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Kirche und Geschichte - ein Briefwechsel
von Wilhelm Stählin

Leer...Was mich in diesen Monaten vor allem beschäftigt und umtreibt, ohne daß ich schon klar sehe, ist die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Geschichte. Sie hat mich schon immer bewegt; aber heute scheint sie mir die zentrale Frage zu sein. Es beunruhigt mich, daß die sogenannte Bekenntnisfront in der Kirche sich immer schroffer auf den Standpunkt stützt: Offenbarung Gottes ist allein in der Geschichte, von der wir in der Bibel Kunde erhalten. Daß sich dagegen das nationalsozialistische Bewußtsein der Deutschen Christen auflehnt, verstehe ich. Freilich geht es nun nicht an, daß man der Bibel und der politischen Geschichte in gleicher Weise Offenbarungscharakter zuerkennt, um dann naiv zu behaupten, die Offenbarung in der Bibel und die Offenbarung in Rasse und Geschichte bedeuten im Grund das Gleiche. Diese Lösung ist zu primitiv, um richtig zu sein; aber in ihrer Primitivität und darin, daß sie für ein rein politisches Denken die bequemste ist, liegt ihre Stärke und ihre Gefahr für die Kirche. Dann freilich wäre die Frage, wie sich der Totalitätsanspruch des Staates mit dem der Kirche vertrage, sehr einfach gelöst.

LeerSagt man dieser Scheinlösung ab, so steht freilich dafür die andere Frage auf, was dann die Kirche überhaupt noch für einen Sinn habe. Aber wo liegt zwischen Entwertung der Geschichte und Entleerung der Kirche der richtige Weg? In einer Zeit, in der das geschichtliche Geschehen so sehr alles Leben der Menschen überschattet und an sich reißt, wird die Predigt von der religiösen Belanglosigkeit der Geschichte nur die Müden, Verdrossenen, Verschüchterten an sich ziehen und die Kirche in irgend einer Form in die Katakomben führen. Vielleicht muß das sein; ich weiß es nicht. Wenn ich höre, mit welcher Sicherheit heute Theologen gegen die Vergötzung der Geschichte die Einmaligkeit und Ausschließlichkeit der biblischen Offenbarung verkünden, dann empfinde ich aufs stärkste, wie viel näher mit die Linie Ranke-Hegel-Spengler liegt. „Jedes Zeitalter ist unmittelbar zu Gott.” Aber dahinter steckt vielleicht der verfluchte Liberalismus und Historismus. Und wo findet hier die Kirche ihren besonderen Standort ...

LeerDu schneidest die ganz große und schwierige Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Geschichte an; und Dein Brief hat mich veranlaßt, in diesen Wochen immer wieder darüber nachzudenken. Ich möchte Dir, ohne im einzelnen auf Deine Ausführungen einzugehen, in ein paar zugespitzten Sätzen andeuten, in welcher Richtung mein Nachdenken geführt hat.

Leer1. Geschichte gibt es nicht in der „kreisenden” Zeit, die in dem feierlichen Rhythmus der Gezeiten Tag und Nacht, Sommer und Winter kommen und gehen und wiederkommen läßt; sondern allein in der „strömenden” Zeit, die unerbittlich „verläuft”, nicht umkehrbar ist, die einen Anfang und ein Ende und darum eine Richtung hat. Das Symbol der einen Zeit ist der Kreis, das Symbol der anderen Zeit ist der Pfeil, der, von einer unsichtbaren Sehne geschnellt, einem unsichtbaren Ziel zujagt. Die Voraussetzung der Bibel und ihres gesamten Inhalts ist das unbedingte und ausschließliche Ernstnehmen der Zeit, die wie ein Strom von ihrem Ursprung zu ihrem Ziel rinnen muß. Wenn man das heute als ein typisch vorderasiatisches Weltbild bezeichnet, so ist mit allem Ernst zu sagen, daß dieses Weltbild und dieses Verständnis der Zeit schlechterdings die Voraussetzung für ein Ernstnehmen der Geschichte ist; während in einer Zeit, die im Bild des Kreises oder des Rades angeschaut wird, also in einem ewigen Wechsel und Wandel aller Dinge, im Grunde überhaupt nichts geschieht.

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Leer2. Der Fortschrittsglaube war ein Versuch, der Geschichte einen Sinn zu verleihen, durch den Glauben an einen Idealzustand, dem sich die Menschheit in sehr langen Entwicklungsräumen allmählich annähert. Dieser Glaube ist eine Illusion. Das Reich der Humanität, das hier als das letzte Ziel aller menschlichen Entwicklung verehrt wird, ist einer der großen Wunschträume der Menschheit; und die Behauptung, daß die Menschheit sich auf dieses Ziel hin entwickele, wird durch jede ernsthafte Geschichtsbetrachtung als Illusion entlarvt.

Leer3. Die mystische Frömmigkeit enthält den umgekehrten Versuch. Hier soll der Mensch den im Grunde sinn- und wesenlosen Wechselfällen seines persönlichen ebenso wie des öffentlichen Lebens entnommen werden und in der Verbindung mit einer aller Zeit überlegenen Ewigkeit Halt und Geborgenheit finden. Diese aus der flüchtigen Zeit in die unwandelbare Ewigkeit sich bergende Frömmigkeit („mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen”) hat zu allen Zeiten und in allen Religionen, auch im Umkreis des Christentums, unzählige Menschen getröstet und ihnen innere Ruhe und Gelassenheit gegenüber der Unbeständigkeit und Hinfälligkeit unsres Lebens gegeben. Diese Gelassenheit aber droht ständig umzuschlagen in Gleichgültigkeit, die weder das persönliche Schicksal noch die Geschichte der Völker ernst nimmt. Im Gegensatz zu dieser geschichtslosen Ewigkeitsmystik lernen wir heute wieder neu darauf zu achten, daß von Ewigkeit in diesem Sinn in der Bibel überhaupt nicht die Rede ist; der Ausdruck „von Ewigkeit zu Ewigkeit” ist typisch dafür, daß hier der Blick nicht auf eine in sich ruhende Ewigkeit, sondern auf einen Anfang und ein Ende gerichtet ist.

