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Der Baum des neuen Lebens

LeerIst es nicht erstaunlich, daß unsere Zeit, die all ihr Handeln begrifflich- zweckhaft bestimmt, daß unser Volk, das so viel grübelt, in den letzten Jahrhunderten eine Sitte geschaffen haben, die sich über die ganze christliche Welt ausgebreitet hat, ohne daß wohlüberlegte, leichtzugängliche Gedanken zu ihrer Begründung vorliegen? Der Christbaum ist einfach da, und mit irgend einem Vorwand, daß die Kinder es so gerne sähen oder dergl., bemäntelt der Nüchternste seine äußere und innere Teilnahme und putzt den Baum für sein Haus.

LeerAber es hat freilich auch ungünstige Folgen, daß dem Christbaum im Bewußtsein der Tausende, die ihn putzen und anzünden, ein Wort der Deutung fehlt: der Brauch ist dadurch stark der Willkür ausgesetzt, er wird verzerrt und entartet unter der Wirkung von Protzentum, Geschäftsreklame, Geschmacklosigkeit, Tagesmode. Wir sind einfach nicht instinktsicher genug, eine solche Sitte zu pflegen, ohne um die Wahrheit zu wissen, auch gedanklich zu wissen, die in ihr schlummert. Wehe aber, wenn wir uns nun aus diesem Grunde etwas zurechtdeuten wollten über Sinn und Bedeutung des Christbaums, wenn wir ihm eine Deutung geben wollten, die dann etwa doch eine Umdeutung wäre! Solch ein Brauch hat ja seinen Sinn und seine Bedeutung, auch wenn es keiner wüßte, und nur das kann uns aufgegeben sein: uns Rechenschaft zu geben über unbewußte Hintergründe unseres Verhaltens und Erlebens. Solche Rechenschaft wird uns dann freilich nötigen, dem, was sich uns da offenbart, Gestalt und Dauer zu verleihen, dadurch, daß wir Unwichtiges zurücktreten lassen und nur dem Raum geben, was uns in die Tiefe der Sache, in den Kern der Dinge führt.

LeerDie Sitte des Christbaums ist aus verschiedenen, zunächst getrennten Gebräuchen zusammengewachsen, wie die gelehrte Forschung gezeigt hat. Gehen wir diesen verschiedenen Anfängen nach, so werden wir auf diesem Wege am besten vermeiden, willkürlich von uns aus zu deuten, werden auch nichts vergessen, was als wesentlich zugerechnet werden muß.

Leer1. Die Gelehrten haben festgestellt, daß es ursprünglich Zweige waren, die zu dem Mittwinterfest gehörten: entweder Laubholzzweige, etwa von Obstbäumen, die am Barbaratag (4. Dezember) in der warmen Stube ins Wasser gestellt werden und zur Wintersonnenwende den Neubeginn des Lebens anzeigen, gleichsam das verborgene Wiederansteigen der Säfte offenbar machen, oder aber Nadelholzzweige mit ihrem immerwährenden Grün, das dem Wintertod überhaupt trotzt. Diese Zweige wurden im Haus aufgestellt: der Mensch nimmt das neu erwachende Leben in seine vier Wände herein. Oder aber man schlug sich gegenseitig damit, um die Kraft des neuen Wachstums auf sich zu übertragen. Es ist im Grunde dasselbe, wenn wir heute einen Strauß Blumen brechen und zuhause auf den Tisch stellen, oder wenn der Städter an einem schönen Sommersonntag die Stadt verläßt und sich in Gottes freier Natur ergeht.

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LeerIrgendwie spürt der Mensch, daß er sich nicht mit seiner Hände Werken in seinen vier Wänden isolieren darf, daß all seinem Gemächte so etwas wie ein heimlicher Todeshauch anhaftet, und in einem seelisch-geistigen Vitaminhunger greift er nach dem, was lebt, in ganz anderem Sinn lebt, als all seine Maschinen und Organisationen, und zieht es in sein Leben herein. Der rechnende Verstand hat es ihm heute verboten, Obstbaumzweige abzubrechen, um sie zur Blüte zu treiben und damit die Öde und Strenge der Winternacht aufzuhellen. Aber es fand sich die Tanne - die konnte diesen Dienst tun, ohne daß wirtschaftliche Erwägungen in den Weg traten; und so lebt nun, manchmal von Tand und Flitterwerk fast verdeckt und selbst dann das ganze Weihnachtsfest bestimmend und gestaltend, das Reis des immergrünen Baumes in unseren Feststuben und läßt uns durch alle unsere Vielgeschäftigkeit und Wichtigtuerei hindurch spüren, daß es ein edleres Sein gibt als das, das wir den Dingen einhauchen: das Geschöpfsein in der Hand Gottes, das durch alle Krusten und alle Kälte unsrer Werkgerechtigkeit, unsres Leistungsstrebens, unsres Etwasseinwollens hindurchbricht und „mitten im Winter”, „wohl zu der halben Nacht” den neuen Anfang setzt.

