist nach einem oft zitierten Wort das Sprechzimmer des Nervenarztes die Beichtkammer des heutigen Menschen. Wir wollen das gewiß nicht bedauern, daß es diese außerkirchliche, zum Teil gänzlich „profane” Seelsorge gibt. Wir möchten wirklich gänzlich frei sein von jenem Anspruch der Kirche, die von „ihren” Seelen redet und eifersüchtig auf ihr Recht an diesen Seelen pocht; es ist selbstverständlich, daß wir als Diener der Kirche Gott nicht vorschreiben können, welcher menschlichen Werkzeuge er sich bedienen solle, um armen bedrängten Herzen zu helfen, und daß wir darum einem jeden gänzlich die Freiheit geben, Rat und Hilfe da zu suchen, wo er Vertrauen fassen kann und Klarheit, Weisung und Kraft findet.

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LeerAber dennoch können wir uns dabei nicht beruhigen. Wir sehen diesen Mangel an wirklicher Seelenführung als ein schweres Versäumnis unserer Kirche. Es hilft uns freilich nicht viel und es ist doch notwendig, daß wir diesen Mangel aus der ganzen Geschichte des Protestantismus begreifen (1), aber vor allem möchten wir, so viel an uns liegt, dazu tun, daß dieser Mangel überwunden werde und daß die Kräfte des Evangeliums in den Dienst wirklicher Seelsorge gestellt werden. Denn unser Glaube an das Evangelium wäre ja eitel, wenn hier nicht auch die eigentlichen und entscheidenden Kräfte für die Ordnung, Reinigung und Heiligung der Seelen lägen. Und daß wir diesen Dienst einander erschließen, ist vielleicht das Wichtigste, was wir als Glieder an dem Leibe Christi einander schuldig sind.

LeerGrundsätzlich können diesen Dienst alle Glieder der christlichen Gemeinde einander erweisen. Als Beichtender, als Ratsuchender komme ich zu dem erfahrenen christlichen Bruder, nicht zu dem Träger eines Amtes. Ich suche einen Christen, nicht den Pfarrer als solchen. Das ist unzweifelhaft richtig. Aber ich suche doch auch wieder nicht den einzelnen Menschen, seine Güte oder seine geistliche Erfahrung, sondern ich frage nach der Botschaft der Kirche und in diesem Sinne suche ich doch den Diener der Kirche, der ein Amt und einen Auftrag hat. Und es kann eine entscheidende Hilfe bedeuten, wenn ich Seelsorge suchen darf an einem Ort, der nicht der Ort menschlich gesellschaftlicher Begegnung ist, und bei einem Menschen, der mir durch Gewand und Haltung als der beauftragte Diener meiner Kirche gegenübersteht.

LeerHaben wir nicht im Protestantismus ans lauter Angst vor Priesterherrschaft und priesterlicher Seelenknechtung die Seelsorge allzusehr auf die menschliche Vertrauenswürdigkeit des anderen gestellt und sie damit in bedenklicher Weise von den Zufälligkeiten - und Enttäuschungen - solcher menschlichen Begegnungen abhängig gemacht? Wir werden wieder neu lernen müssen, objektive kirchliche Formen der Seelsorge und der persönlichen Beichte zu finden; kirchliche Räume, die in ihrer Weise etwas von der Sachlichkeit des ärztlichen Sprechzimmers statt des familiären Behagens der pfarramtlichen Amtsstube haben, auch liturgische Formen seelsorgerlicher Beratung, die aller allzu persönlichen Vertraulichkeit wehren und den Abstand wahren, in dem allein eine Seele zu ihrer Freiheit befreit werden kann.

LeerWer Seelsorge sucht, muß vor allem anderen den Willen zu vollkommener Ehrlichkeit haben. Nichts bedroht unsere Seele in gefährlicherer Weise als all der Schein und Trug, mit dem wir andere und uns selbst über unseren inneren Zustand, über die eigentlichen Nöte unserer Seele belügen. Freilich sind wir oft bei allem subjektiven guten Willen nicht imstande, klar zu sehen, und es bedarf oft der Hilfe eines anderen gerade dazu, daß wir uns selbst erkennen und die inneren Zusammenhänge unserer Schwierigkeiten durchschauen. Immer muß also zunächst und vor allem dieses beides zusammenkommen: ein Seelsorger, an dessen unbestechlicher Ehrlichkeit, an dessen seelischem Scharfblick und an dessen unermüdlicher Geduld die trügerischen Verhüllungen unserer Seele zuschanden werden und der darum unseren Schaden aufdecken kann, und unser eigener ehrlicher Wille, uns aufdecken zu lassen. Beides, der Wille aufzudecken und die Bereitschaft, sich aufdecken zu lassen, ist freilich nur dann heilsam, wenn es dem ehrlichen Willen zu helfen und sich wirklich helfen zu lassen entspringt.

