Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1935
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Schicksal, Schuld und Gott *
von Walter Uhsadel

LeerDie beiden ersten Worte dieses Themas stellen uns vor eine der schwierigsten Fragen, die unserm Denken gestellt sind, eine Frage, die in vielfältiger Abwandlung wiederkehrt: Wo sollen wir das entscheidende Schwergewicht unseres Lebens suchen, im freien oder im unfreien Willen, in dem Verhängnis, das über uns zu walten scheint oder dem Willen zur Selbstbehauptung, in dem Los, das uns gefallen ist oder dem Streben, das uns beseelt, in der Naturnotwendigkeit, mit der unser Leben abzulaufen scheint oder der Macht der Persönlichkeit, die es gestaltet, in der Lebensangst, die uns jagt, oder dem Trotz, mit dem wir uns aufbäumen, im Zufall, der mit uns spielt, oder unserer Willkür, in dem Fluche, der auf uns lastet, oder dem Segen, den wir uns zu erkämpfen meinen, in dem, was wir sollen, oder was wir sind und haben?

LeerOb es überhaupt möglich ist, Antwort auf dieses Fragen zu geben und das Knäuel, das sie darstellen, zu entwirren? Und wenn es möglich ist, es zu entwirren, ob dann nicht zwei Fäden herauskommen - Schicksal und Schuld - und alle Bemühungen, sie mit einander sinnvoll zu vereinen, sie zu einer schönen, glatten Schnur zusammenzudrehen, mißlingen, weil sie immer wieder auseinanderspringen? Wer den Knoten lösen will, muß jedenfalls mit großer Geduld darangehen. So wollen wir zunächst einmal das eine Ende anfassen und fragen: W a s  v e r s t e h e n  w i r  u n t e r  S c h i c k s a l ?

LeerWir brauchen das Wort Schicksal fast nur im negativen Sinne, in Redewendungen wie „das ist nun einmal mein Schicksal” oder indem wir reden von dem harten, traurigen, unerbittlichen Schicksal. Wir meinen damit eine Fessel, die uns angelegt ist, einen Bann, unter dem wir unausweichlich stehen. Und in der Tat scheint ja unser Leben unbarmherzig festgelegt zu sein. Wir können den Menschen sehen als „Naturwesen” - ist er dann nicht völlig abhängig von den Naturmächten, unter denen er lebt, Blut, Boden, Himmelsstrich und allem, was damit zusammenhängt? Wir können ihn sehen als Gemeinschaftswesen - ist er dann nicht ohne Gnade hineinverflochten in das Leben seiner Familie, seines Volkes, in die Geschichte, das Geschehen, das sich an dem größeren Ganzen, dem er zugehört, vollzieht? Wir können ihn schließlich auch sehen als Einzelwesen - ist er als solches nicht das Ergebnis einer vielfältigen Ahnenschar, die sein Wesen bestimmt? Kann er aus seiner Haut heraus? Hat er nicht seinen Charakter, das Gepräge seines Wesens, wie seinen Körperbau unabänderlich mit auf den Weg bekommen? Muß er nicht mit allem, was er tut sagen: „Ich bin nun einmal so”?

LeerSo sehr wir geneigt sein mögen, uns so festgelegt zu sehen, um uns damit ent-schuldigen zu können, so erschreckend ist es doch für jeden, wenn er darin ernst genommen und ihm gesagt wird: So bist du. Er merkt dann, daß der, der da aus ihm heraus spricht „Ich bin” gar nicht jene wohl geordnete bürgerliche Fassade ist. Er hat das Empfinden: ich bin ein Abgrund mit tausend Möglichkeiten und bin der Spielball dieser Möglichkeiten. Ich bin gar nicht so festzulegen und bei einem endgültigen „So bist du” festzuhalten.

