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Das Ringen einer evangelischen Gemeinde um die Kirche

LeerDer Versuch eine Gemeinde von Grund auf neu aufzubauen und zu gestalten ist auf folgendem Boden erwachsen. Eine große Industriegemeinde mit nur noch wenig bäuerlicher Tradition am Rande der Großstadt, überwiegend evangelisch mit reformiertem Bekenntnis. Seit Alters hat sich die Gemeinde ihres Glaubens zu wehren; bis in die letzte Generation hinein hat sie sich ein gut Stück kirchlicher Zucht gewahrt. Die Kirche war dem Schicksal entgangen, Klassenkirche zu werden. Im Kirchenvorstand ist nie ganz das Bewußtsein verloren gegangen, die Ältesten der Gemeinde zu sein. Hier standen oft die aktiven Elemente der Gemeinde, die manchmal mehr von ihrem Amt wußten als der Ortspfarrer. Sie halten fest an ihrer eignen Amtstracht, dem Schweizer Predigermäntelchen, und assistieren beim heiligen Abendmahl.

LeerDie Zeit der kirchlichen Vereins- und Anstaltsgründungen ging auch über diese Gemeinde und schuf eine Fülle von Vereinen, dazu ein evangelisches Krankenhaus, Kinderhorte, ein ganzes Gut wurde zur Errichtung eines Kinderheims angekauft, und anderes mehr. Selbst die eigene politische Partei fehlte nicht auf dem Rathaus. Der Pfarrer wurde zum Regenten der Gemeinde. Die liberale Theologie blühte auf der Kanzel und im Unterricht. Die stillen und bedächtigen Männer im Gemeinde- und Kirchenvorstand standen dieser Entwicklung jedoch zweifelnd und zurückhaltend gegenüber und zogen es vor, statt im lauten Vereinsbetrieb eine Rolle zu spielen, sich im stillen Kreis um die Schrift und um Blumhardt zu sammeln, ohne jedoch Gemeinschaftsleute zu sein ober zu werden.

LeerSo ist die Lage beim Einbruch der Weltwirtschaftskrise. Die Gemeinde wird bis in die Grundfesten ihres bürgerlichen Lebens erschüttert. Straßenweise sind die Männer arbeitslos. Die Gemeinde ist unfähig die Wohlfahrtslasten zu tragen. Unsägliches Elend überall. Der Kommunismus erhebt kühn sein Haupt besonders bei der zugezogenen Bevölkerung. Die ganze kirchliche Arbeit wird mit in den Zusammenbruch hineingezogen. Die kirchlichen Vereine stehen ratlos und schmelzen zusammen, die kirchlichen Anstalten stellen fest, daß sie kein Fundament mehr haben. Die ganze jetzige Form der kirchlichen Arbeit und Haltung wird so fraglich wie das Leben überhaupt.

LeerDie Fraglichkeit, ja Sinnlosigkeit unsres ganzen Lebens in seiner gegenwärtigen Form, ganz einerlei wie wir ihm begegnen, ist die erschütternde Erkenntnis, die gemacht wird und nun die verzweifelnden Erwerbslosen mit erschütterten Christen aus der obengenannten stillen Schicht zusammenführt. Man lernt erkennen, daß das Leben überhaupt nur von einem Punkt her wieder Sinn bekommen kann, nämlich von dem in der heiligen Schrift in seiner ganzen Fülle dargebotenen Christus. Man erkennt ganz klar, daß alle noch vorhandenen Reste irgendwelcher bürgerlichen Sicherheit eine Illusion sind und heute im Grunde keiner mehr so weit ab von dem verlorenen und in der Sinnlosigkeit seines Daseins fast ersterbenden Proletarier steht. Auch bei denen, die noch etwas haben und etwas sind, fängt der eigene Besitz, die eigene angesehene Stellung, fangen Rang- und Klassenunterschiede an zu verblassen. In der fundamentlos gewordenen Welt gibt es nur einen festen Punkt: der gekreuzigte und auferstandene Christus; nur eine mögliche, wirkliche Gemeinschaft: das Bild der urchristlichen Gemeinde, die unter dem Pauluswort steht: Als die Sterbenden und siehe wir leben.

