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Vom neuen Leben
von Wilhelm Stählin

LeerDer Kirche Jesu Christi ist die Botschaft vom neuen Leben anvertraut und aufgetragen. Dieses allein ist ihr eigentlicher und wesentlicher Auftrag. Dieses Eine ist sie der Welt schuldig; dieses Eine erwartet und ersehnt heimlich die Welt von der Kirche. Die Verkündigung des neuen Lebens.

LeerDas Evangelium von Jesus Christus ist die Kunde von einem Leben. „Ich bin das Leben”; „Ich lebe, und ihr sollt auch leben”. Das ist das Wort des Meisters. „Das Leben ist erschienen, und wir bezeugen und verkündigen euch das Leben.” „Wir sind aus dem Tode ins Leben gekommen.” Das ist die Antwort der Kirche. Wo das Zeugnis des Lebens zu einer bloßen Idee verdorrt, zu einer Weltanschauung verkümmert ist, da ist auch das lebendige Wachstum, das aus dem heiligen Samen sprießen will, verwelkt und vertrocknet.

LeerDas Leben, dessen Zeugnis der Kirche anvertraut ist, ist das neue Leben. Wir hören das Wort „neu” mit der tiefen Freude, mit der gespannten Erwartung, mit der heimlichen Sehnsucht, die sich dem Zauber alles Neuen entgegenstreckt. Von dem neuen Tag, von dem neuen Jahr, ja selbst schon von dem neuen Gewand, in das wir unsren Leib hüllen, und dem neuen Raum, in dem wir einkehren, erwarten und erhoffen wir etwas wie Befreiung von drückender Last, Wandlung und Genesung. Die Zaubermacht des Neuen speist sich aus unserer heimlichen Sehnsucht nach Erlösung. - Aber was heute neu ist, ist morgen alt, verblichen und verwelkt, und das inbrünstige Verlangen nach wirklicher Erneuerung wird schmählich enttäuscht. Was nützt es uns, wenn das Rad des Geschehens sich um ein paar Grade gedreht hat? Auch der gewaltigste Wechsel bleibt an dies grausame Schicksalsrad verflochten, in dem die immer neuen Gestalten, in dem Tag und Nacht, Frühling und Herbst, Werden und Vergehen, Aufstieg und Untergang einander folgen.

LeerDer christliche Glaube ist die Gewißheit, daß das Rad des ewigen Wechsels zerbrochen ist und der Kreislauf durch den Einbruch des wirklich „Neuen” gesprengt wird. Wenn die christliche Kirche nicht dieses Neue zu verkünden und mit ihrem Leben zu bezeugen hat, dann ist all ihre Predigt nur eine langweilige Wiederholung dessen, - was wirklich auch die Spatzen von den Dächern pfeifen.

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LeerWo von neuem Leben die Rede ist, da ist ein „altes” Leben als das alte abgetan und überwunden. Zwiefach ist das „Alte”, das in dem Neuen vergangen, aber zugleich erfüllt ist. Beides muß zuerst da sein, aber beides muß überwunden und verwandelt werden, damit das „Neue” Gestalt gewinnen kann.

LeerDa ist zuerst und vor allem das „Leben” selbst in seiner sinnlichen Kraft, in seiner vitalen Mächtigkeit; das Leben, das wir als unerhörtes Geheimnis in all unsren Gliedern und Sinnen tragen und spüren, das Leben, in dem wir zutiefst verwandt sind allem organischen Leben in Pflanze und Tier; die rauschenden Ströme unsres Blutes, die mächtigen Triebe, die geheimnisvolle Werkstadt unsrer Sinne, in der wir unaufhörlich die Welt an uns reißen und uns zu eigen machen. Dieses sinnliche, leibhafte, bluthafte Leben muß da sein, sonst findet das neue Leben keinen Stoff, aus dem es sich aufbauen, keinen Ackerboden, aus dem es die Nahrung seines Wachstums ziehen kann.

LeerAber dieses Leben bedarf der Bändigung und Zucht durch die moralische Ordnung, durch das Gebet. Ohne das sittliche Gesetz entartet das Leben zur Willkür, in der es sich selber zerstört. Das gilt nicht von Pflanze und Tier; aber es gilt von dem Menschen, der in dem Geschenk der Freiheit die Möglichkeit empfangen hat, sich selbst zu verderben. Das Gesetz bändigt das wilde Tier hinter den Gitterstäben äußerer Ordnung, und es bildet die chaotischen Kräfte nach dem Willen des Gebotes. Die Botschaft des neuen Lebens erklingt nicht im leeren Raum. Sie wendet sich nicht an die außermenschliche Natur, die wohl das Gesetz, aber nicht das Gebot kennt, sondern an die Menschenwelt, in der die Ordnung des „Du sollst” aufgerichtet ist.

LeerAber beides, die vitale Kraft und das moralische Gebot, bleiben innerhalb des Kreises. Sie tragen beide ihr Widerspiel in sich, das sie im Wechsel der Gestalten aufhebt und ablöst. Über aller natürlichen Lebendigkeit lastet das Verhängnis des Todes, und alle moralische Ordnung erregt zugleich den Widerspruch, die Empörung, die Sünde. Wo das Leben aufsteigt zu der Höhe leibhafter Gesundheit, Schönheit und Kraft, da folgt unentrinnbar auch das Welken, Vergehen und Sterben; und wo die heilsame Ordnung des Gesetzes das Leben in seine Schranken weist, da wird zugleich offenbar der Drang zum Maßlosen und grenzenlosen, die dämonische Wildheit des Blutes und die Abgründe der Bosheit. In den grausamen Kreislauf dieser Gestalten sind wir verflochten; aber eben diesen zwiefachen Kreislauf durchbricht das neue Leben. Das „Neue” Testament wäre nicht das Buch vom „neuen” Leben, wenn es nicht über beides, über das natürlich kräftige, aber dem Tod verfallene, und über das moralisch geordnete, aber der Sünde verfallene „alte” Leben hinausführte.