LeerIm alten China hat man davon gewußt: Der Mensch besteht aus den wirkenden Kräften des Himmels und der Erde. Er besteht aus der Vereinigung eines Kwei und eines Schen, sie aber sind die feinsten Teilchen von Yin und Yang, Himmel und Erde. So ist er ein Widerspiel unergründlicher Mächte, die er in seine Gewalt zu bekommen trachten muß. In Indien nennt man das Gleiche „alle Götter”. In unserm Leibe wirken alle Götter als Kräfte. Sie sind uns nicht untertan, sondern führen ein eigenwilliges Dasein. Der Mensch aber versucht im Yoga dieser Götter Herr zu werden.

Linie

LeerMüssen wir uns, wenn wir davon hören, nicht entsinnen, daß im Neuen Testamente die Rede ist von Dämonen, die den Menschen in Besitz nehmen, und daran, daß es von Jesus heißt, daß er gekommen ist, in das Reich der Dämonen einzubrechen und daß er seinen Jüngern Vollmacht gab, Dämonen auszutreiben? Und müssen wir uns nicht erinnern, daß im Alten Testamente die Rede ist von den „Götzen” als „allen Göttern”: „Schämen müssen sich alle, die den Bildern dienen und sich der Götzen rühmen. Betet ihn an, alle Götter” (Psalm 97). Dürfen wir nicht auch daran denken, daß die moderne „Tiefenpsychologie” (die ihren Namen freilich nicht immer zu recht führt) uns lehrt, daß ja tatsächlich die „tausend Möglichkeiten” in uns sich in „Bildern”, in Symbolen darstellen, die uns faszinieren, denen wir huldigen und fröhnen?

LeerIndem der Mensch nun aber danach trachtet, aus sich selbst heraus der Dämonen Herr zu werden, erlebt er schwere Zusammenbrüche. Er weiß sich von etwas besessen, belastet, versucht, umgarnt. Er kämpft dagegen unter Aufbietung aller Kräfte, die er in sich zusammenrafft; er fühlt, daß es vergeblich ist, er flieht, er wendet sich ab, macht die Augen zu, steckt den Kopf in den Sand, versucht zu vergessen - und hinterrücks überfällt es ihn wieder. Und je mehr er kämpft, desto mehr scheinen die unheimlichen Gewalten zu wachsen, um ihn schließlich zu übermannen. Dann sagt er: Es ist mein Schicksal, ich bin nun einmal so einer, ich bin ein geborener Pechvogel.

LeerWir nennen das F a t a l i s m u s . Der Mensch fühlt sich unter einem Verhängnis, unter einem Los, das ihm geworden ist, einer grausamen Naturnotwendigkeit, einem Fluch, zur Ohnmacht verdammt. Aber es bleibt ihm dennoch eine Ahnung, baß der Bannkreis des Verhängnisses nicht geschlossen ist, daß irgendwo doch noch die Möglichkeit einer Frage, eines „Einwandes” besteht. Es bleibt trotz aller fatalistischen Resignation in ihm eine a n k l a g e n d e  u n d  r i c h t e n d e  Instanz lebendig. „Es ist ein Mensch hier innen, der mir zürnt”. Und ein solcher Mensch ist nicht nur „hier innen”, sondern um ihn her sind viele Menschen, die ihm zürnen. Sie greifen ihn an, sie rütteln ihn, sie mahnen, sie beschwören ihn, sie klagen an, s i e  s u c h e n  n a c h  s e i n e r  S c h u l d .

LeerDer Mensch aber verstockt sich dagegen. Aber es schreit in ihm nach Hilfe; denn gegen den Richter „hier innen” kann er sich nicht so verstocken. Und es kann auch der Richter in ihm, wie die da draußen, lieblos sein oder bewegt von einer falschen, nicht echten, strengen, hilfreichen Liebe. Auch er kann rufen wie die Menschen ringsumher: Du mußt trotzen, deine Energie aufbieten, mußt eine Tat wagen, den Segen erkämpfen, das Gute in dir nähren und entwickeln. Diesen Appell an den Menschen nennen wir M o r a l i s m u s .