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LeerEs gibt Leute - jeder Pfarrer kennt aus seinen seelsorgerlichen Sprechstunden diese Art -, die unheimlich bereit sind, von ihren Fehlern und Nöten zu sprechen, sich „analysieren” zu lassen und denen es eine heimliche Befriedigung zu bereiten scheint, sich gänzlich zu entblößen, und die bei alledem gar nicht wirklich Hilfe suchen, gar nicht wirklich frei werden wollen. Es scheint mir von tiefer Bedeutung, daß Jesus (Luk. 18, 41) den Blinden am Wege scheinbar grausam fragt: Was willst du, daß ich dir tun soll? Er fragt ihn aber deswegen, weil es keineswegs selbstverständlich ist, daß der Kranke gesund werden will. Diese Frage muß darum jeder wirkliche Seelsorger, sei es mit Worten, sei es durch seine ganze Haltung, seinem Hilfe suchenden Mitchristen ins Gewissen schreiben. Nur wer wirklich will, daß etwas an ihm geschehe, nämlich daß wirklich die entscheidende Hilfe, die entscheidende Wandlung über ihn komme, nur wer bereit ist, sich dieser Hilfe völlig zu erschließen und die Wandlung an sich geschehen zu lassen, nur an dem kann Seelsorge geschehen, sonst ist alles Gerede über die seelischen Nöte eitles Geschwätz und heimliche Selbstbefriedigung des alten Menschen.

LeerEs gibt zwei Gründe, die viele Menschen lieber in das Sprechzimmer des Arztes oder andere profane Stuben des Vertrauens als zum Pfarrer gehen lassen. Da ist einmal die Angst vor der Moralpredigt. Sicherlich kann es in mancher Lage eine unschätzbare Hilfe bedeuten, wenn der Seelsorger mit unbestechlichem und unbeirrbarem Urteil sagt: du hast Unrecht getan; da und da liegt deine Schuld. Wenn wir wirklich Seelsorge begehren, dann suchen wir ja doch nicht den freundlichen Menschen, der alles entschuldigt und der uns einredet, es sei nicht so schlimm, während wir doch gerade wissen, wie schlimm es ist; sondern wir suchen Klarheit, auch Klarheit des sittlichen Urteils, an das wir uns halten können. Aber wenn das sittliche Urteil zur Moralpredigt wird, ist es doch verkehrt. Denn zumeist ist ja das unsere Not, daß wir nicht können, wie wir möchten, und wir suchen ja gerade einen Weg der Hilfe, wir suchen nach der Kraft, die wir in uns selbst nicht finden.

LeerUnd das ist das andere: die seelsorgerliche Hilfe kann uns nur der leisten, der um die innere Ordnung des Lebens wirklich weiß und der ganz reale Wege der Hilfe zeigen kann. Viele Menschen aber haben - und gewiß oft mit Recht - den Eindruck, daß andere Leute, manche Ärzte zum Beispiel, von diesen Wegen der Seele einfach mehr wissen und verstehen als die meisten Theologen. Die einseitige Betonung der Lehre hat in unserer Kirche sehr vielfach dazu geführt, daß der Einblick in seelische Ordnungen, die Erfahrung geistlicher Führung und die Geheimnisse geistlicher Übung verachtet oder gar verloren gegangen sind. Gerade hier warten ungeheure Entdeckungen oder vielmehr Wiederentdeckungen auf uns. Hier kann nur einiges wenige angedeutet werden.

LeerAllzu leicht sind wir geneigt, all die großen Erfahrungen, von denen die Sprache der Bibel und der Kirche redet, wie Berufung, Erleuchtung, Wiedergeburt, Vereinigung mit Christus auf einer Ebene zu sehen; und es handelt sich doch um einen Weg, den Weg der Heiligung, auf dem der Geist Gottes einen Menschen führen kann und will. Dieser Weg hat seine inneren Ordnungen, und wer den zweiten oder dritten Schritt vor dem ersten tun will, wird überhaupt nicht vorwärtskommen auf diesem Weg. Es hat alles seine Zeit, und man muß ans einem eindringenden Wissen um den Sinn der einzelnen Altersstufen und um die Stufenordnung geistlichen Fortschreitens spüren, was dem einzelnen Menschen gerade an diesem Punkt seines Lebens zu sagen und zu raten ist. Die Predigt als Gemeinderede wird sich immer in einer gewissen Allgemeinheit bewegen müssen. In der Seelsorge aber wird das Brot ausgeteilt, einem jeden bereitet und gebrochen, so wie er es bedarf.