LeerDiese Begegnung mit der Kreatürlichkeit des Kreaturlebens ist heute in theologischen Kreisen als Aufkläricht und Feld-, Wald und Wiesentheologie verachtet, aber sie ist das Sakrament der Massen unseres Volkes, und wer sie für unchristlich hält, wird wohl auf den Christbaum so gut wie auf Osterspaziergang, Pfingstbüsche und einen wirklichen Erntedank verzichten müssen.

Leer2. Aus den Weihnachtszweigen ist mit der Zeit ein Bäumchen geworden, ja mancherorts ein mächtiger Baum. Das ist die Eigenart der Tanne, daß schon der jüngste Sproß oder ein bloßer Wipfel die Gestalt des ganzen Baumes vor Augen stellen kann. Was dieser selbst zu bedeuten hat - nicht nach irgendwelcher geistreichen Allegorese, sondern im natürlichen Empfinden unseres Volkes, das erkennen wir aus dem alten Tannenbaumlied, das uns bruchstückweise seit der Reformationszeit überliefert ist - man singe es, wie es in Walther Heusels „Singendem Quell” zu lesen steht:
O Tannenbaum, o Tannenbaum, du trägst ein' grünen Zweig,
den Winter, den Sommer, das dau'rt die liebe Zeit.
„Warum sollt ich nicht grünen, da ich noch grünen kann?
Ich hab nicht Mutter noch Vater, der mich versorgen kann.
Und der mich kann versorgen, das ist der liebe Gott,
der läßt mich wachsen und grünen, drum bin ich schlank und groß.”
LeerHier lebt in einem logisch unfaßbaren Ineinander die ganze kreatürliche Unmittelbarkeit und Eigenständigkeit des Baumes und zugleich die ganze Schwermut alles kreatürlichen Seins, von der der moderne Naturschwärmer so wenig merkt. Man braucht solch ein Lied nicht begrifflich zu fassen: man braucht es nur zu singen und wird dadurch ohne Weiteres hineingestellt in das, was es heißt: Baum sein, und noch mehr: eine dem Wechsel der Jahreszeiten trotzende, eine immergrüne Tanne zu sein. Wenn der Herrgott von sich selbst sagt - in dem Augenblick, da er einem verlorenen Volk die Rettung verheißt: „Ich will sein wie eine grünende Tanne” (Hos. 14,9; „Zypresse” heißt es im Urtext), so ist damit die ganze Würde, die ganze Güte und der ganze Stolz dessen, was solch ein Baum ist, ein für allemal auf seine letzte Wurzel im Wesen des Schöpfers zurückgeführt.

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Leer3. „Ich will sein wie eine grünende Tanne, an mir soll man deine Frucht finden” - so geht das alte Prophetenwort zu Ende, mit dem das Hoseabuch schließt. Welleicht darf man das Wort etwas einfacher so aussprechen: „Ich will sein wie eine grünende Tanne; Frucht für dich will ich tragen.” Wir merken an diesem Wort, daß das biblische Bild vom Tannenbaum hinausführt über das, was die Tanne unsrer Wälder bedeuten kann: ihre Früchte, die langsam reifenden Tannenzapfen, sind gewiß ein Bild fruchtbaren Samentragens, aber nicht Frucht in dem Sinne, wie es hier gemeint ist, nahrhafte Frucht für die Menschen. Das aber verwirklicht sich am geschmückten Christbaum: er ist ein Baum des neuen Lebens, der sich darin als Lebensspender erweist, daß er Blüten und Früchte zugleich in großer Fülle bringt. Rosen und Lilien, Äpfel und Nüsse, das ist der ursprüngliche Behang des Christbaums: sie vertreten die ganze Mannigfaltigkeit der Freuden und heilsam-nahrhaften Kräfte des Lebens. Hier ist mehr als Immergrün-sein, hier ist eine Vereinigung alles dessen, was sonst nach natürlichem Lauf auf Frühling und Herbst, Sommer und Winter verteilt ist. Auch die Frucht des Feldes und die Tracht der Bienen darf nicht fehlen: allerhand kunstvolles Backwerk und Zuckerzeug. Gibt es den Schmuck grüner Zweige zu den verschiedensten Festen des Jahres: der Baum, der blüht und Frucht trägt zugleich, er steht nur da, wo alle Jahreszeiten ihren Anfang und ihr Ende haben, in der Mitte des Winters.

