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Wiedersehen nach dem Tode?
von Wilhelm Stählin

LeerDem Stadtschreiber Johannes von Saaz war im Jahr 1400 seine geliebte Frau durch einen plötzlichen Tod hinweggerafft worden. Was sein wahrhaft zu Tod getroffenes Herz an leidenschaftlichem Schmerz durchschnitt, das sprach er aus, nein das schrie er hinaus in seinem Streitgespräch „Der Ackersmann und der Tod”. Vielleicht gibt es in der ganzen deutschen Literatur keine ergreifendere Todesklage: Ihm dem Tod, seinem Feind, dem schlimmen Räuber, will er gehässig, feindselig und widerwärtig bleiben für immer, und mit aller Kraft der Seele will er ihn verfluchen vor Menschen und vor Gott. Es ist nicht der natürliche Lebenswille, der sich gegen das Sterben-müssen aufbäumt, nicht das Grauen vor dem eignen Tode, das in dieser leidenschaftlichsten Anklage gegen den Tod aufsteht, sondern der fassungslose und untröstliche Schmerz um den Tod des geliebtesten Menschen. Die Liebe empört sich gegen den Tod, weil die Liebe vom Tod noch härter und grausamer getroffen und verwundet wird als der eigene Lebenswille. Nur wer einen Menschen wirklich mit ganzem Herzen geliebt hat, mehr als sich selbst, nur der, dessen Leben in solche Zweisamkeit unauflöslich verflochten wurde, nur der kann verstehen, daß die Totenklage der Liebe inniger, tiefer, leidenschaftlicher sein kann als die Auflehnung gegen das eigene Todesschicksal.

LeerAus dieser Totenklage der Liebe wird immer wieder die Frage geboren: Gibt es ein Wiedersehen nach dem Tode? Die Liebe will sich nicht damit abfinden, daß der Tod auch das zarteste und innerlichste Band ein für allemal und unwiderruflich sollte zerstören dürfen. Könnten wir uns, so fragt das liebende und trauernde Herz, ein eigenes Leben über den Tod hinaus, eine eigene Seligkeit vorstellen, könnten wir uns auf eine jenseitige Welt freuen, wenn wir in ihr nicht wieder vereinigt werden sollten mit denen, die der unerbittliche Tod auf Erden uns entrissen hat? Gewiß, alle diejenigen, die überhaupt jeden Glauben an ein Fortleben nach dem Tode abgetan haben, werden auch auf die Frage, ob wir die Unsren nach dem Tode wiedersehen werden, ein rasches und sicheres, ein hartes oder ein hoffnungsloses oder vielleicht ein beruhigtes Nein bereit haben. Aber es sind sehr viele andere, denen gerade das der eigentliche Inhalt einer Hoffnung über den Tod hinaus ist: Wir werden die Menschen, die wir lieb gehabt haben, frei von Leid und frei von Todesfurcht wiedersehen! - oder die gerade an dieser Frage immer wieder die Sehnsucht, das Heimweh nach einer verlorenen Ewigkeitshoffnung ergreift. Sollen wir, dürfen wir auf ein Wiedersehen nach dem Tode hoffen?

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LeerVor allem andern ziemt uns hier Nüchternheit und Zurückhaltung. Glaube ist etwas anderes als Neugier oder als ein Geheimwissen über die Dinge, die unsren Sinnen und unsrer Forschung verborgen sind. Ewigkeitsglaube ist etwas anderes als kühne Phantasie, die sich das Leben einer andern Welt mit Bildern und Farben ausmalt, die doch dieser irdischen Welt entnommen sind. Die Bibel ist mehr als sparsam in all dem, was sie über „das Leben nach dem Tode” verkündigt. Darum werden wir zunächst einmal sehr bedenklich sein müssen gegenüber der Selbstverständlichkeit, mit der von einem Wiedersehen nach dem Tode geredet wird. Es ist schon der Gruß, mit dem wir uns Tag aus Tag ein voneinander verabschieden, „Auf Wiedersehen”, ein Wunsch, den wir aussprechen, weil es durchaus nicht selbstverständlich ist, daß wir den Menschen wiedersehen, von dem wir uns auch nur für einen Tag ober für eine Stunde entfernen. Wie viel weniger selbstverständlich ist es, auf die Gräber der Lieben zu schreiben: „Auf Wiedersehen!”

LeerUnsre Frage ist, ob da noch der Tod als das unerbittliche und unwiderrufliche Ende unsres irdischen Lebens ganz ernst genommen wird, wenn wir so handeln. Es gibt kein Wieder. So wenig wir zu einer vergangenen Wegstrecke unsrer Lebensentwicklung zurückkehren können, so wenig wir „wieder” Kinder werden oder unsre Jugendjahre noch einmal durchleben können, so wenig können wir irgend etwas „wieder haben” oder „wieder holen”, was einmal Vergangenheit geworden ist. Der Tod ist wirklich das Ende unsres irdischen Lebens, und er macht alles, was zur Gestalt unsres irdischen Lebens gehört hat, zur Vergangenheit. Es kann nichts fortgesetzt werden „über den Tod hinaus”, was hier unser Besitz und unsre liebe Gewohnheit gewesen ist, und es kann nichts nachgeholt werden, was im Raum unsres irdischen Lebens versäumt worden ist. Jeder Unsterblichkeitsglaube, der so harmlos von einem Wiedersehen redet, als ob wir „drüben” einfach die unterbrochenen Beziehungen wieder aufnehmen und weiterpflegen könnten, hat den Tod als das unerbittliche Ende unsres irdischen Lebens nicht ernst genommen. Ist schon hier auf Erden jedes „Wieder” in Wirklichkeit ein Neues, das vorher nicht war, wieviel mehr, wenn die Grenze dieses Lebens überschritten wird!

