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von Wilhelm Stählin |
Eph. 2, 1 22 Wir setzen den Versuch fort, durch eine erläuternde Umschreibung den Inhalt des Epheserbriefes deutlich zu machen. Ich wiederhole meinen Vorschlag und Rat, diese Einführung so zu gebrauchen, daß man zunächst den Text in Luthers Übersetzung (oder wer es kann, im griechischen Text) ein paarmal laut lese, danach die hier dargebotene Auslegung in sich aufnehme, um zuletzt noch einmal, und nun erst recht, den Luthertext auf sich wirken zu lassen.Wilhelm Stählin Ihr seid die Heiligen und Geliebten Gottes. In euch soll sich verwirklichen und erfüllen der ewige Ratschluß Gottes, und durch die Macht des göttlichen Geistes soll euer Leben in dieser Welt zum Lobe Gottes gereichen. Wie seid ihr geworden, was ihr seid? Wie ist das an euch geschehen. Ich muß euch erinnern daran, wie es um euch stand, ehe das Wunder an euch geschah. Nur wenn ihr dies „Einst” bedenkt, könnt ihr das „Jetzt” ermessen. Und nur weil dieser neue Tag für euch angebrochen ist, vermöget ihr in nüchterner Klarheit zu sehen, wie es um jenes Gestern bestellt war. Denn es gehört zu dem Wesen jenes Weges, den ihr nun habt verlassen dürfen, daß auf ihm der Mensch sich selbst nicht verstehen kann, sondern sich über sein eigenes Leben täuscht. Wie war es denn? Der Weg eures Lebenswandels war euch vorgezeichnet durch die Kräfte und Bestrebungen eures natürlichen Daseins. Ihr habt vollbracht, wozu euer natürlicher Lebenswille und die Empfindungen und Gedanken eures menschlichen Wesens euch trieben. Aber eben damit habt ihr euren Ursprung verloren und euer Ziel verfehlt und habt euch gegen die gottgegebenen Ordnungen versündigt. Während ihr wähntet, in Freiheit euer eigenes Wesensgesetz zu erfüllen, standet ihr in Wahrheit unter dem Bann einer geistigen Macht, die sich in euch selber auswirkte, und deren Wesen es ist, daß sie die Menschen hindert, die Stimme Gottes zu hören, und sie immer weiter wegführt von der Einheit mit Seinem unverbrüchlichen Willen. Während ihr meintet, in der Stimme eures Blutes den Ruf des Lebens zu vernehmen, waret ihr in Wahrheit dem Tode verfallen, und was ihr Leben nanntet, war vielmehr ein Sterben. Ohne es zu wissen, standet ihr in einem unentrinnbaren Verhängnis unter dem Zorn Gottes, den dieser Ungehorsam gegen sich herausfordert. Nicht sage ich das, um euch zu beschämen, als ob ihr mehr als andere ein böses oder lasterhaftes Leben geführt hättet. Ich schließe mich selbst mit ein: eure Vergangenheit ist auch die meine. - Und nicht nur das! Was von uns gilt, gilt von der ganzen Menschheit in ihrem natürlichen und ungeheiligten Zustand. In diesem triebgebundenen Leben, das die Ordnung des Gotteswillens verfehlt, erfüllt sich das innerste Wesen dieses ganzen Weltlaufs; denn diese Welt, wie sie ohne Christus ist, steht unter der Herrschaft einer geistigen Macht, die wie etwas, das in der Luft liegt und alles durchdringt, allem irdischen Wesen den Stempel ihres Wesens aufdrückt; dies ihr innerstes Wesen ist der Widerspruch und Ungehorsam gegen Gott. Dort bereitete sich das Kommen des Christus vor und anders als in der Heidenwelt warf das große Licht, das scheinen sollte, dort schon seine Schattenbilder voraus in der Geschichte dieses Volkes, seinem Kultus, seinen Propheten und seinen Königen. Dort war das Volk Gottes; ihr hattet kein Heimatrecht in dieser Bürgerschaft Gottes. Der Heidenwelt war die Verheißung nicht gegeben; das Licht der Hoffnung war nicht entzündet über eurem Dunkel; ihr hattet nichts zu erwarten, als daß sich das Todesgesetz der gottentfremdeten Welt an euch erfüllte. Die frommen Bemühungen eurer Priester, eure Tempel und eure Opfer konnten nichts daran ändern, daß ihr fern waret von Gott, gott-los in einer gott-losen Welt. Das ist der Ort, von dem ihr herkommt: die Welt ohne Christus. Aber Gott... Dieses „Aber” hat eure Lage gewendet; dieses „Aber” ist die große Wende der Welt, Zwischen eurem „Einst” und eurem „Jetzt” läuft die Grenzlinie, die