Leer4. Die brennende Kerze hat ursprünglich mit dem Weihnachtsbaum nichts zu tun. Sie steht in feierlicher Stille seit den Zeiten der Katakomben auf dem Altar der christlichen Gemeinde. Die neu Getauften trugen sie in Händen und erhellten damit die Gottesdienste der Osternacht. Später kam zu den Morgen- und Abendgottesdiensten der Advent- und Weihnachtszeit Jung und Alt mit kleinen bunten Kerzlein in die Kirche. Heute schmücken die Wachslichte den Tannenbaum und machen ihn, zusammen mit goldenen und silbernen Sternen (vor allem einem leuchtenden Stern am Wipfel) erst wirklich zum Christbaum. Die Lichtlein sind seine eigentlichen Blüten, mehr als Papierblumen und Glastand. Damit aber verändert der Weihnachtsbaum seine Art Was er sonst an Blüten und Früchten trägt, hat eine irdische, sinnliche Art an sich. Das Backwerk und das Obst warfen aufs Abnehmen und Verzehren. Aber der stille Glanz der Kerzen hat etwas Geistiges; der reine Flammenschein hebt den Christbaum aus der Welt heraus und macht den vorher stummen Zeugen beredt. Der Lichterbaum erst verkündet etwas anderes als die Zusammenfassung der irdischen Lebenskräfte: daß hereingeht das ewige Licht, das der Welt einen neuen Schein gibt.

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Leer5. Was aber hat der Lichterbaum, der mitten im Winter grünt, blüht und Früchte bringt, was hat die festlich geschmückte Tanne in den Häusern, ja auf den Plätzen und Straßen der Stadt, was hat dieser Baum mit der Geburt Christi zu tun? Ist er nicht wie ein Naturkult, der vielleicht eine Vorahnung der Erlöserbotschaft in sich schließt, aber doch diese nicht ersetzen kann?

LeerAuf diese Frage ist zu sagen: der Christbaum ist zwar ein echtes und wahres Stück der Feier, die der Geburt Christi auf Erden gilt. Aber er ist kein erschöpfender Ausdruck dessen, was Gegenstand dieses Festes ist. Unter den Christbaum gehört die Krippe - du erinnerst dich dessen, was im Vorjahr darüber gesagt worden ist (S. 14). In dem Einmaligen und Endgültigen der Christgeburt zu Bethlehem wurzelt ganz und gar das neue Leben, dessen Lebendigkeit, Leuchtkraft und Fruchtbarkeit im Weihnachtsbaum Gestalt gewonnen hat. Gewiß hat es auch vorchristliche Vorahnung der Weihnacht bei unsern heidnischen Vätern gegeben. Aber der fruchttragende Lichterbaum ist eben doch erst auf christlichem Boden gewachsen.

LeerWir wollen es nun nicht verbergen, sondern sichtbar zeigen, wo wir dieses neue Leben entspringen sehen: in der Krippe im Stall. Wenn in unserm Volk die Sitte des Weihnachtsbaumes und die Sitte der Weihnachtskrippe zunächst getrennt ausgebildet worden sind, so gehören sie doch in dem Augenblick zusammen, in dem man den zweiten Glaubensartikel mit dem ersten und dritten zusammensieht. Räumlich überschattet und umschließt der Baum dabei die Krippe, das Naturleben die Geschichte. Innerlich, für den Blick in die Tiefe spiegelt das Naturgeschehen in die Weite des Raumes und der Zeit hinaus, was den eigentlichen Inhalt unseres Lebens ausmacht: das Hineingestelltsein in das Handeln Gottes durch die Geburt und den Erdenweg Christi. Aber so stehen Natur und Geschichte ja immer zueinander.

LeerVielleicht sagst Du, Du habest diese Überlegung über den Christbaum nicht gebraucht; der Christbaum sei dir mit so starken Kindheitserlebnissen verknüpft, daß niemand etwas dazutun könne. Dann hüte dich, daß du diese deine Kindheitserinnerungen nicht selber falsch verstehest. Der Christbaum will dich wie alle christlichen Bräuche nicht einseitig an die Vergangenheit fesseln, sondern vorwärtsweisen. Er will mehr eine Verheißung sein als eine Erinnerung. Er will dich noch über das hinausführen, was dir schon geschenkt war und noch geschenkt ist. Damit er aber diesen Dienst an dir auszurichten vermöge, dazu ist es nötig, daß du als zum wachen Leben erweckter Mensch klar und bewußt sehest, was in ihm Gestalt gewonnen hat: daß er vor uns steht als ein Zeuge des neuen Lebens, das gewiß mit der Geburt Christi hier auf Erden seinen Anfang genommen hat und doch seiner Vollendung in unserm Leben wie in der ganzen Welt noch harrt. Das zu zeigen haben diese Zeilen versucht. Es soll dir gegenwärtig sein, wenn du den Christbaum aufs neue schmückst und entzündest.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 15-19

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-26
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