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von Wilhelm Stählin |
Eph. 3, 1-4, 16 Um unsere Einführung in den Epheser-Brief in diesem einen Jahr abschließen zu können, fassen wir diesmal einen längeren Abschnitt zusammen, dessen reicher Inhalt in dem Geheimnis des erhöhten Christus seine bestimmende Mitte hat; wir erinnern daran, daß es nicht die Absicht dieser umschreibenden Auslegung sein kann, den Text in allen Einzelheiten zu erklären sondern nur eine Hilfe zum Verständnis seiner Grundgedanken und Beziehungen zu bieten.Wilhelm Stählin Was an euch geschehen ist vom Urbeginn der Welt bis auf diesen Tag, das hat sich vor unserem staunenden Auge enthüllt; nun laßt mich auch davon zeugen, was vor euch liegt als Gottes Verheißung und als eure Verpflichtung. Aber indem ich anhebe, davon zu reden, kann sich der Blick doch noch nicht lösen von dem großen Geheimnis, das um uns und über uns ist wie ein herrlicher Dom, in den wir eingetreten sind; laßt uns, davon überwältigt, noch einen Augenblick verweilen, ehe wir uns in Gebet und Mahnung zu dem Künftigen wenden. Wovon reden wir? wir reden von dem überschwenglichen Geheimnis, von dem Geheimnis des ewigen Gottes selbst. Gottes Geheimnis ist das Geheimnis seiner liebenden Erbarmung, seiner Freundlichkeit und Huld, die er unserer Menschenwelt zuwendet. Daß diese überströmende Fülle sich einmal aller Welt mitteilen sollte, war von Anfang an Gottes Weltenplan und fester Wille. Aber es war verschlossen in ihm selbst, und ganze Geschlechterreihen der Menschenkinder sind dahingegangen und haben von Gott und seinen Geheimnissen geredet, und es blieb ihnen doch das Geheimnis seiner wirkenden Gnade verhüllt. Nun aber ist Er erschienen, unser Herr, in dem der Herr der Welten seinen Ratschluß verwirklicht hat. Unsere Erkenntnis und unser Wort vermag die Fülle des Reichtums nicht auszuschöpfen, die in Christus beschlossen ist und auf uns wartet. Zu ihm haben wir Vertrauen gefaßt; der Weg in das verschlossene Heiligtum liegt offen; was uns ängstigt und lähmt, ist von uns abgefallen, und unser ganzes Sein ist von einer großen Gewißheit und Freudigkeit überstrahlt. Es ist Gottes Ordnung und Wille, daß dieses Geheimnis Christi, die frohe Botschaft, in alle Welt hinausgetragen werde; darum hat er Menschen berufen und in seinen Dienst gestellt, damit sie wie gute Verwalter über anvertraute Schätze diesen gottgegebenen Reichtum austeilen und weitergeben sollen. Darum gibt es Apostel, die den Herrn gesehen und dadurch einen unmittelbaren Einblick in das göttliche Geheimnis empfangen haben; darum gibt es Propheten, denen der göttliche Geist das Herz erleuchtet und die Zunge gelöst hat. Aber Gottes Wille zielt immer auf das Besondere und Einmalige. Darum muß ich von mir reden. Auch mir ist es vergönnt, das große Geheimnis zu wissen, nicht so wie menschliche Überlieferung vom einen zum anderen gelangt, als ein Wissen, das der Verstand ergreift und das Gedächtnis bewahrt, sondern so wie Gott seinen Auserwählten sich offenbart. Er hat mich hineingezogen in den Raum der geheimen Erfahrung und hat mich zu seinem mit-wissenden Vertrauten gemacht Ja, in mir, dem geringsten unter allen Aposteln und ganz und gar Unwürdigen, hat die göttliche Gnade die konkrete Gestalt angenommen, daß ich die Christusbotschaft in die Völkerwelt hineintragen darf. Wenn ihr dieses alles in euch bedenkt, so werdet ihr unmittelbar erkennen, daß meine persönliche Bedrängnis für euch kein Grund sein kann, müde zu werden und zu verzagen, ja, daß