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LeerDie neue Erkenntnis hat in der Gemeinde ihre praktischen Folgerungen. Man müht sich in Männerkreisen um eine neue Erkenntnis der Schrift, man kommt zusammen zu gemeinsamem, brüderlichem, schlichtem Gebet. Ein Pfarrwechsel wirkt sich ganz im Sinn mancher stillen Hoffnung ans. Es geht ein Wille neuen kirchlichen Lebens durch die Gemeinde. Tägliche Morgen- und Abendgottesdienste entstehen und werden sehr gut von Männern, Frauen und Jugend besucht. In einem großen Gemeindesaal, der das Gefühl geschwisterlicher Verbundenheit aufkommen läßt, werden die Andachten von Pfarrer, Assistent und sich anbietenden Kräfte in schlichter Form gehalten: Lied, Psalmlesung, freies Gebet, Schriftlesung mit Ansprache, freies Gebet, Gebetsstille, gemeinsames Unservater, Lied, Segen. Die sonntäglichen Gottesdienste füllen sich.

LeerDas Kernstück von allem aber ist das Entstehen einer sogenannten christlichen Bruderschaft. Erwerbslose Arbeiter, kleine Handwerker, Kaufleute, der Pfarrer und andre mehr tun sich zusammen und suchen vom Glauben her das Leben neu und sinnvoll zu gestalten. Es entsteht eine Werkstube, eine Mittagsküche, man hält Unterricht und kommt zusammen zu Gebet und Schriftbetrachtung. Je fünf Männer fügen sich zusammen zu einer Familie. Im Glauben und der praktischen Arbeit erfahrene Männer sind Familienhäupter. Fünf Familien bilden eine Bruderschaft unter einem Bruderschaftsführer.

LeerDer Pfarrer ist nur Bruder unter Brüdern. Er hat wohl in erster Linie das Amt der Kirche auszuüben, aber das erhebt ihn nicht über die anderen und hindert nicht, daß geeignete Männer Teile seines Amtes übernehmen. Die Familienhäupter bilden den Bruderschaftsrat. Jedes Vereinswesen wird schroff abgelehnt. Man baut sich auf auf das Prinzip von Führerschaft und Gefolgschaft. Es werden grundsätzlich nur Männer aufgenommen. Freier Gehorsam und brüderliche gegenseitige Verantwortung sind die verbindende Kraft, täglich neu geschöpft aus Gebet, Schriftlesung und auch gegenseitiger Beichte, die mehr und mehr ein Bedürfnis wird. Die Stimmung ist stark antikapitalistisch. Der Geldverkehr wird unter einander möglichst ausgeschaltet, alles auf dem Weg gegenseitiger Hilfsbereitschaft, die auch vor geldlichen Opfern nicht zurückscheut, zu erledigen gesucht.

Leer„Bete und arbeite” ist die gemeinsame Parole. „Zurück zur elementaren Lebensgestaltung, zum Boden” ist die Erkenntnis. Nach verschiedenen tastenden Versuchen geht man zum gemeinsamen Ackerbau über. Ödland wird urbar gemacht. Die arbeitslosen Brüder gehen auf Anordnung des Bruderrats zu Landwirten und verrichten unentgeltlich Arbeit, nur die Gesamtbruderschaft erhält eine Vergütung. In ernsten gemeinsamen Beratungen sucht man die persönlichen, z. T. recht zerfahrenen Verhältnisse zu bereinigen, Schulden zu beseitigen und Mängel der eignen Lebensführung auszugleichen. Es ist ein heißes Ringen um jeden Einzelnen und aller um die rechte Gestaltung eines auf den elementarsten Voraussetzungen beruhenden Gemeinschaftslebens.

