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von Wilhelm Stählin |
In dem Augenblick, da ich diesen „Brief” schreibe, sind wir alle bewegt von der Frage, wie die vom Führer angeordnete Wahl zu einer „Generalsynode” sich auswirken wird für das zukünftige Schicksal unserer Kirche. Das Wort zur kirchlichen Lage, das die Leser der Jahresbriefe an dieser Stelle erwarten, kann kein Wort der unmittelbaren Weisung für die nächsten Wochen sein; aber einiges zu sagen, liegt mir allerdings am Herzen. Seit der Reichskirchenausschuß zurückgetreten ist und damit das Scheitern seiner Bemühungen besiegelt war, bin ich ein bestimmtes Wort nicht los geworden; ich meine, es stammt von Hermann Oeser: „Ich halte den für tapfer, der bei gegebener Veranlassung nicht sagt: Siehst du, habe ich es nicht gleich gesagt?” - Dazu noch etwas anderes. Das Dritte Reich hat den Parteienstaat überwunden. Zn den schmerzlichen Erscheinungen eines Parteienstaates, aber überhaupt jeder in sich gespaltenen Gruppe von Menschen, gehört es, daß in schwieriger und gefährlicher Lage jeder dem andern die Schuld gibt. Wollen wir wirklich dem Volk das Schauspiel bieten, daß Menschen, die alle mit lauterem Ernst als Christenmenschen leben und daran mithelfen wollen, daß die Kirche eben Kirche sei, übereinander herfallen, weil sie in manchen wichtigen Einzelfragen verschiedener Meinung sind? Neulich hörte ich in einer Kirche das Wort: „Wir wollen ja mit euch anderen zusammen gehen; aber zunächst müssen wir euch fragen: Warum habt ihr...?” Ist es wirklich notwendig, wendet es irgend eine Not, wenn wir einander so fragen? Im übrigen: Was bei der bevorstehenden Wahl für unsere Kirche herauskommt, vermag heute niemand zu übersehen. Die kommenden Wochen können die Kirche und uns Einzelne vor sehr schwerwiegende Entscheidungen stellen. Niemand darf sich, wenn sich die Möglichkeit einer dem Wesen der Kirche gemäßen Wahl eröffnet, dieser Form seiner Mit-Verantwortuug entziehen. Dabei geht es heute nicht darum, irgend eine bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern einen Weg ins Freie zu finden. Es gibt einen Protestantismus, der wirklich am Ende ist, und vielleicht werden auch die äußeren Formen, in denen er bestanden hat, zerbrechen. Wir müssen den Mut haben, nicht „auf das Vorige zu achten”, sondern „ein Neues zu pflügen”. Aber wir dürfen uns nicht der Hoffnung hingeben, es könnte durch die glücklichste Wendung im Kirchenstreit die wahre Not unserer Kirche beendet werden. Die Hoffnung unserer Kirche liegt allein darin, daß Gott ihr eine innere Erneuerung schenken und sie in Wahrheit zu seiner Kirche, zur Kirche seines Evangeliums und seiner wirkenden Gegenwart machen kann. Daß heute aus der Tiefe auch da, wo wir es nicht zu hoffen wagten, echter Christusglaube hervorbricht, daß die Bibel neu entdeckt wird von denen, die sie nicht kannten, daß das Geheimnis der Kirche und ihres Sakramentes neu erfahren wird und daß brüderliche Liebe unter uns aufwacht, mit einem Wort, daß die christliche Kirche wirklich Kirche Jesu Christi wird, das ist wichtiger als alles andere. Es wird ernst. Gott nimmt uns beim Wort und wir dürfen Gott beim Wort nehmen. Die reichskirchliche Anerkennung der Michaelsbruderschaft bedeutet keine kirchenpolitische Festlegung; sie ist ausgesprochen von der einzigen Stelle, die heute - oder vielmehr damals im Januar - in der Lage war, eine solche kirchliche Einordnung vor der Öffentlichkeit zu bestätigen, und sie verliert nicht mit dem Rücktritt des Reichskirchenausschusses ihre Gültigkeit und ihre grundsätzliche und praktische Bedeutung; sie ist so gefaßt, daß das innere Leben der Bruderschaft und damit auch des Berneuchener Kreises sich selbständig entfalten kann; daß Herr Landesbischof und Abt D. Marahrens, als der dienstälteste lutherische Bischof, mit der Visitation über die Bruderschaff beauftragt ist, entspricht unserer eigenen Bitte und ist uns ein Anlaß zu dankbarer Freude. Diese kirchliche Anerkennung der Michaelsbruderschaft hat ihre Bedeutung auch für den Berneuchener Kreis. Ich spreche nur aus, was ist, wenn ich sage: der Berneuchener Kreis lebt von der Arbeit der Bruderschaft; die Vertrauensleute des Kreises in den einzelnen Landschaften und die Leiter unserer Freizeiten sind Glieder der Bruderschaft. Die Ordnungen, nach denen wir bei allen unseren Treffen unsere Gottesdienste halten, und die Ordnung der täglichen Bibellesung sind völlig aus dem Leben und den Erfahrungen der Bruderschaft erwachsen. Alle unsere Brüder sind für den Dienst an dem Berneuchener Kreis mit verantwortlich. So verstärkt und vertieft diese „Anerkennung” zugleich die gesamtkirchliche Verantwortung auch des Berneuchener Kreises. „Das Haus der Kirche zerfällt, die arge