die göttliche Kraft noch nicht am Ende ist mit dem, was sie an euch und durch euch wirken will, und daß ihr selber euch nicht passiv treiben lassen dürft. Ihr seid Gottes Werk. Darum mahne ich euch zu tun, was dieser eurer Lage gemäß ist, und ich bitte zugleich Gott, daß er es an euch tun und in euch wirken wolle. Aber es ist billig, daß mein Gebet voranstehe. Ich beuge meine Kniee. Wie dürfte ich mich anders als in tiefster Demut nahen zu Ihm, den wir Vater nennen; und Er allein ist in Wahrheit der Vater, das ewige Urbild aller Vaterschaft auf Erden, und alle Zeugung und Vaterschaft unter uns Menschen ist nur das Abbild und Gleichnis des großen Geheimnisses, daß der Vater aller Welten den Sohn erzeugt hat vor aller Zeitlichkeit. Zu ihm nahe ich mich und flehe ihn an, er wolle erfüllen und vollenden, was er in euch begonnen hat. Was sollte ich für euch erbitten als Kraft? Denn er, unser Herr, der die Dämonen besiegt hat und stärker ist als die Mächte dieser Welt, will sich dadurch bezeugen, daß er Menschen stark macht, ihnen Kraft und Überlegenheit verleiht. Die wahre Stärke aber ist nicht die brutale Kraft des Körpers und seiner Glieder, sondern es ist eine von innen her den Menschen bewegende und wandelnde Kraft. Diese Kraft strömt dem Menschen nicht von unten, sondern von oben zu. Ihr seid in Wahrheit stark und aller Welt überlegen, wenn ihr euch ganz der Führung des Heiligen Geistes überlaßt und durch ihn lebendig werdet. Ich muß in Bildern von dem reden, was ich von Gott für euch erstehe, Gott mache euer Leben fruchtbar wie einen Baum, der seine Wurzeln in den tiefen Grund der ewigen Liebe streckt! Die ewige Liebe sei das Fundament, auf dem der Bau eures Lebens sicher ruht! Gott heilige euer ganzes Wesen zu einer Behausung Christi, und euer Glaube sei die offene Tür, durch die ihr ihn als den wahren Herrn eures Lebenshauses aufnehmt, oder gleichsam ein Kelch, der bereit ist, ihn zu empfangen und zu bewahren. Noch wagt ihr kaum, euch umzusehen in dem Christus-Raum, über dessen Schwelle Gottes Erbarmen euch hat treten lassen. So wie wir in einem Dom mit unseren leiblichen Augen oder im weiten Weltenraum mit unserer Phantasie Länge und Breite, Tiefe und Höhe abtasten, um die ungeheuren Maße zu erahnen, so möge euch Gottes Geist in alle Weiten und Höhen der Christus-Erkenntnis führen. Ich weiß, daß ich Gott um ungeheure und unerhörte Dinge für euch bitten darf. Ich bitte Gott um nichts anderes, als was er verheißen hat. Unsere Bitten und unsere Gedanken reichen nicht heran an das, was er vermag, und in uns will seine Kraft sich auswirken. Ja, die Gemeinde ist der Ort, wo seine Herrlichkeit sichtbar werden will, von Geschlecht zu Geschlecht, ohne Ende. Nur weil ich für euch bete, darf ich euch auch ermahnen. Wenn wir Christen einander ermahnen, so ist immer alles in einem einzigen Satz gesagt: Bedenkt, welcher Ruf an euch ergangen ist, und wandelt so, wie es dieser eurer „Berufung” entspricht. Dieser göttliche Ruf hat euch Anteil gegeben an der neuen Einheit und Ganzheit, die durch Christus begründet ist. Es ist ein göttlicher Lebensodem, der nicht euer persönlicher Besitz ist, sondern der das Ganze durchpulst. Es ist ein Leib, dessen Glieder ihr geworden seid. Alle Glieder haben ein Haupt; es gibt nur einen, dem der Name gebührt „der Herr”. Es gibt nur einen Zugang zu diesem Leben: darum sind wir alle hineingetaucht in seinen Tod, damit wir mit ihm auferstehen. Es gibt nur eines, wodurch wir Anteil erlangen: das völlige Vertrauen, mit