LeerWir haben nun aber gar keine Möglichkeit, uns das Neue eines Lebens in einer anderen Welt, auf die wir warten und hoffen, irgendwie vorzustellen. Wenn wir etwas sagen dürfen, so ist es dreierlei.

LeerDer Tod bedeutet eine völlige Wendung, Wendung zu einer völlig anderen Stufe und Form des Lebens. So wenig der Stein von dem Sein der Pflanze und so wenig die Pflanze von dem Leben des Tieres und so wenig das Tier von dem Wesen des Menschen weiß, so wenig können wir uns ein solches Leben in einer ganz anderen Ordnung des Seins vorstellen oder ausmalen. Aus unsren Kinderjahren klingt uns jene Geschichte im Ohr, wo ein Weiser auf die Frage nach dem Wie des Jenseits: qualiter? taliter? (1) nur antworten kann: „totaliter aliter”, „ganz anders”. Die Auferstehung, auch die Auferstehung Christi, ist alles andre als eine Rückkehr in das irdische Leben. Es ist kein Zufall, daß die Bibel und mit ihr die christliche Kirche von diesem Übergang in ein andres Leben den selben Ausdruck gebraucht, wie von dem Übergang aus dem Schlaf in das Wachen, und damit andeutet, daß das Leben in einer andern Welt sich von dem uns bekannten Leben auf Erden zum mindesten ebenso unterscheidet, wie unser Zustand im Wachen von unserem Zustand im Schlaf.

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LeerJa, es muß daran erinnert werden, daß Jesus selbst, als er durch eine verfängliche Frage nach dem Leben in der Auferstehung in Verlegenheit gesetzt werden sollte, geantwortet hat (Matth. 22, 30): „In der Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern sie werden sein gleich wie die Engel im Himmel”. Also zwar vielleicht nicht die Verschiedenheit des Geschlechts, aber doch den Zug der Geschlechter zu einander und ihre Bindung aneinander, rechnet hier Jesus unmißverständlich zu der Gestalt des irdischen Lebens, das mit dieser Welt vergeht. Wie sehr begreifen wir das, was Matthäus über die Wirkung dieser Äußerung Jesu erzählt: „Da solches das Volk hörte, entsetzten sie sich über seine Rede.”

LeerDas andre aber, was gesagt werden darf und gesagt werden muß, ist dieses: im Leben der Ewigkeit wird alles das offenbar werden, was hier auf Erden gewesen ist. Alles was im tiefsten und innersten Grund unser Leben erfüllt und bewegt hat, soll, wie es immer schon vor dem Angesicht Gottes offenbar ist, auch vor uns selbst und vor den andern offenbar werden. Der Tod, oder vielmehr die Ewigkeit, nimmt alle Binden von unsren Augen, sie zerreißt aber auch alle Masken, mit denen wir die wahre Gestalt unsres Wesens vor uns und vor andren verhüllt haben. Wir müssen uns erkennen, wie wir im tiefsten Grund wirklich sind. Wir werden Gott schauen; und Gott schauen müssen, das ist die Hölle. Und wenn wir einander sehen, so dürfen oder müssen wir einander so sehen, wie wir im tiefsten und innersten Grund wirklich sind; und wir werden auch in unerbittlicher Klarheit durchschauen müssen, welcher Art die Beziehungen waren, in denen wir auf Erden zu unsren Mitmenschen gestanden haben. Auch hier zerreißt der Tod, oder vielmehr die Auferstehung, alle die Hüllen und Masken, mit denen wir die wahre Natur unsrer menschlichen Begegnungen verbergen und verbrämen. Einander wiedersehen - heißt das nicht vor allem erbarmungslos sehen müssen, wie fern wir einander gewesen sind, wie sehr wir uns gegen einander abgesperrt und gewehrt haben, wie viel Kälte und Feindseligkeit zwischen uns, wie viel Selbstsucht und Unlauterkeit auch in unsrer Liebe gewesen ist?

