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von Karl Bernhard Ritter |
Es ist wohl nur als eine Art naturhafter Selbstschutz zu verstehen, daß die Mehrzahl der gegenwärtig Lebenden sich den erschütternden Erfahrungen verschließt, die der europäischen und nicht nur der europäischen Menschheit durch das Leiden des russischen Volkes erworben werden. Denn was seit der kommunistischen Revolution in Rußland geschieht, ist keineswegs eine bloß russische Angelegenheit - und das nicht nur deshalb, weil von Rußland eine internationale Propaganda des Bolschewismus ausgeht! Vielmehr wird dort stellvertretend für uns alle eine notwendige Erfahrung der Wahrheit durchlitten. Im Osten ist ein Zeichen aufgerichtet, das die Christenheit erkennen soll. Das „christliche” Europa versteht freilich bisher den Sinn dessen schlecht, was im Bolschewismus geschieht. Ökonomische Interessen, „bourgeoise” Angst oder aber eine instinktlose Bewunderung des „kühnen Experimentes”, das die russischen Machthaber versuchen, lassen ein Eindringen in die geistigen Hintergründe der russischen Revolution nicht zu. Der Bolschewismus ist aber in erster Linie kein politisches oder ökonomisches Experiment, sondern eine geistige Erscheinung. Mit unerhörtem Radikalismus ist in Rußland die Frage nach dem sozialen Neubau der Menschheit gestellt worden. Diese Frage ist aber die Frage unserer Zeit. Und Rußland gibt die Antwort, die allein übrig bleibt, wenn die christliche Antwort auf diese Frage nicht gegeben wird. Der russische Bolschewismus zieht die unvermeidlichen Konsequenzen aus der Entchristlichung Europas. Oder anders ausgedrückt: die christliche Wahrheit ist in Europa nur „bekannt” und nicht verwirklicht worden. Das führt notwendig zur Katastrophe. Denn wenn die „Guten” versagen, unternehmen es die „Bösen”, die Wahrheit zu verwirklichen. „In Freiheit und Liebe wollte man die Wahrheit nicht verwirklichen, nun verwirklicht sie sich in Haß und Zwang. Zwang ist eine Strafe für die Freiheit, die die Wahrheit nicht hervorgebracht hatte, Haß eine Strafe für die Liebe, die tot und rhetorisch geblieben war... Die innere Struktur des Seins ist so, daß es einfach nicht geht, die Wahrheit nicht zu verwirklichen, seine Freiheit nicht zum Wohle anderer zu nutzen, die Liebe nicht im Leben zu betätigen. Die Apokalyptik wohnt dem Leben inne, das furchtbare Gericht ist unvermeidlich.” Der Kampf mit dem Bolschewismus ist allein auf der Ebene echter religiöser Besinnung mit Aussicht auf Erfolg, mit Aussicht auf eine wirkliche Begegnung mit den treibenden, geistigen Kräften des Bolschewismus aufzunehmen. „Das Problem des ‚täglichen Brotes’ hat eine religiöse Tiefe und fordert eine christliche Lösung. Nur im Lichte einer religiösen Besinnung kann man den Sinn der in der Welt sich vollziehenden Katastrophen verstehen. Die alte Welt geht zu Ende und sie mit alten Mitteln zu heilen ist unmöglich.” Berdjajew steht das eigentliche Kennzeichen des Bolschewismus darin, daß er sowohl Gott als den Menschen völlig verneint (was zusammengehört, weil der Mensch nur dann ist, wenn Gott ist; wenn Gott nicht ist, ist auch der Mensch nicht!) und an Stelle Gottes und des Menschen eine noch nicht dagewesene Realität setzt: - das soziale Kollektiv. „Im sozialen Kollektiv hat sowohl Gott als der Mensch zu verschwinden, es ist eine neue Gottheit, ein furchtbarer Leviathan, dem alles zum Opfer gebracht werden muß... Es ist das einzige sittliche Subjekt, es fällt die sittlichen Urteile.” Jene, die noch ein persönliches Gewissen behalten, sind zurückgebliebene Leute, in ihnen geschah nicht die Wiedergeburt im Bewußtsein des Kollektivs. Das neue soziale Kollektiv ist so eine furchtbare Karikatur der Kirche. Und deshalb gibt es nur ein Heilmittel gegen den Irrwahn des Kollektivs, das ist die Wahrheit und Wirklichkeit der Kirche. Eine religiöse Front gegen den Kommunismus