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Dagon
von Wilhelm Stählin

LeerKennt ihr die Geschichte vom Dagon, meine Freunde? Es ist eine seltsame Geschichte; und wenn nicht einer meiner Religionslehrer auf dem Gymnasium sie uns mit besonderem Nachdruck und Wohlgefallen erzählt hätte, dann wäre sie mir vielleicht auch verborgen geblieben. Jetzt aber ist die Erinnerung an den Dagon in mir wieder aufgewacht, und es scheint mir an der Zeit, die Geschichte vom Dagon für nachdenkliche Menschen zu erzählen.

LeerIch habe nichts anderes zu erzählen, als was im 5. Kapitel des 1. Samuelisbuches berichtet ist. Die Philister hatten einen Gott, der hieß Dagon und wurde in seinem Heiligtum zu Asdod verehrt. Hieronymus wußte noch von diesem Kultus des Dagon und hielt ihn für einen Fischgott. Da man aber als sein Zeichen eine Kornähre gefunden hat, so glaubt man, daß Hieronymus sich geirrt und Dagon ein Gott des Getreides, des Ackerbodens und der Fruchtbarkeit gewesen ist. Aber das ist schließlich nicht so wichtig; sicherlich ist Dagon eine der vielen Naturgottheiten gewesen, die sich von der großen Völker- und Götterwiege am Euphrat aus über ganz Vorderasten vermehrt und verbreitet haben. War er ein Fischgott, dann verehrten die Philister in ihm das geheimnisvolle Urelement des Wassers und die Kraft eines Lebens, das selbst noch ungeformt und unbewußt diesen Urtiefen entstammt. War er der Ährengott, dann stand seinen Verehrern vor der Seele das Geheimnis der mütterlichen Erde, die aus ihrem Schoße den Menschen das tägliche Brot beschert.

LeerDie Philister führen Krieg gegen Israel und siegen. Sie gewinnen als stolzeste Kriegsbeute das Heiligtum der Kinder Israel, die Lade des Bundes. Sie bringen sie heim nach Asdod und stellen sie, übermütiges Zeichen ihres Triumphes, in den Tempel des Dagon: zwei Götter unter einem Dach. Der Gott der naturhaften Kraft und der Gott, der seinem Volk, das er erwählt hat, verbot, ihn in irgend einem irdischen Bild anzuschauen und der ihm die Urformen sittlicher Volksgemeinschaft als seinen unverbrüchlichen Willen offenbarte: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst... du sollst nicht...!” Der Gott der Offenbarung, der Gott des sittlichen Willens soll als Beute und Schmuckstück den Ruhm der Naturgottheit vermehren. Das heißt es, wenn die Philister die Bundeslade stellten in den Tempel ihres Dagon. Freilich, sie wußten nicht, was sie taten.

LeerHätten sie es gewußt, so hätten sie es wohl nicht unternommen, denn es ist Feindschaft zwischen den Göttern wie zwischen den Völkern. Der Gott vom Sinai, der Heilige in seinem Volk, läßt nicht mit sich spotten und gibt seine Ehre nicht einem Götzen preis. Das sittliche Gebot ist alles andere eher als ein Schmuckstück im Tempel der Natur. „Die Lade Gottes” neben einem Dagon: das ist nicht möglich. Am anderen Morgen liegt Dagon auf seinem Antlitz auf der Erde vor der Lade des Herrn. Und da die Philister, nicht ahnend, was sie taten und was da geschah, den Dagon wieder an seinen Ehrenplatz stellen, da liegt er am anderen Tag wieder am Boden, und sein Haupt und seine beiden Hände abgehauen neben ihm. Der Gott der Natur ist entthront, entmächtigt und zerbrochen, wo er dem wahren Gott begegnet, der sich offenbart in der Geschichte als der Gott der Heiligkeit und des sittlichen Gebotes.

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LeerDie Philister sind voll Entsetzen und beeilen sich, die gefährliche Beute aus dem Bereich ihres Volkes und ihres Gottes zu entfernen. Sie haben ja keine echte Offenbarung empfangen. Sie haben die Lade des Herrn geraubt. Auf einem geraubten Zeichen des Heils aber kann kein Segen liegen. Das Himmelsfeuer - so drückt die Prometheus-Sage den gleichen Sachverhalt aus - muß den, der es nicht als Geschenk empfangen, sondern es sich als Raub genommen hat, verbrennen und verderben.

LeerNoch ist die Stunde nicht erfüllt, da die Verehrer Dagons selber den Ruf des lebendigen Gottes vernehmen könnten und dessen Beute würden, den sie jetzt für ihre Beute halten. - Das echte Heidentum muß die Zeichen des lebendigen Gottes aus seiner Mitte verbannen, weil es schrecklich erfährt, was für ein gefährlicher Fremdkörper jener unbegreifliche Gott im Tempel der Naturmächte ist. Man kann nicht den Herrn Himmels und der Erde stellen neben Dagon, Baal oder wie sie alle heißen, die Götter des Wassers und der Erde, des Feuers oder des Blutes.

LeerMan muß sich in diese Geschichte versenken, um ganz zu begreifen, was die Gestalten und Zeichen heidnischer Götter, Dämonen und Mächte in den mittelalterlichen Domen bedeuten. Als die junge und glaubensstarke Kirche des Mittelalters das Heidentum der germanischen Völker innerlich überwunden hatte, da wies sie den göttlich-dämonischen Mächten der Natur ihren Ort an in dem Heiligtum Christi. Sie mußten als überwundene Diener den gewaltigen Taufstein tragen - so ist es an dem herrlichen Taufstein in der romanischen Kirche zu Freckenhorst bei Münster zu sehen; sie stehen gebückt in den untersten Leibungen der Portale, an der Pforte, durch die der Gläubige eintritt in das Heiligtum, sie schmücken die Kapitale der gewaltigen Säulen, über denen die Dienste und Gurten aufsteigen zu den Gewölben, um schließlich dort oben im Scheitel Christus als den Schlußstein zu tragen. Sie dienen schließlich - es ist der stärkste Ausdruck christlicher Überlegenheit - als Wasserspeier: Götter- und Dämonengestalten, durch deren Leib das Wasser der Regenwochen und Gewitternächte abläuft, damit es dem inneren Heiligtum keinen Schaden zufügen kann. Dies sind die Götter der Natur, unterworfen unter ihren wahren Herrn, aber nun nicht verbannt und zerschlagen, sondern dienstbar eingefügt in den heiligen Dom, der aufwächst und hinaufstrebt bis zu der Kreuzesblume auf seiner höchsten Spitze.

LeerDas ist die umgekehrte Geschichte von Dagon. Aber während der Dagon zerbricht an dem unmöglichen Versuch, den die die Natur anbetenden Philister unternahmen, ist hier in dem mittelalterlichen Dom die innere Ordnung hergestellt. Die christliche Kirche bekennt in großartigem Sinnbild, was der Kolosserbrief (2, 15) bezeugt: daß Christus die Mächte, die diese Welt beherrschen, überwunden und zum Schaustück und dienenden Glied in dem Triumphzug seines Sieges gemacht hat.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1934/35, S. 124-126

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-02-03
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