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Von den vier Stufen des heiligen Bernhard
von Annemarie Viebig

LeerZu den goldenen Schlüsseln, von denen Märchen und Sagen berichten, daß sie dem zum Schauen Bestimmten die verborgenen Dinge aufschlössen, gehören auf ihre Weise die vier Stufen des heiligen Bernhard von Clairveaux. Auch manche Hintergründe des Geschehens unserer Tage werden, mit diesem Schlüssel erschlossen, erstaunlich durchsichtig und wissen dem Schauenden die innere Ruhe wiederzugeben, die ihm das Quellen, Drängen und Stürmen der Vordergründe genommen haben. -

LeerVier Stufen gibt es auf dem Wege vom Menschen zu Gott, viererlei Weise für den Menschen, vor Gott in der Schöpfung zu stehen, vier „Ebenen” im Verhältnis des Menschen zu Gott. - Zuerst liebt der Mensch den Menschen um des Menschen willen. Zuzweit liebt der Mensch Gott um des Menschen willen, zudritt liebt er Gott um Gottes willen; zuviert - aber diese Stufe ist schwer zu erreichen, ist seltene Gnade von Gott, sagt Bernhard - zuviert liebt der Mensch den Menschen und die ganze Schöpfung um Gottes willen. - Die erste Stufe bedeutet die unverfälschte Selbstherrlichkeit des Menschen, die nach Gott nicht fragt. Die zweite Stufe sagt Gott und meint den Menschen, meint das Volk, das Blut, den Boden und hängt diesen Dingen der gefallenen und unter das Gericht gestellten Schöpfung die Herrlichkeit Gottes als einen Königsmantel um. Sie zwingt die Kirche Gottes, ihre menschlichen Aufschwünge, Umwälzungen, Reformen, Feste und Feiern zu weihen und zu verbrämen. Wie stattlich kleidet der Mantel Gottes die makellose, vielgeliebte menschliche und kreatürliche Herrlichkeit! - Und auf der dritten Stufe stehen die Asketen. Wir haben sie immer unter uns, auch heute, und haben sie zu unserm Segen unter uns; sie sind die Rufe zur Buße, zur Umkehr, zum Kreuz, sie sind die Täufer. Sie lieben Gott um Gottes willen. Der Mensch wird nichts, schwebt machtlos zwischen verderbter Schöpfung und richtender Ewigkeit, ist nur noch Auge, um Reuetränen weinen und um Gott, den ganz Anderen, von Ferne schauen zu können. Nur wer sich selbst verliert, wird sich finden; man muß einmal aller Dinge ledig werden, sagt Luther. Und dennoch steht der Asket nur im Vorhof es Tempels, er ist nicht wert, daß er dem Gottessohn, dem Erlöser der ganzen Schöpfung, die Schuhriemen löse. Wohl ist er, der Gott um Gottes willen liebt, noch immer klein im Himmelreich, aber ohne ihn gibt es die vierte und letzte Stufe nicht. - Die wahrhaft Heiligen, die großen Liebenden und Erlösenden, die der seufzenden Kreatur die herrliche Freiheit der Kinder Gottes bringen; die alles Geschaffene, das Gottes Zeichen an der Stirn trägt und das sich noch immerdar sehnt, emporlieben in die Ewigkeit Gottes: das sind die seltenen Menschen er vierten Stufe, der letzten Stufe, auf der Mensch und Schöpfung geliebt werden um Gottes willen. Hier wendet der Mensch sein Antlitz bald Gott zu, bittend und flehend, und dann wieder der armen Schöpfung, als der Mittler und Versöhner in der Nachfolge Christi. Auf dieser vierten Stufe steht auch die wahre Kirche Christi; wie könnte sie anders, sie, der Leib Christi auf Erden? -

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LeerEs ist eine Not unserer Tage, daß der schöpfungsgewaltige Volksaufbruch in seinen vordergründigen Erscheinungen noch auf der zweiten Stufe steht. Er hebt seine Stellung, da Gott doch immerhin Gott genannt wird, - laut und selbstbewußt von der ersten Stufe ab und möchte die Kirche Christi in seinen Machtbereich einbeziehen. Was sollte ihn trennen von der Kirche? „Ihr wollt Schöpfung, denn ihr habt den ersten Artikel”, sagt dieser Aufbruch zur Kirche, „wir wollen auch Schöpfung. Ihr wollt das deutsche Volk, wir noch viel mehr. Ihr wollt den sittlichen Menschen, wir auch. Ihr wollt christliche Feiern und Feste, wir auch. Warum wollt ihr euch nicht in unsern Schutz und unter unsere Herrschaft begeben?” - „Wohl”, sagt die Kirche Christi, „ich will auch Schöpfung, will Volk, bin die Kirche Christi im deutschen Volk, will den sittlichen Menschen, will Feste und Feiern. Aber ich bin hindurchgegangen durch den großen und tiefen Tod vor dem Angesicht Gottes. Ich bin mit der selbstherrlichen und sündhaften Schöpfung vor ihm gestorben, ich habe das Kreuz Christi erfahren und getragen, ich bin mit ihm auferstanden in ein neues Leben, in eine neue Schöpfung und Kreatur, der Tod ist meines Lebens Sakrament geworden. Nun liebe ich die Schöpfung und liebe den Menschen nicht um ihret- oder seinetwillen, sondern um Gottes willen.” -

LeerHier liegt der Schlüssel zu vielem Mißverstehen unserer Tage, zu all den bittern Vorwürfen, "die Kirche verstünde die Zeichen der Zeit nicht, die Kirche sei reaktionär, habe wieder versagt", und zu dem leidenschaftlichen Sträuben der Träger der Kirche, die noch um Kirche wissen, diese Kirche und ihre freie Verkündigung herzuleihen zu einem Schmuck selbstherrlichen Menschentums. Die Menschen der vierten Stufe - und hätten sie nur zu flüchtiger, aber unverlierbarer Stunde ein einziges Mal diese vierte Stufe betreten - kennen sehr wohl die Geisteshaltung der zweiten Stufe, nicht aber umgekehrt. Die Liebe zur Schöpfung gibt beiden Stufen eine verzweifelte und tief mißverständliche Ähnlichkeit. Die aber um die vierte Stufe, um das Amt der Kirche Christi wissen, würden wider den heiligen Geist sündigen, wenn sie diese vierte Stufe - die Sache Gottes und die größte Sache unseres Volkes und aller Völker zugleich - verrieten. Sie werden, nicht etwa als die Gesättigten und Besitzenden, sondern als die mit glühender Seele Ringenden für die Zukunft ihres Volkes und Vaterlandes beten und kämpfen; nicht um der Erfüllung menschlicher Ziele willen, sondern um der Auferstehung vor Gottes Angesicht willen, zu seiner Ehre und Herrlichkeit.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1933, S. 148-150

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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