ist notwendig, aber keine bürgerliche Front. Denn die bürgerlich- kapitalistische Welt hat die Gemeinschaft zerstört. Der Kommunismus zieht aus dieser Zerstörung nur die Konsequenz. Die christliche Gemeinschaft aber ist die Heilung einer Welt, die die Gemeinschaft verloren hat. In einer unerbittlichen Analyse wird aber eine alte Welt entschleiert, die Wahrheiten verteidigt und im Machtkampf gebraucht, an die sie selber nicht mehr glaubt. Dieser reaktionäre Illusionismus muß zur furchtbaren sozialen Sprengkraft werden, wenn er sich in der Form der Antithese auf revolutionäre Massenbewegungen überträgt. „Nur weil das Ewige aus der Zeit schwindet und dieser Schwund das Leben entwirklicht, wird Revolution zur Wirklichkeit. Ihre Verwirklichung bedeutet somit eine wahrhaft tragische Rückkehr des Scheins zum Sein. Die illusionäre Identität von Schein und Wahrheit wird in ihr aufgehoben zugunsten der realen Identität von Sein und Sünde.” Darum kommt nun alles darauf an, in einem nachrevolutionären Gestaltungswillen nicht wieder einem neuen Illusionismus zu verfallen. „Der Geist der Echtheit ist vielleicht die für unsere Zeit wesentlichste Form der Religiosität... Nur, weil alle vorrevolutionären Haltungen und Gehalte, auf ihre letzte geistige Realität hin geprüft, gar nicht das waren, was zu sein sie wähnten und vorgaben, ist es zu den furchtbaren Erschütterungen der bolschewistischen Schreckensherrschaft gekommen. Wesens- und lebensgemäß gehören ja Gott, Vaterland, Obrigkeit, Wissenschaft, Menschheit und Volk direkt und unmittelbar zueinander. Sie revoltieren gegeneinander nur dann, wenn sie nicht mehr als einander dienende, in der Gegenständlichkeit des Geistes miteinander frei verbundene Momente gelebt werden, sondern als geistentleerte, gegenstandsblinde, illusionistisch sich selbst überhöhende und befehdende Kräfte.” Es bedarf wohl keines Nachweises, wie aktuell diese „russischen” Erkenntnisse für uns Deutsche im gegenwärtigen Augenblicke unserer Geschichte sind! Noch einige Sätze Fedor Stepuns, die uns besonders aufhorchen lassen! „Es ist klar und soll nicht geleugnet werden: in unserer formlosen Zeit fühlen wir uns mehr denn je von der kultischen Formwelt der Kirche angezogen.... Die Schönheit der Kirche ist eine der felsenfestesten Realitäten des Christentums. Bedenklich-illusionistische Romantik wird aus all dem nur, wenn das Christentum halb bewußt, halb unbewußt zu einer letzten Behausung gemacht wird für die niederwelkende Schönheit für immer entschwundener Zeiten” - „Alle grundsätzliche, in einigen Strömungen des modernen Protestantismus sogar feindselige Verneinung jenes weltfernen Stehens vor Gott, des weltvergessenen Umgangs mit Ihm in Schau und Gebet ist, so sonderbar das klingen mag, im Hinblick auf die Not der Gegenwart untragbar...” Die Christenheit ist in unsern Tagen unerbittlich vor die Frage nach der Wirklichkeit und Macht ihres Lebens gestellt. Eine Verantwortung wird sichtbar, der sie nie und nimmer in selbstgewisser oder selbstgenügsamer Abschließung ihrer Teile, in enger Bemühung um Erhaltung eines vermeintlichen Bestandes „noch” vorhandener Kirchlichkeit und Frömmigkeit, in „Bewahrung” konfessioneller Sondertraditionen und Verewigung gegenstandslos gewordener theologischer Kampfstellungen gerecht werden wird, sondern nur zu kühner, radikaler Neubegründung und Einheitwerdung aus den göttlichen Wurzelkräften ihres Daseins. Wir sollen mit offenen Ohren hören, was uns heute in der Apokalypse dieser Zeit gesagt wird, und gehorchen. Aber ob wir nicht auch erst in den Feuerofen geworfen werden müssen, ehe wir dazu bereit sind, wir deutschen Protestanten? Anm. 1: Orient und Occident. Heft 9. Verlag der J. C- Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig. Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 153-157 |
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