Linie

LeerBeide aber, F a t a l i s m u s  u n d  M o r a l i s m u s , sind die großen Entgleisungen der menschlichen Seele. Auch der christliche Glaube ist als „Christentum” (ein Wort, das Luther noch nicht kannte!), als „Christianismus” (wie die französische und englische Sprache folgerichtigerweise sagen) diesen beiden Teufeleien zum Opfer gefallen. Hat man nicht das Zeichen des Kreuzes fatalistisch verfälscht zu dem „Kreuz, das ich nun einmal tragen muß”? Und hat man nicht die Bergpredigt moralistisch verzerrt zur Forderung einer gesetzlichen „Non-violence” (Gewaltlosigkeit)?

LeerTut der Fatalismus so, als ob der Kreis des Schicksals endgültig geschlossen sei, so der Moralismus, als ob der menschliche Wille die Schuld ausscheiden und den Kreis des Lebens gegen sie abschließen könne. Aber es läßt sich nicht alles als „Schicksal” erklären. Der Mensch selbst wehrt sich dagegen. Er weiß, daß er dann erst wirklich aus dem Leben ausgestoßen wäre, wenn man mitleidig oder höhnisch von ihm sagen könnte, er sei einer, „der nicht dafür kann”. Das französische Sprichwort: „
Tout comprendre, c'est tout pardonner” ist eine Unbarmherzigkeit. Der Mensch, der dem Leben zugewandt ist, will „dafür können”. - Es ist aber auch nicht möglich, alles an den Willen des Menschen zu verweisen: „Wo ein Wille ist, da ist ein Weg”. Wo ein Wille ist, da braucht noch lange kein Weg zu sein. Da kann es ungezählte Hemmungen und Hindernisse geben, an denen der Mensch scheitert.

LeerDie beiden Linien, Schicksal und Schuld, oder anders: blindes Schicksal und ohnmächtiger Wille, lassen sich so nicht zueinanderbringen. Fatalismus und Moralismus sind unvereinbare Gegensätze.

LeerUnd doch fühlen wir, daß die beiden mächtigen Tatbestände unseres Lebens, die wir mit den Worten „Schicksal” und „Schuld” zu bezeichnen versuchen, zusammengehören. Es muß einen schmalen Grad geben, in dem sie sich vereinigen, einen Pfad, den wir beschreiten sollen, während es rechts und links in die Niederungen des Fatalismus und Moralismus hinabgeht. Wer in die Niederungen geraten ist, sieht die andere Seite nicht. Wer aber den schmalen Weg geht, der sieht beide und gibt ihnen auch das Recht, das einem jeden zukommt, ohne einem der beiden zu verfallen.

LeerEs ist nicht leicht, diesen schmalen Weg zu gehen, aber er ist der Weg zum Leben: „Gehet ein durch die enge Pforte; denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet, und viele sind ihrer, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führet; und wenige sind ihrer, die ihn finden” (Matth. 7, 13-14). Dieses Wort der Bergpredigt darf nicht moralistisch mißdeutet werden. Es spricht von dem Wege des Glaubens, dem Wege des Gehorsams, der da spricht: Dem Wille geschehe.

LeerWollen wir noch einmal auf das am Anfange gebrauchte Bild zurückgreifen, so könnten wir uns erinnern, daß zwei Fäden sich eben nur so lange zu einer Schnur vereinen lassen, wie sie an beiden Enden festgehalten werden. Sobald das eine Ende losgelassen wird, lösen sie sich auf.