dem wir uns ihm hingeben. Es gibt nur eine Hoffnung: Gott wird vollenden, was er begonnen hat, als er uns Berief. Senn es gibt nur den einen Gott, den Vater des Alls, und was er tut, erfüllt die Zeitenräume, und was er in den Menschenherzen wirkt, ist sein heiliger Wille. Diese geistliche Einheit ist die Voraussetzung und das Ziel eures christlichen Lebens. Sie ist schon da; ihr braucht sie nicht herzustellen oder zu organisieren; ihr seid einem Organismus einverleibt, der vor euch da ist, von dem göttlichen Geist geschaffen und von ihm als seinem Lebensodem durchströmt. Und zugleich ist diese geistliche Einheit die Aufgabe eures Christenlebens. Nicht eure Friedfertigkeit, sondern der Friede Gottes bindet euch in diese Einheit zusammen. Auf solche Bindung und Verbindung zielt der Wille Gottes in dem Menschengeschlecht, und nur als ein selbst Gebundener kann ich euch mahnen: Lasset das Band, dieses Band nicht zerreißen! Die geistliche Einheit ist es, was euch aneinander bindet und beieinander hält; und ihr sollt sie festhalten als das Zeichen, daß ihr den Ruf gehört habt. Denn die geistliche Einheit ist nicht das starre und tote Einerlei des Gleichen, sondern die lebendige Gemeinschaft des Mannigfaltigen und Verschiedenen. Gott ist Liebe; er wendet sich dem zu, das ihm nicht gleicht. Darum ist das Werk seines Geistes nicht der natürliche Gleichklang dessen, was nach Art und Wesen verwandt ist; allein die Liebe, in der eines das andere erträgt und das Verschiedenartige einander zum Dienst bereit ist, ist das vollkommene Band, das Band, das vollkommen bindet. Auch wenn ich euch also ermahne, rede ich zu euch von dem Geheimnis Christi. Der Apostel Jesu Christi hat nicht den Auftrag, euch allgemeine menschliche Tugenden der Verträglichkeit und der Friedfertigkeit und des Gemeinsinns zu predigen, sondern euch das Geheimnis Christi zu verkündigen. Denn die geistliche Einheit, die euch in sich aufgenommen hat, ist nichts anderes als die irdische Gestalt und Ausstrahlung Christi. Laßt mich eine letzte Hülle hinweggehen von diesem Geheimnis, damit ihr die Größe eurer Berufung erkennt! Was der Psalmsänger des alten Bundes rühmt von dem siegreichen König, das ist erfüllt in Christus: Christus ist der Sieger über alle Mächte der Tiefe. Das Gefängnis, aus dem der Mensch sich nicht befreien kann, hat Er gesprengt, und die Gewalten, die den Menschen binden, hat Er gebunden. Er ist niedergestiegen in die Reiche der tiefsten Tiefe, wo die dunklen Gewalten am Werk sind, und denen wir alle in der Tiefe unserer eigenen Seele verhaftet sind; es gibt keine unheimlichen Gründe und Abgründe, deren Tore und Riegel er nicht zerbrochen hätte. Als er in sich selbst alle Verführung des Widerstandes völlig überwand, hat er mit seinem Sieg die ganze Welt befreit. Darum hat ihn Gott erhöht; er ist, der Menschensohn, aufgestiegen über alle Reiche, in denen Menschen und in denen Engel ihr Wesen haben; er ist dem Herrn aller Himmel näher als alle Engel, die ihm dienen; es gibt keine himmlischen Welten, die über Christus erhaben wären. Die Dämonen in der Tiefe erkennen mit Furcht, und die Engel in der Höhe mit Frohlocken seinen Sieg. Noch einmal sage ich euch: Er hat aus Zweien Eines gemacht. Er hat nicht nur die zerspaltene Menschheit zu neuer Ganzheit erlöst, sondern er hat auch die letzte Zwiespältigkeit des ganzen Kosmos überwunden, weil er in der Hölle wie im Himmel seine Herrschaft aufgerichtet hat. Er teilt Gaben aus an die Menschheit; was er den Menschen gibt, ist die