LeerDenn das ist das Letzte und Entscheidende: dieses Offenbar-werden in der Ewigkeit bedeutet ein Gericht, eine letzte Scheidung. Der christliche Glaube redet nicht von einer Ewigkeit, in der alle menschlichen Regungen und Lebensformen sich ungehemmt und unsterblich entfalten dürften, sondern wir glauben an Gott und an eine neue Welt, in der Gott alles in allem ist. Diese Ewigkeit ist das Reich Gottes, das Reich Christi und darum das Reich vollkommener Liebe. Unsre Hoffnung über den Tod hinaus ist nichts andres als die Hoffnung, daß wir Anteil gewinnen an einem Reich vollkommener Liebe. Nur die Liebe „bleibt”. Nur was aus der Liebe geboren ist, gewinnt Anteil an dem ewigen Leben Gottes. Erinnern wir uns noch einmal jener „entsetzlichen” Lehre Jesu: „Sie werden nicht freien und sich freien lassen, sondern sie werden sein, wie die Engel im Himmel.” Das heißt, sie werden in vollkommenem Gehorsam den Willen Gottes tun und mit ihrem Dasein ein Lobpreis Gottes sein. Wenn dieses Leben - so meinen wir - ein reines Spiegelbild der göttlichen Herrlichkeit sein wird, so kann es nicht sein ohne Liebe; Liebe aber gibt es nur in der Begegnung und Verbundenheit, nur wo ein Ich seinem Du gegenüber steht.

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LeerDamit ist nun zwar nicht etwas über ein Wiedersehen gesagt, wohl aber über eine Bedeutung unsrer menschlichen Beziehungen für die Ewigkeit. Wiedersehen nach dem Tod? David Friedrich Strauß hat die boshafte Bemerkung gemacht, der Durchschnittschrist freue sich viel mehr, im Jenseits seine Angehörigen zu begrüßen, als dort Gott zu sehen. Wenn er damit recht hat, ist dann diese Vorfreude wirklich eine Erwartung des Himmels? Unsre Angehörigen wiedersehen, das hieße dann doch in unverhüllter Klarheit sehen, worin wir mit ihnen verbunden waren, auf welcher Ebene wir einander begegneten, was wir im tiefsten Grund von einander und für einander gewollt haben! Auch in unsren nächsten Beziehungen sind wir nicht davor geschützt und bewahrt, daß wir an einander Ehre und Macht suchen, daß wir einander als Werkzeuge unsres selbstischen Lebenswillens mißbrauchen oder daß wir in dem Zwielicht sinnlichen Genusses an einander und mit einander bleiben. Das sehen müssen, oder gar darin verharren müssen, ist das nicht höllisches Feuer und höllische Pein? Wir wissen nicht, ob wir mit der Möglichkeit rechnen sollen, daß wir auch nach dem Tod noch weiter reisen, weiter lernen dürfen. Wenn wir das lernen dürften, lernen müßten, was wir hier versäumt haben, so würden wir vor allem Liebe lernen müssen.

LeerAnker Larsen erzählt in seinem Roman „Der Stein der Weisen” von einem Mann, der in traumhaftem Zustand sich selbst in jene andere Welt des Wesens und der Vollendung versetzt weiß; und dort begegnet er einem Kinde, einem halb blöden Kind, das ihn aus sehr triftigen Ursachen stets mit Abscheu und Widerwillen erfüllt hat und zu dem er keinerlei Liebe jemals empfinden konnte; dieses Kind kommt nun zu ihm, umfaßt seine Füße, klettert an seinen Knieen empor, bis er gelernt hat es zu lieben. Aber wir ahnen, mit wie viel mehr Pein und Qual dieses lernen „dort” verbunden ist als „hier”, wo wir leben um leben zu lernen. Mögen solche Gedanken, an den nüchternen Worten der Bibel gemessen, vielleicht Phantasie sein, darin haben sie recht, und darin stimmen sie mit der Bibel zusammen: im Himmel - im Himmel! - werden wir einander nicht ohne Liebe, nicht ohne lautere Liebe begegnen können. - Kingsley hat das schöne Wort geprägt, wir würden in der Ewigkeit so angesehen, wie uns hier auf Erden das Auge der Liebe gesehen hat. Dürfen wir dieses Wort einmal umkehren: Wir sollen einander auf Erden so ansehen, wie wir einander im Himmel - nicht in der Hölle! - ansehen werden und ansehen müssen. Im Himmel können wir einander nur sehen, so weit wir Anteil an dem Leben der Liebe gewonnen und einander schon auf Erden in der Liebe gesehen haben.

LeerEs ist ein tiefer und unaustilgbarer Glaube, daß wirkliche Liebe „stark ist wie der Tod” und mit dem leiblichen Tod nicht einfach ausgetilgt wird. Aber eben wirklich die Liebe. - Jenes Leben einer anderen Welt, von dem wir stammelnd reden, ist dann freilich etwas völlig anderes als die unendliche Fortsetzung unsres irdischen Lebens und unsrer irdischen Beziehungen. Es ist die ewige Scheidung zwischen Gott und Wider-Gott, zwischen Leben und Tod. Einander wiedersehen, das kann der Himmel sein, das kann die Hölle sein. Ob wir Anteil gewinnen an Christus und seiner Liebe, darin entscheidet es sich, ob wir vor einem solchen Wiedersehen zittern müssen oder uns darauf freuen.

Anm. 1: „Wie? So?” Das Wortspiel kann im Deutschen nicht nachgemacht werden.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 157-161

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-19
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