LeerDie Überwindung der Moral geschieht nicht durch eine noch höhere, noch feinere moralische Ordnung, sondern durch die Vergebung der Sünden. Luthers Kampf gegen die Werkgerechtigkeit ist der Kampf gegen den Wahn, man könnte durch gesteigerte Willensanstrengung oder durch kultische Bemühung den Ring des Alten sprengen und zum Neuen durchdringen. Das Neue geschieht vielmehr dadurch, daß wir samt unsren Widersprüchen, unsrer Sünde und Schuld, uns tragen lassen von einer ewigen, unbegreiflichen und immer unverdienten Güte und demütig genug werden, die Sicherheit und Freudigkeit unsres Lebens gar nicht mehr auf Leistung und Anspruch, sondern allein auf das Geheimnis der Gnade zu gründen. Dieses ist die Umkehr zur Kindschaft, und die Heimkehr des verlorenen Sohnes ist das höchst erstaunliche Sinnbild dieses neuen Lebens.

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LeerDie Überwindung des Kreislaufs von Leben und Sterben geschieht nicht durch gesteigerte Vitalität, nicht durch die Verherrlichung des starken und edlen Blutes, auch nicht durch heroische Verachtung des Todes, sondern geschieht durch die „Auferstehung”. In der Auferstehung ist der Tod ganz ernst genommen und nicht der schreckliche Kreislauf durch ein Trugbild der Unsterblichkeit verdeckt. Der Weg des Lebens führt durch das Sterben hindurch. Aber er verwandelt den furchtbaren Rachen des Todes in ein Tor, durch das der Mensch hindurchschreiten muß, um an dem eigentlichen Leben Anteil zu gewinnen. Den unerhörten Mut, auch den leiblichen Tod, der unser irdisches Dasein vernichtet, in diesen Glauben einzubeziehen, gewinnt freilich nur der, der schon innerhalb dieses Lebens die Schmerzen des Todes gekostet und eben in dieser äußersten Verzweiflung das Wunder eines neuen Lebens erfahren hat. Das offene Grab, der weggewälzte Stein ist das biblische Bild, in dem diese Aufhebung der Grenze, das Leben jenseits der Grenze erscheint.

LeerDie beiden Formen des „alten” Lebens sind in den Schriften des Neuen Testaments verkörpert in Griechen und Juden; jene haben die Offenbarung des natürlichen Lebens, diese die Offenbarung des Gesetzes empfangen. Beide Mächte des Lebens aber vermögen nicht den Menschen „gerecht” zu machen, d. h. seinem Leben den göttlichen Sinn zu verleihen. Über jeder Gestalt des „alten” Lebens lastet das Verhängnis der Sünde und des Todes. Christus aber ruft ebenso die Griechen wie die Juden und hat aus den zweien - aus Vitalität und Moral! - einen neuen Menschen gemacht. Die Freudenbotschaft von dem neuen Menschen und dem neuen Leben ist das große Thema des Römerbriefes und des Epheserbriefes.

LeerDie Botschaft von dem neuen Leben ist die Botschaft von Jesus Christus. In einem doppelten Sinn: In Jesus Christus haben seine Jünger angeschaut und verstanden den Einbruch Gottes, den sieghaften Einbruch der Liebe und des Lebens in die Welt der Sünde und des Todes. Weil an ihm die Macht der Sünde und die Macht des Todes sich zu ihrer letzten furchtbaren Höhe steigern, wird zugleich ihre Macht gebrochen und überwunden. Die viel geschmähte Theologie des Apostels Paulus ist nur die tiefsinnige Deutung dessen, was auch die Evangelien als die frohe Botschaft Jesu Christi verkündigen: Die Sünder, die sich der ihnen begegnenden Gnade anvertrauen, sind zum Freudenmahl im Reich Gottes geladen, und das geopferte Leben dringt durch die Pforte des Todes hindurch in das Reich des Lebens und der Freude. Eben dies schaut die christliche Gemeinde an in dem Sterben und Auferstehen Jesu Christi.

LeerAber sie schaut es nicht nur an wie ein Bild, das ihr von ferne gezeigt wird, sondern sie erlebt es in Sich selbst und läßt es immer von neuem an sich geschehen. Die Kirche Jesu Christi führt ihre Glieder den Christusweg zur Kindschaft; sie macht ihnen Mut zu sterben, indem sie in ihr Leben einsenkt den Keim des neuen Lebens. Die christliche Kirche lebt ganz und gar von Ostern her. Das Geheimnis des neuen Lebens ist ihr eigentliches Heiligtum. Sie kann ihren Gläubigern nicht ersparen, daß sie in Sünde und Tod die Macht des alten Lebens erfahren, und sie wehrt aller Schwärmerei, als ob für den auf Erden lebenden Menschen das Rad des Geschehens, der grausame Kreislauf seine Macht verloren hätte. Aber sie ,verkündigt nicht nur, sondern sie bezeugt und verwirklicht in der Gemeinschaft der Gotteskinder, in dem Leben zeugenden Wort, in der leibhaften Wirklichkeit der Sakramente, daß das neue Leben angebrochen ist, und daß wir Christus anziehen dürfen als das wahrhaft neue Gewand des Lebens, als die in Christus Getauften das weiße Kleid der Erneuerung tragen und an dem für uns gedeckten Tisch die Speise des neuen Lebens empfangen dürfen. Das Alte ist vergangen, und die neue Welt hat in Christus und den Seinen ihren Anfang genommen.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1934, S. 75-78

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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