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von Wilhelm Stählin |
Das Erntefest ist fast der einzige Tag im Jahr, wo die Beziehung den Menschen zur Natur bewußt in den Mittelpunkt gerückt wird und in das gottesdienstliche Geschehen selbst gestaltend hineinwirkt. Wenn auch sonst Blumen auf dem Altar stehen und ihr Lied zur Ehre Gottes singen dürfen, so ist es doch unsere besondere Freude, am Erntefest den Altar mit den Früchten des Feldes, mit Kraut und Äpfeln, mit Reben und Rüben zu schmücken und die festlichen Garben zu den Füßen des Altars aufzustellen. Alle die, denen es leichter wird, ihr Gottesverhältnis von der Natur als von Christus her zu gewinnen, feiern darum wohl lieber das Erntedankfest als Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt, und manchmal hört man es auch dem Gesang an, daß Paul Gerhardts fromme Naturbetrachtung „Ich singe dir mit Herz und Mund” leichter über die Lippen geht als Luthers „altmodische” Lieder mit der schweren Fracht ihres dogmatischen Inhalts. Aber wenn wir am Erntedankfest uns nicht einfach solcher Stimmung hingeben, dann können wir ja nicht vorbeikommen an der aufwühlenden und beschämenden Erkenntnis, daß unser Verhältnis zur Natur in Unordnung geraten ist, und daß es darum gerade einer christlichen Betrachtung und Durchdringung dieser unserer Beziehungen zur naturhaften Welt bedarf. Der Mensch steht zur Natur immer in einem eigentümlich zwiespältigen Verhältnis. Er sehnt sich nach Naturnähe und Naturverbundenheit, er möchte aus der Zerspaltenheit und dem Verderben seines zivilisierten Daseins zurück in die Einfachheit und Einfalt der Natur. „O, so öffnet euch Mauern, und gebt den Gefangenen ledig, zu der verlassenen Flur kehr' er gerettet zurück!” Zugleich aber weiß er und erfährt in immer neuen Schmerzen, daß er in der Natur, die er sucht, ein Fremdling bleibt, ja, daß er selbst die Welt, in die er sich flüchtet, zerstört. Es ist unser eigentümliches Schicksal, daß wir die Natur nicht lassen können, wie sie ist, sondern daß in der Berührung mit dem Menschen die Natur eine Wandlung erleidet. Und zwar ist es eine zwiefache Wandlung der Natur, die von dem Menschen ausgeht. Der Mensch mißt die Natur an seinem Maßstab und zwingt sie in seinen Dienst. Er folgt damit einem „ursprünglich” in ihn gelegten Drang, einer Nötigung, die schon im paradiesischen Urständ als göttliches Gebot über dem menschlichen Sein stand: „Füllet die Erde und machet sie euch untertan”. Aber indem der Mensch selbst aus der gottgewollten Einheit alles Lebendigem herausfällt, und in seinem Ungehorsam die Unschuld und den Frieden des Paradieses zerstört, wird auch seine Naturbeherrschung etwas anderes, als sie es gewesen ist, da er unschuldig den Garten Eden bewahrte und bebaute. Nicht mehr ist er der Gehilfe Gottes, der die in der Natur angelegten Möglichkeiten hilfreich pflegend zu ihrer Vollendung führt, sondern er wird, auch wo er das gar nicht will, zu dem Zwingherrn, unter dem die Kreatur wie unter einem harten Kerkermeister seufzt. In der Arbeit des Bauern und des Gärtners, der pflegen und fördern darf, des Hirten und des Försters, dessen Arbeit äußerlich und innerlich ein „Gehege” ist, leuchtet noch etwas von einer verlorengegangenen Paradiesordnung auf. Gründlich hat der Mensch die Natur verwandelt, und indem er sie völlig mit allen Mitteln der Ratio in seinen Dienst gezwungen hat, hat er nicht nur sie, sondern zugleich sich selbst zerstört. Erleben wir nicht in ungeheuerlichem Ausmaß diesen Zusammenbruch einer Welt, in der der Mensch ohne Ehrfurcht und Liebe die Natur nach seinen Zwecken gewandelt hat? Auf dem Boden, der zur Ware geworden ist, verliert der Mensch seine Heimat. Die Kräfte, die Menschenhirn und Menschenhand in das Räderwerk der Maschine gewunden haben, scheinen sich wie die Riesen der Vorzeit zu erheben und gegen den Menschen aufzustehen, so wie jener von Karl Spitteler in grandioser Phantasie gesehene Automat, der seinen Herrn und Meister zermalmt wie die Straßenwalze einen Käfer, der ihren Weg kreuzt. Und der Goldreif, der nicht mehr Sinnbild der Würde und der Treue ist, wird zur schrecklichen Kette, unter deren Druck alle Freiheit verloren