Leer4. Die Menschwerdung Gottes bedeutet das Eingehen Gottes in die Geschichte. Damit erhält die Geschichte eine Mitte, auf die sie bezogen ist. Die Jahre der Zeit sind Jahre vor Christi Geburt oder Jahre nach Christi Geburt. Aber diese Menschwerdung Gottes in Christus ist nach dem klaren biblischen Verständnis nur der Anfang seiner vollkommenen Offenbarung, seiner sichtbaren Erscheinung am Ende der Tage. Darum ist der neugesetzte Anfang zugleich der Anfang vom Ende. Christus ist das A und das O. Wir leben in der Zeit zwischen der Geburt Christi im Fleisch und seinem Kommen in Herrlichkeit. Alle Geschichte, die sich in den Jahren nach Christi Geburt abspielt, ist eine Kette menschlicher Leidenschaften, Versuche und Mißerfolge, Erschütterungen und Illusionen; und diese Geschichte empfängt ihren Sinn ausschließlich von ihrer Beziehung auf das kommende Gottesreich. Insbesondere ist die Idee des „Reiches” der spezifisch deutsche Ausdruck dieses Geschichtsverständnisses. Das Spiel vom Kaiserreich und dem Antichrist aus der Zeit Barbarossas ist der grandiose und erschütternde Ausdruck dieses letzten Wissens, daß das Reich nur entweder ein christliches oder ein antichristlliches Reich sein kann. Wenn es überhaupt einen Sinn hat, daß wir unsre Jahre von Christi Geburt an zählen, so ist ein anderes Verständnis der Geschichte gar nicht möglich. Daß die Christenheit in den „letzten Zeiten” lebt, ist gänzlich unabhängig von der Dauer dieser letzten Zeit.

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Leer5. Die Ausgießung des heiligen Geistes und die Stiftung der Kirche begründet echte Geschichte in der Zeit zwischen Geburt und Wiederkunft Christi. Die nach Christus lebende Menschheit steht nicht in einem bloß historischen Verhältnis zu dem Ereignis des Jahres 1, sondern sie steht in einem ganz bestimmten Verhältnis zu dem, was eigentlich „im Gange ist”; der Gegensatz zwischen dem Ja und Nein zu Christus, zwischen Erwartung und Widerstand spielt sich im Schoße der Menschheit als ein realer Kampf ab. Nicht der Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube, sondern der Gegensatz zwischen falschem Glauben und wahrem Glauben ist seit Christus der eigentliche Sinn der Weltgeschichte. Der falsche Glaube stellt sich dar als der Glaube an die Illusion; dies ist die unter uns gegenwärtige und mächtige Form des Götzendienstes. Die Aufgabe der Kirche ist es, diesen Kampf als den Sinn der Geschichte, auch der politischen Geschichte zu verkündigen und den Irrglauben als solchen zu entlarven. - Wenn also die christliche Verkündigung nicht als Bericht von einem historischen Ereignis mißverstanden wird, so bedeutet sie alles andere eher als eine Entleerung der Geschichte. Sie bedeutet vielmehr, daß die Geschichte ganz radikal ernstgenommen wird als der Ort eines Entscheidungskampfes. Alles Handeln in der Geschichte hat, einerlei ob die Menschen das wissen oder nicht, Anteil an diesem Kampf; in diesem Kampf vollzieht sich ein Gericht, das heißt eine Scheidung, die heute verborgen ist, die aber offenbar wird. Die Behauptung, daß die Geschichte selbst nicht nur Kampfplatz sondern Quelle der Offenbarung sei, kann nur bedeuten, daß der Sinn der Geschichte aus ihr selbst und nicht von ihrem Ende her zu begreifen ist. Diese Behauptung aber ist eine raffinierte List des Teufels, um mit der christlichen Verkündigung zugleich die Quelle aller echten Erkenntnis zu zerstören und sich selbst der Geschichte zu bemächtigen.

LeerIndem ich diese Sätze niederschreibe und sie Dir als Antwort auf Deine Frage zusende, erschrecke ich selbst davor, wie folgenschwer das alles ist, was ich da gesagt habe. Wir sind so sehr entwöhnt, Christus wirklich als den Herrn auch der Geschichte anzusehen, daß wir erst mühsam uns zurücktasten müssen zu dem, was dem echten Christusglauben zu allen Zeiten selbstverständlich gewesen ist. Ein verweltlichtes Christentum weiß ja nicht mehr um Anfang und Ende aller Dinge. Es ist preisgegeben den sehr gewaltigen, aber auch sehr unheimlichen Mächten des innerweltlichen Geschehens. Wir aber sind heute unsrem Volk schuldig, uns selbst und andere unter die ganze erschreckende Größe der christlichen Wahrheit zu beugen. Oder aber wir müßten ehrlicherweise aufhören zu bekennen, daß Jesus Christus kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten. Und wir müßten auch aufhören, die Jahre, in denen wir leben, zu zählen als Jahre nach Christi Geburt.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1934, S. 161-164

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-24
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