Grenze nicht zwischen der schlimmen Wirklichkeit und einem Traumland unwirklicher Ideale, sondern zwischen der Wirklichkeit der Welt ohne Gott und der Wirklichkeit Gottes. „Aber Gott...” Es handelt sich nicht darum, daß sich etwa plötzlich eine Möglichkeit auftäte, die Welt ohne Gott in einem freundlicheren und weniger beunruhigenden Licht zu sehen: es sei nicht so schlimm, die starken Worte von Ungehorsam und Sünde, von Gottes Zorn und eurem Tod, weit weg von Verheißung und Hoffnung, fern von Gott, das alles sei nicht so ernst gemeint. Sondern darum gilt es ein „Aber”, weil die Wirklichkeit Gottes der Wirklichkeit der Welt begegnet: „Aber Gott”! Gott ist barmherzig; Gottes Reichtum offenbart sich in der Größe seiner erbarmenden Liebe. Die schenkende Liebe, die uns Menschen zugewandt ist, auf unsere Rettung und unser Heil bedacht, ist das eigentliche Wesen Gottes. Gott hat uns seine Huld zugewendet; dadurch, nur dadurch seid ihr aus der Welt des Todes errettet worden. Gott hat nicht etwa seine Liebe zurückgehalten, bis ihr selbst euch ihm zugewendet hättet und in euren toten Herzen sich neues Leben regte; eben in der tiefsten Not eines verfehlten Lebens, die ihr selbst auf keine Weise wenden konntet, suchte und fand euch Gottes erbarmende Liebe. Eure Rettung kam nicht aus euch selbst, nicht aus euren Bemühungen und Leistungen. Alles ist Gottes freies Geschenk, das ihr nicht verdient habt und nie verdienen könnt. Ihr habt nichts anderes tun können, als die rettende Hand zu ergreifen und euch der göttlichen Huld vertrauensvoll hinzugeben. Wäre es anders, so würde das uranfängliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch von Grund auf zerstört: Es kann und darf nichts geben, worauf der Mensch irgendeinen Ansprach, irgend eine Sicherheit vor Gott gründen könnte. Wir sind die Geliebten Gottes, nicht weil wir liebenswert sind, sondern weil Gott Liebe ist; davon leben wir. Ich könnte ebenso gut sagen: „In dem Namen Jesus Christus!” Denn in ihm hat die göttliche Gnade Gestalt angenommen. Wenn wir von Christus reden, so meinen wir nicht eine tiefsinnige Lehre, eine erhabene Idee oder dergleichen, sondern wir meinen eine leibhafte Wirklichkeit. Gott ist erschienen im Fleische, in unserem menschlichen Fleisch und Blut. Eben dies, daß Gott leibhaft geworden in dieser Welt der Leiblichkeit, hat die große Wende heraufgeführt. Was Christus vollbracht hat, hat er vollbracht in seinem Leibe, in seinem wirklichen und leibhaften Opfer. Sein am Kreuz vergossenes Blut ist das eigentliche und wahre Zeichen für den Ernst und die Wirklichkeit seines Opfergangs; in seinem Fleisch, in seinem Kreuz, in seinem Blute schauen wir anbetend das Geheimnis der göttlichen Liebe. In diesem leiblichen Opfer des Gott-Menschen ist die Kluft, die Gott und Welt von einander trennte, von Gott her überbrückt. Die trennende Wand ist durch Christus zerbrochen. Das Gesetz, das mit seinen Geboten und seinen unumstößlichen Gesetzen die Juden, die es kannten, und die Heiden, die es nicht kannten, statt sie zum Gehorsam gegen Gott zu führen, in ihrem Ungehorsam entlarvte und vor Gott verklagte, ist entmächtigt. In seinem vollkommenen Gehorsam ist der Friede zwischen Gott und Mensch hergestellt; die Feindschaft, die wie ein Drache den Menschen von Gott ferne hielt, ist getötet durch seinen Tod. Der Weg ist frei. Was alle heidnische Religion, was alle gesetzliche Treue und aller Opferkultus der Juden meint und nicht vollbringt, ist nun Wirklichkeit geworben: wir haben Zugang zum Vater. Hier ist kein Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden. Beide sind aus ihrem bisherigen Sein herausgeholt und sind verwandelt, sodaß sie Gott nicht mehr widerstreben. Und so wie beide von ihrem alten Wesen weg nun auf Gott ausgerichtet sind, so sind sie untereinander zu einer neuen Einheit zusammengefügt. Der Riß, der wie durch die Menschheitsgeschichte durch jeden einzelnen Menschen hindurchgeht, der Zwiespalt zwischen natürlicher Vitalität und gesetzlicher Forderung, der