ist. Man soll es sich nicht zu leicht vorstellen, diese Kette zu zerreißen und „zur Natur zurückzukehren”. Einige Naturseligkeit, einige romantische Naturschwärmerei, freundliche Lieder von Saat und Ernte, vom Bauern, der im Märzen sein Rößlein einspannt, von dem wundermilden Wirt, bei dem wir zu Gaste waren, sind uns gern verstattet, aber sie sind uns mehr die schmerzlich-süße Erinnerung einer verlorenen Ordnung als ein Tor ins Freie. Hier hilft nur ein radikales Umdenken, in dem uns wirklich die Ehrfurcht vor der ganzen Welt schöpfungsmäßiger Gegebenheit, vor Stein und Pflanze und Tier, vor Erde und Sonne, neu geschenkt wird. Diese Ehrfurcht aber zieht ihre eigentliche Nahrung aus der umgekehrten Wandlung, deren Werkzeug der Mensch sein kann und sein soll. Es ist kein Zufall, welche Rolle die Natur und die Dinge dieser Welt in den Reden Jesu spielt. Wir verstehen die Gleichnisse Jesu sicher nicht richtig, wenn wir meinen, die Natur lasse sich eben mit so tausend anderen Dingen schließlich auch dazu gebrauchen, daß man geistige Wahrheiten an ihr verdeutlicht. Natürlich kann man das auch. Aber in den Gleichnisreden Jesu leuchtet die Natur selber in einem neuen Glanz auf, weil sie durchscheinend geworden ist für das ewige Gotteslicht, das hinter ihr und durch sie hindurch geheimnisvoll scheint. Das Gleichnis Gottes aber ist das Gleichnis der Liebe. Hier erst fangen wir an zu begreifen, daß das Erscheinen Christi auch für die Natur den Anbruch der Erlösung bedeutet. Wenn Christus in dem seltsamen Gleichnis von dem ungerechten Haushalten mahnt und ermutigt, daß wir uns mit dem ungerechten Mammon Freunde machen, so heißt das doch nichts anderes als dies, daß wir den Mammon, das zum Zwingherrn und Zerstörer gewordene Gut, zurück- oder vielmehr hinaufverwandeln sollen und verwandeln dürfen zum Werkzeug und zur Erscheinung der Liebe. Wenn der Liebende der Geliebten eine Blume darbringt, scheint damit nicht das Wunder der Blüte eben das zu werden, wozu sie heimlich, ihrer selbst unbewußt, erblühen durfte? Wenn irgendein „Ding”, das wir für ein paar Pfennige haben kaufen können, Freude bringen, Freude wecken darf, hat sich da nicht in aller Unscheinbarkeit und Schlichtheit die Wandlung vollzogen, die nicht ohne den Menschen, aber durch ihn sich ereignen kann und soll? Ein totes, und ach wie wertloses Stück der Welt, das wir ergriffen und gerührt in den Händen halten, weil es zu uns kommt als ein Gruß der Liebe; ein Werk, bei dem es sinnlos ist, nach dem Preis zu fragen; Anlaß und Aufruf zu danken. Das Brot, das wir brechen, um es unseren Kindern zu teilen, ist das schlichteste und ehrwürdigste Sinnbild dieser Wandlung. Wenn im Sakrament das Wunder sich dem Glauben darbietet, daß die Frucht dieser Erde gewandelt wird in den Leib Christi, so ist das doch zugleich eine Erinnerung daran, was sich immer und überall vollziehen soll und vollziehen will. Aber es kann sich nur vollziehen durch den Menschen, der selber an sich die Wandlung erfahren hat, die Wandlung in das Bild Christi. Nie bleibt die Natur, wenn der Mensch ihr begegnet, „unberührt” und ungewandelt. Immer muß der Mensch sie zu sich herabziehen oder sie zu sich, oder vielmehr zu Gott, emporheben. Entweder er zerstört sie, indem er sie verwandelt in die Ware, oder aber er tut an ihr einen priesterlichen Dienst, indem er sie wandelt zum Gleichnis und zum Werkzeug der Liebe. Entweder er zerstört sie, so freilich, daß er damit zugleich sein eigenes Leben unter den Frondienst zerstörerischer Kräfte beugt, oder aber er läßt sie teilhaben an seinem Glauben und seiner Liebe und weiht sie dadurch jenseits der Wandlung zum Vorschmack und zur Verheißung einer neuen Welt, in der die verlorengegangene Einheit wiedergewonnen ist. Das Erntefest ist der Tag, in ernsthafter Buße das Verderben zu durchschauen, das durch den Menschen über die Natur gekommen ist, und zugleich ist der mit aller Pracht herbstlicher Schönheit geschmückte Altar Sinnbild und Ausruf zu der Wandlung, die uns Christen und mit uns der Natur in Christi Bereich zukommt. Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 151-154 |
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