Welt schaut überall herein. Wir suchen Halt. Ich weiß, daß dieser bereits auf uns wartet in allem, was uns geboten ist; wir sind aber schwach, wir müssen danach greifen und könnend oft nicht. Kann da nicht eine Regel wie ein Wanderstab sein, oder wie ein Leitseil, das uns fest umgelegt ist? Müssen wir nicht wie Bergsteiger über tiefe Klüfte, an Abgründen vorbei oder an glatten Wänden entlang? Rufe genügen nicht, und Fackeln vorantragen ist ein Nötiges, aber Anseilen ist mehr. Es bleibt uns dabei nicht erspart, daß wir selbst gehen und uns mühen; aber wenn der Fuß gleiten will, haben wir die Hand am Seil und sind zuversichtlicher, daß wir den rechten Tritt nicht verfehlen”. Ich sehe vor mir sehr deutlich die ersten Umrisse einer solchen „Regel”, auf die sich die Glieder des Berneuchener Kreises verpflichten könnten:
Wir machen uns alles nur schwer, wenn wir es uns „leicht” machen. Es ist ein Rat, den wir unseren Freunden damit geben, und wir meinen allerdings, daß erst eine Schar solcher fest gebundener und verpflichteter Menschen etwas von dem sein könnte, was der Berneuchener Kreis sein sollte. Wer niemand kennt, vor dem er sich verpflichten könnte, möge an mich schreiben, und ich werde ihn gerne an einen unserer Brüder weisen. „Vielleicht ist aller Religions-Unterricht deswegen mehr oder weniger erfolglos, weil er im Reden und Probleme-Wälzen stecken bleibt und so selten zur Andacht führt und alle die Dinge eben nicht übt, die eine Hilfe für wirkliches Hören sind. Ein Religions-Unterricht ohne Andacht erscheint mir je länger je mehr ein gefährliches Ding”. Ja! Wir empfangen heute einen sehr bitteren Anschauungsunterricht, was bei einem Religions-Unterricht herauskommt, der nicht dazu anleitet und hinführt, mit der Kirche zu beten und zu leben. „In der Welt sind zwei Mächte, Gott und der Teufel. Wer nicht im Gehorsam gegen Gott lebt, verfällt der Macht des Bösen... Daß aber das Böse, das geschieht, von Gott verordnet ist oder Gottes Wille, ist mir unbegreiflich und zum Erschrecken.” Daß Gott das Böse nicht nur „zuläßt”, sondern „verordnet” und in seinen Dienst stellt, ist in der Tat unbegreiflich und zum Erschrecken. Aber die Bibel hat den Mut, das so darzustellen: Gott rechnet in seinem Weltenplan damit, daß etliche Menschen die Rolle des Widersachers übernehmen und in dieser Rolle sehr wider ihren Willen dennoch das fördern und verwirklichen, was in Gottes Ratschluß gemeint ist, und daß dadurch doch die Verantwortung dieser Manschen dafür, daß sie die Feinde Gottes sind, nicht aufgehoben ist. Wenn meine Sünd mich kränken... Wir Theologen haben viel von der Tiefenpsychologie zu lernen an Ehrlichkeit, Wirklichkeitssinn, „Vollständigkeit”, und es ist eine unleugbare Erfahrung, daß der Psychotherapeut vielen heutigen Menschen in ihren Nöten helfen kann, wo der kirchliche Seelsorger gänzlich hilflos ist; und dahinter steht dann doch eine sehr getroste Gewißheit, daß uns - über alles persönliche Ungenügen und alle Schwäche, Verwirrung und Verkehrtheit der eigenen Seele hinaus - in dem Mysterium Christi, im Mysterium der Kirche etwas anvertraut ist, was aller Seelsorge und aller Seelenführung erst ihre letzte Verantwortung und ihre letzte Hoffnung gibt. Es geht uns wirklich nicht um schöne Gottesdienste, oder um tiefe seelische Erlebnisse, auch nicht um irgend welche raffinierte Methoden der seelischen Führung, sondern es geht uns darum, daß Kirche unter uns, für uns, durch uns wirklich da sei. Aber abgesehen von den sachlichen Fragen: die Freiheit und Unbefangenheit dieser Begegnung, die Offenheit des Gespräches, die nie ausgesprochene und doch überall durchklingende Gewißheit, daß wir über die Grenze unseres Blickfeldes und unserer Methoden hinaus in eine gemeinsame Verantwortung gestellt sind, machte diese Tage zu einem seltenen Geschenk. So hat es mir sehr gefallen, wie da in einem Pfarrhaus in Mitteldeutschland an einem Montag 12 Personen zusammenkamen, um einmal etwas Richtiges zu erfahren über den Berneuchener Kreis. Man begann mit dem Morgengebet in der Kirche; nach dem Frühstück gab einer unserer Freunde eine Einführung in den Ursprung und das Wesen unserer Arbeit; Mittaggebet, Mittagessen, während dessen wie auf den Freizeiten vorgelesen wurde; stille Zeit, Spaziergang; dann nach dem Kaffee einiges über unsere liturgischen Ordnungen, Übung in liturgischem Singen; zum Abendgebet in der Kirche sind auch die Konfirmanden des Ortes dabei; abends vor dem Auseinandergehen wird in kleinen Gruppen das Gespräch über alle die Fragen, die der Tag gebracht hat, fortgesetzt. Trefflich! Laßt mich wissen, wo es nachgemacht wird! Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 104-111 |
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