Beute seines Sieges. Er erfüllt das All und durchwaltet es mit der Kraft seines Geistes. Denn die Heiligen Gottes sind keine fertigen „Heiligen”, sondern es sind Menschen, die der Stärkung und Aufrichtung bedürfen und die einander nach Gottes Willen und durch Gottes Gnade diesen Dienst leisten. Dieser wechselseitige Dienst ist die eigentliche und notwendige Lebensform des Leibes Christi, und durch diesen Dienst wird in jener geistgewirkten Einheit das Nahe und das Ferne, das Kleine und das Große, das Hohe und das Niedrige an einander gebunden. Dies ist das Abbild Christi, der alles erfüllt. Ich muß es euch in einem Bilde noch deutlicher sagen: Die Gemeinde Jesu Christi, seine Heilige Kirche ist keine fertige Größe, die ein für allemal da ist, sondern sie ist ein Leib, der der Aufbaukräfte bedarf, weil er wachsen will und wachsen soll. Die Einheit dieses Leibes ist nicht in menschlichem Gemeinschaftswillen, sondern in dem einen Haupt, Christus, begründef; von ihm her ist alles zusammengehalten und zu einer lebendigen Ganzheit zusammengefügt; die Kraft des Wachstums an diesem Leib ist allein die Liebe, und die dienstwillige Handreichung, die wir Einzelnen einander leisten, ist gleichsam das elastische Band, das in den Gelenken Glied an Glied bindet und das Ganze beweglich erhält. Verstehet wohl: Dieser Leib will wachsen, so wie das Kind heranwachsen muß zur Reife des Mannesalters. Wenn ihr hin und her getrieben werdet und euch wie eine Welle im stürmischen Meer auf und ab schaukeln laßt von jedem Windstoß wechselnder Meinung und Weltanschauung, dann werdet ihr Opfer jener unheimlichen Mächte, die darauf ausgehen, euch zu verwirren und zu betrügen; und wenn es so um euch steht, so ist das ein Zeichen, daß ihr den unmündigen Kindern gleicht, die nicht fest auf ihren Füßen stehen können. Aber ihr sollt nicht Kinder bleiben. Es gibt eine männliche Reife im Christenstand, in der das zur Vollendung kommt, wozu ihr berufen seid. Und nur in dieser christlichen Reife und Vollkommenheit wird der Sieg Christi, der alles erfüllt, abgebildet und bezeugt. Ja, die Einheit der Kirche, die in Christus begründet ist, ist nicht auf diesen unsern irdischen Lebensraum begrenzt. Man kann nicht hoch und weit genug davon denken, was es bedeutet, wenn hier auf Erden eine Gemeinde da ist, die das göttliche Geheimnis erkennt und bekennt und die selbst in diesem Geheimnis lebt. Das strahlende Licht der himmlischen Weisheit, das sich wie das Farbenspiel des Regenbogens entfaltet, wird in der Gemeinde wie in einem Spiegel aufgefangen und zurückgeworfen in die himmlischen Räume, und die Engelwesen in ihren verschiedenen Stufen und Ordnungen empfangen durch den Dienst der irdischen Gemeinde eine neue Erkenntnis Gottes, und der Lobgesang ihrer ewigen Anbetung empfängt einen neuen Grund und Inhalt. Erde und Himmel haben Gemeinschaft mit einander. Christus ist hinuntergestiegen in die tiefste Tiefe und aufgefahren über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte. Dieser alles zusammenschließende Sieg Christi ist das himmlische Urbild, ans dem das Geheimnis der Kirche erwächst. Die Einheit und Ganzheit des christlichen Lebens, die Einheit und Ganzheit des Leibes Christi ist die Gabe und die Aufgabe, die euch anvertraut ist. Darum trachtet mit allem Fleiß und mit großem Ernst darnach, daß ihr diese Einheit bewahret durch die Liebe, das vollkommene Band. Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 80-86 |
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