LeerImmer größere Aufgaben bieten sich. Zwanzig Morgen Land werden in eigne Bewirtschaftung genommen, auch der der Kirchengemeinde gehörende Hof, und dieser so sinnvoll eingegliedert ins Gemeindeleben. Vieh wird gemeinsam beschafft und gemeinsam gepflegt. Der Widerstand in der Gemeinde wächst vornehmlich seitens politischer Parteien gelegentlich stark, die hier ein unerhört Neues ahnen, das ihre ganzen Programme in Frage stellt und ihre Agitation stark behindert, dabei hält sich die Bruderschaft grundsätzlich von Politik fern, da sie nicht mehr an die Neugestaltung des Lebens von dieser Seite her glaubt. Die pietistische Gemeinschaft steht ebenfalls ratlos dem neuen Werden gegenüber. Aber man hat keine Einwände, die diesem ganz elementaren Handeln wirklich gewachsen wären.

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LeerDie wirklichen Widerstände kommen immer wieder nur aus der eignen Sündengebundenheit. Hier aber gibt es nur eine Hilfe, demütiges Beugen unter den Christus und warten bis er weiterführt, Zurichtung im Gebet und Versenken in den Heilsplan Gottes in der Schrift. Trotz erheblicher Widerstände, die z. T. auch von landeskirchlicher Seite kommen, wächst das Werk, allerlei Menschen finden sich in der Arbeit zusammen. Neben den Arbeitslosen der Fabrikbesitzer, neben dem Lehrer der Bauer, junge Studenten kommen und helfen. Es bilden sich zwei Arten von Brüdern, dienende und helfende Brüder. Die dienenden Brüder sind in der Regel die Arbeitslosen, die ganz der Bruderschaft zur Verfügung stehen und vom Bruderrat jederzeit eingesetzt werden können, helfende Brüder sind solche, die noch im Beruf stehen und nur in ihrer freien Zeit oder durch ihre Geldmittel, die grundsätzlich der Gemeinschaft zur Verfügung stehen, dienen können. Es lebt eine große Freudigkeit in allen Beteiligten.

LeerDie staatliche Gesetzgebung über den freiwilligen Arbeitsdienst sowie die Großstadtsiedlung wird der eignen Arbeit dienstbar gemacht. Die verhandelnden Herren vom Arbeitsamt sind überrascht, einmal eine betende Männergemeinschaft zu finden, die doch so nüchtern und sachlich ist. Sie sind überrascht, daß man allen vernünftigen Wirtschaftserwägungen zum Trotz eine kleine Welt nach anderen Gesetzen aufbaut, z. B. Siedlungshäuser baut in erster Linie für die Brüder, die kein Geld haben und bei denen keine Aussicht besteht, daß sie jemals wieder zu Geld in größeren Mengen kommen.

LeerSonst steht man dem Staat und seinen Einrichtungen mit einigem Mißtrauen gegenüber, da auch ihm eine wirklich tiefere und darum sachliche Orientierung fehlt und er praktisch gar oft geneigt ist, in Bezug auf wirklich organisches Leben hemmend, ja zersetzend zu wirken. Ähnlich steht man zur organisierten Landeskirche. Gerade weil man mit heißer Seele die neue Kirche sucht, lehnt man die gegenwärtige Form der Landeskirche um ihrer großenteils falschen Orientierung willen ab. Umgekehrt lebt selbst vom Kirchenvorstand, dessen Glieder z. T. leitend in der Bruderschaft stehen, bis hin zu den einfachen Brüdern ein starker Wille zur Kirche, der sie werdend für ihre Erkenntnis auch in andere Gemeinden treibt, denen man dienen möchte. Man glaubt nicht, daß das vollkommen zusammenhanglose Nebeneinanderstehen von einander fremden Kirchengemeinden bereits Kirche sei.

LeerWohin nun der Weg der Bruderschaft führt, ob hieraus wirklich eine neue Kirche wird, ob wieder eines Tages alles umgestaltet werden muß oder ob es gar einmal ins Martyrium geht, das überläßt man Gottes Führung.

LeerWas man kann, ist nur der Versuch, mit dem Grundsatz „Bete und arbeite” wirklich ernst zu machen und sich unter den in der Schrift geoffenbarten lebendigen Christus zu stellen, der allein Weg und Ziel weiß.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 42-46

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-26
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