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LeerFür manche Menschen, für sehr viele vielleicht, wird es besonderer Tage und Zeiten bedürfen, um einmal die Seele wirklich zu eröffnen, die Krusten scheinbarer Sicherheit zu durchstoßen und all die trügerischen Sicherungen zu zerschlagen. Man muß einen Menschen in die Stille führen und muß ihm die Möglichkeit solcher Stille gewähren, in der das innere Ohr erst aufgetan wird für die heilsame Stimme der Wahrheit. Vor allem wollen unsere Freizeiten solche Wochen der Besinnung sein, indem eben nicht nur in Ansprachen richtige Gedanken der Überlegung dargeboten werden, sondern wo der Mensch durch leibhafte Ordnung, durch die Stunden vollkommener Stille und die Erfahrung kultischen Geschehens ausgerichtet werden und wirkliche Wandlungen an sich erleben kann. Auch die Meditation ist nur ein Versuch, durch diese Oberflächenschicht bewußten Denkens hindurchzustoßen und in dem bildhaften Erleben eines dem Traum ähnlichen anderen Bewußtseins dem Menschen wirkliche Erkenntnisse seiner selbst zu erschließen und seine Seele für die Wirkung heilsamer Mächte zu öffnen.

LeerEins aber darf auch in diesen kurzen Andeutungen nicht fehlen. Die Seelsorge, derer wir bedürfen, führt uns in die Einsamkeit, wo wir nicht nur dem lauten Getriebe, sondern auch der vielfältigen Abhängigkeit von Menschen entnommen sind, um endlich einmal „zu uns selber zu kommen” oder, was dasselbe ist, stille zu halten der gnädigen Heimsuchung Gottes. Aber zugleich läßt uns die Seelsorge nicht in dieser Einsamkeit, sondern sie fügt uns ein in den Zusammenhang des lebendigen Geschehens, das von Christus her kommt. Sie gibt uns Anteil an dem Leben der Kirche und fügt uns ein in den Organismus des Leibes Christi. Darum gibt es wirkliche seelsorgerliche Hilfe nur da, wo es - sei es auch im kleinsten Kreis - christliche Gemeinde gibt, die den einzelnen an sich verzweifelnden und in seiner Einsamkeit überlasteten Menschen umfängt wie eine tröstliche und zugleich verpflichtende Heimat.

LeerAuch deswegen bleibt die Seelsorge, die sich nur zwischen zwei Menschen abspielt, so oft unfruchtbar, weil sie den Menschen doch wieder in seine Einsamkeit entläßt. Und umgekehrt haben wir auf Freizeiten nicht selten eine Erfahrung gemacht, die an das innerste Geheimnis der Seelsorge rührt. Da kamen Menschen mit quälenden Fragen und lastenden Nöten, hoffend, sie würden dort Gelegenheit zu persönlicher Aussprache und Beratung finden; aber einfach die kultische Ordnung dieser Tage, das erstaunliche und beglückende Erlebnis der Kirche brachte die entscheidende Wendung. Klarheit um Klarheit leuchtete über ihnen auf; und nicht nur über ihrem Denken, sondern sie selbst fühlten sich ergriffen und an ihren Ort gestellt, nicht nur unter das Urteil Gottes, sondern zugleich in die Gemeinde sündhafter Menschen, denen das Brot des Lebens gebrochen und der heilsame Kelch gereicht wird. Und nun bedurften sie gar nicht mehr der persönlichen Aussprache; sondern weil sie nun Anschluß an die letzten Quellen des Trostes, der Kraft und der Hilfe gewonnen hatten, war ihnen, auch ohne daß sie ein Wort über ihre Nöte geredet hatten, das Schicksal des Kämmerers widerfahren, von dem es heißt (A.G. 8,39): Er zog seine Straße fröhlich.

Anm. 1: Ich habe darüber in einem Aufsatz über „Menschenführung als Aufgabe der Kirche” ausführlich geschrieben, der in einem längst fälligen Heft des „Leuchter” bei Reichl in Darmstadt erscheinen soll. [erschienen 1950 im Johannes Stauda Verlag]

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 107-112

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-19
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