ewige Kampf zwischen Lebenswille und Moral, ist in Christus überwunden. Ja, es ist das eigentliche Werk Christi, daß er aus den beiden getrennten Hälften eine neue Ganzheit, den neuen Menschen schafft, in dem das Leben selbst heimgeholt wird in den neuen Gehorsam. Das Wunder dieser Versöhnung und Wandlung läßt sich nur beschreiben als eine neue Schöpfung. Samt allen Kreaturen hatten wir teil an dem tiefen Zwiespalt, der diese ganze Schöpfungswelt durchzieht; in Christus sind wir neu geboren als der Anbruch der neuen Schöpfung. Die Werke dieses neu geschenkten Lebens sind in Gottes Ratschluß von Anfang an das Ziel, auf das hin Er Seine Menschenkinder führen will. Einst war euer Werk und Wandel euer natürlicher Lebenswille oder die vergebliche Anstrengung eurer guten Werke; jetzt ist die Stunde, daß ihr in diesen wahrhaft guten Werken wandeln sollt! Indem ihr eingepflanzt seid in Christus als den neuen Wurzelgrund eures Daseins, seid ihr zugleich eingefügt in den Zusammenhang einer erneuerten Menschheit. Christus hat, weil er die trennenden Wände einriß, die dem Menschen den Zugang zu Gott versperren, zugleich die Mauern niedergelegt, die Mensch und Mensch voneinander trennen. Seine frohe Botschaft, daß der Drache der Feindschaft getötet und das Leben im Frieden mit Gott wiederhergestellt ist, dringt ohne Unterschied zu denen, die, an dem alten Maßstab gemessen, „ferne”, wie zu denen, die „nahe” waren. Die Kräfte der natürlichen Vitalität und die Anstrengung einer gesetzlichen Moral bedürfen in gleichem Maß der Erlösung, und sie werden beide ihrer in gleichem Maß teilhaftig. Durch das leibliche Opfer Christi ist eine neue Ganzheit gewonnen; erst durch ihn ist die „Menschheit”, die sonst die Stätte eines Kampfes aller gegen alle ist, „ein Leib”, ein in sich zusammenhängender Organismus geworden, der in Christus sein Haupt hat. Eine göttliche Geistesmacht durchströmt das Ganze. In diese neue Einheit seid auch ihr eingeschlossen. Da ist nicht mehr ein verschlossenes Heiligtum, vor dessen Toren ihr vergeblich wartet. Da ist nicht mehr ein erwähltes Volk, von dessen Art ihr geschieden seid und dessen Sprache ihr nicht versteht; nicht mehr ein heiliges Land, in dem ihr nur als die Fremdlinge ohne Heimatgefühl und Bürgerrecht geduldet seid. Mit allen „Heiligen”, an denen Gott von jeher in aller Welt sein Werk getan hat, seid ihr die vollberechtigten Bürger in diesem Gottesstaat. Gott selber hat euch in sein Hans heimgeholt, und ihr seid daheim und dürft bleiben in dieser Gotteswohnung. Ja noch mehr, Gott baut dies Haus aus lebendigen Menschen. Apostel und Propheten, Männer, die von dem Herrn selbst berufen oder von der Regung des Geistes getrieben die frohe Botschaft in die Welt getragen haben, haben den Grund gelegt; Christus selber ist der Eckstein, der alle Maße dieses Baus bestimmt und alle seine Teile zusammenstimmen läßt. Das Bild reicht nicht aus, um euch dies Geheimnis Gottes zu beschreiben, denn dieser Gottesbau steht nicht da als ein fertiges, in sich ruhendes Gebilde; nein, er wächst, wie ein lebendiger Organismus wächst, und das Ziel ist eine Menschengemeinschaft, in der wirklich und wahrhaftig Gott gegenwärtig ist. Was die Stiftshütte der Wüstenwanderung, was Gottes Haus auf dem Zionsberg, was die Tempel in aller Welt darstellen und meinen, eine Stätte der göttlichen Gegenwart, ist erfüllt in diesem aus lebendigen Menschen gefügten heiligen Tempel, in dem wahrhaft Gott gegenwärtig und sein schaffender Geist am Werke ist. Auch ihr! Auch ihr seid mit den ungezählten anderen eingebaut in diesen heiligen Bau. Nicht mehr seid ihr allein, nicht mehr lebt ihr aus euch selbst und für euch selbst. Christus, der durch sein leibliches Opfer die Feindschaft getötet hat, hat euch aus der Fremde heimgeholt und euch eingefügt an dem Ort, der euch bestimmt ist vom Anbeginn der Welt. - Dies ist es, was an euch geschehen ist. Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 38-43 |
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