Linie

LeerSo auch hat der Weg des Menschen einen festen Anfang und ein festes Ende, er ist ausgespannt zwischen Gottes Händen, er ist S e n d u n g  und B e r u f  u n g . Es hak keinen Sinn, vom christlichen Glauben zu reden, wenn man nicht um diese beiden Worte weiß: Sendung und Berufung. Wo sie einem Menschen lebendig werden, da verlieren die beiden andern Worte, S c h i c k s a l  und S c h u l d , ihre dämonische Macht über ihn. Sie sind noch da, aber sie werden hineingegeben in Gottes Hände: „Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorget für euch. Seid nüchtern und wachet; denn eure Widersacher, der Teufel, geht um wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge. Dem widerstehet, f e s t  i m  G l a u b e n ” (1. Petr. 5, 7-9). „So ich aber durch Gottes Finger die Teufel austreibe, so kommt ja das Reich Gottes zu euch. Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das Seine in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Harnisch, darauf er sich verließ, und teilt den Raub aus” (Luk. 11, 20-22). Solche Worte des Neuen Testamentes bleiben völlig dunkel, wenn das Bild des menschlichen Lebens in dieser Welk nicht unter das Licht der Unterscheidung gerückt ist, der Unterscheidung zwischen Gott und Welt, zwischen Schicksal und S e n d u n g , menschlichem Willen und B e r u f u n g . Die Heilige Schrift kennt den Begriff „Schicksal” nicht. Sie spricht von dem Rat Gottes (Dein Rat steht nicht in der Menschen Gewalt, Tob. 3, 21), der Bahn Gottes (Ich setze meinen Fuß auf seine Bahn und halte seinen Weg und weiche nicht ab, Hiob 23, 11). Dagegen ist in ihr davon die Rede, daß Gott Menschen zu etwas „setzt” oder sendet, und Jesus sagt: Ich sende euch. Und die Begriffe Sünde und Schuld bedeuten in der Heiligen Schrift nicht ein Versäumnis des Menschen gegen sich selbst, sondern gegen Gott, gegen Gottes Willen, der geschehen soll, wie im Himmel also auch auf Erden, und gegen seinen Ruf. Darum kehrt in den Briefen des Apostels Paulus immer wieder die Mahnung, daß die Christen eingedenk sein möchten ihrer Berufung (ihres „Berufes”).

LeerDen schmalen Weg der Sendung und Berufung zu gehen, das heißt Gott zu „glauben”. Nun kann aber der Mensch „entfallen von des rechten Glaubens Trost” (wie es in dem von Luther gedichteten letzten Verse des Liedes „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen” heißt). Er kann hinabgleiten in die Niederungen des trost-losen, weil gott-losen Fatalismus oder Moralismus, in die Schicksalsgläubigkeit oder den Eigenwillen und Eigensinn, die in die „Verdammnis”, ins Nichts, in die Sinnlosigkeit führen.

LeerDas aber ist die Verdammnis, daß er in beiden Fällen sich den „tausend Möglichkeiten”, „allen Göttern” (die er neben Gott nicht haben soll), den Geistern der Unterwelt, die in ihm und um ihn lauern und rumoren, preisgibt: „Ich heiße Legion, denn unser sind viele” (Marc. 5, 9). Und alles wird zum Dämon, was von Gott losgerissen ist, auch die höchsten, edelsten, „heiligsten” Güter. Darum: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, als daß der ganze Leib in die Hölle geworfen werde” (Matth. 5, 29).

LeerDer Weg des Lebens ist der Weg im Gehorsam des Glaubens. Darum kann der, von dem es heißt, „er ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz (einem vom Schicksalsgedanken her unfaßlichen und sinnlosen Tode)”, darum kann er von sich sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich” (Joh. 14, 6).

LeerUnd darum mahnt Paulus: „Nehmet gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi” (2. Kor. 10, 5) und kann sagen: „Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen” (Röm. 8, 28), „Gott ist es, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen” (Phil. 2, 12), „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen” (Röm. 9, 16).

*: Anmerkung: Eine der wesentlichsten Aufgaben, die uns heute gestellt sind, ist die, dem Gebildetem zu einer Klärung der Begriffe zu helfen und ihm dadurch das Tor zu einem Verstehen der geistlichen Sprache aufzutun. Dieser Aufsatz gibt in knapper Form einen Gemeindevortrag aus einer Vortragsreihe wieder, in der versucht wurde, diese Aufgabe anzugreifen.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1934/35, S. 119-124

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-02-03
Haftungsausschluss
TOP