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Germanische Wanderung
von Kurt Meschke

LeerDie Frage, ob die Bekehrung der Germanen eine innere Notwendigkeit oder ein Gewaltakt und Irrweg war, wird immer wieder gestellt. Sie betrifft nicht nur die Vergangenheit. Sie weist auch darauf hin, daß das Heidnische eine naturgegebene Seinsform des Menschen sei, und wenn das einmal gemeint ist, wird allerdings die Frage brennend, ob das Heidentum auch Ziel und Ende eines Weges bedeutet oder ob es der Ruf nach dem Weg aller Wege ist, ob es sich selbst aufgeben muß, um die Wahrheit zu erfahren.

LeerDie Völkergeschichte ist Gleichnis für den einzelnen und umgekehrt. Der Weg des Germanen zum christlichen Deutschen wird von jeden: Nachfahren beschritten werden müssen. Mancher, der dem Wort der Kirche und seinen guten Geistern weniger traut, wird vielleicht ein Ohr haben für die Erfahrungen der Germanen, andere werden beglückt erkennen, daß eine Betrachtung der deutschen Geschichte nur dann sachgerecht ist, wenn sie unter christlichen Maßstäben erfolgt.

LeerWelches war der innere Zustand der germanischen Völker vor der Christianisierung? Offenbar ist die Völkerwanderung kein bloß materielles Ereignis. Jede Wanderung ist zugleich ein seelischer Aufbruch, bedeutet das Aufgeben alter Heimat und das Suchen nach neuen Lebensgrundlagen. Die innere Unruhe, welche die Völkerwanderung bei den Germanen ausgelöst hat, zittert noch jahrhundertelang in den Wikingerzügen nach, bis sich die Wandlung zum christlichen Mittelalter vollzogen hat.

LeerDie Quellen, die wir aus der Zeit der Völkerwanderung haben, bestätigen dieses Bild von dem zurückgehenden Glauben an Götter und Mächte. Unter diesen Quellen ermöglichen die künstlerischen Darstellungen eine besondere Deutung. Sie sind Bild und Spiegel der seelischen Haltung.

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Leer„Die vorherrschende Kunstbetätigung der Germanen ist die Ornamentik” (Schmarsow). Der Germane muß eine große Freude an solchem ornamentalen Schmuck gehabt haben. Jede nur schmückbare Fläche ist damit bedeckt, die Fibeln, mit denen man das Gewand zusammensteckte, ebenso wie Schiffsborde, Wagenseiten und Deichseln. Der Schmuck war also nicht ein Vorrecht der Vornehmen, jeder empfand die Form des Schmuckes als etwas Eigenes, das sein Dasein und seine Art darstellte, steigerte, formte, das ihn erhob, und erregte, das er verstand. Dieser Schmuck war Symbol für die Haltung des ganzen Volkes. Er hat seine deutlichen Merkmale.

LeerAuf der zu schmückenden Fläche einer Fibel oder eines Holzes findet sich nicht an einer kompositionell ausgeglichenen Stelle eine ausgebildete menschliche Gestalt, ein Tierkörper, ein kultischer Gegenstand, sondern die ganze Flache ist überlaufen mit den Linien des Ornaments, und ist einmal ein Gegenstand zu gestalten, ein Vorgang wie der Tod Gunnars im Schlangenturm, wie man ihn auf der Vorderseite eines Schlittens des Osebergfundes entdeckt hat, dann wird solche Szene verflochten in die übrige Ornamentik. Der Sinn für die Gestalt, und damit verbunden für den Wert der Gestalt (Gestalt als Wertträger, Mensch als Persönlichkeit) ging den Germanen ab, und zwar nicht aus Unkenntnis oder aus Unvermögen, sondern aus einer bewußten Ablehnung solcher Schätzung.

LeerDenn was wir als Liniengewirr, Bändergeschlinge auf den Funden dieser Zeit sehen, enthüllt bei längerem Betrachten seine Herkunft: Tierkörper, Vögel, Wölfe und andre Tiere des Kultus sind es gewesen, aber ihre natürliche Gestalt besagte den Germanen nichts, das Reale, die Natur, der Mensch und die Welt, der ganze Formenreichtum waren ihm nicht Verkörperung des Göttlichen, waren nicht letzter Wert, waren in ihrer Körperlichkeit nicht einmal Sinnbild und Gleichnis. Die Schöpfung war nicht heilig in sich, sondern wenn der Germane seinem innersten Glauben und Wesen und Sehnen ein Bild geben wollte (und jede künstlerische Arbeit ist religiöser Ausdruck, eins ist nicht ohne das andre), dann dehnte und verzerrte er diese Körper, abstrahierte von aller Leiblichkeit, nahm ihnen jede „Gestalt und Schöne”, und erst wenn solch ein Körper nichts geworden war als dünnes, körperloses Band, dann genügte es ihm zur Schmückung, zum Ausdruck seines Sinnes und Geistes, zur Darstellung dessen, was ihn erregte als sein heimlicher Impuls, und zu immer neuer Erregung bei jedem neuen täglichen Anblick zwischen der Werkarbeit, im Kampfe, bei den Festen, führte.

LeerHier besteht ein grundsätzlicher Gegensatz zur klassischen, antiken Einstellnng. Für diese ist vollendete Form der Träger des Göttlichen. Nur dem Begrenzten, Geformten, Geschlossenen eignet Vollkommenheit, alles Grenzenlose ist „Nicht-Sein”, ist etwas Schlechtes. Anders beim Germanen. Für ihn ist das Grenzenlose, Unbegrenzte gerade das Eigentliche, Begrenzung ist Fessel, Gestalt ist Enge. Das Gegenständliche ist nicht vollkommen, sondern nur Teil einer unendlichen Bewegung auf das Vollkommene hin. Die germanische Seele ist auf der Wanderschaft. Nicht im Sein findet sie ihr Genüge, sondern das Werden ist ihr Element.

LeerÜber die ganze schmückbare Fläche ergießt sich eine dauernde Bewegung von Linien, ein Hin und Her, Über und Unter ohne Ende. Unendliche Bewegung ist Grundtendenz des germanischen Geistes.

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LeerWelches ist das Ziel für diese Bewegung? Jedenfalls nichts Empirisches, Irdisches, jedenfalls ist diese Bewegung religiös bestimmt, von einem Ziel der Religion getragen, und dieses unbekannte Ferne der Religion bewirkt wohl die Erregung und Verkrampfung und Unruhe, oder auch, aus anderen Bildern, diesen getragenen feierlichen Reigen der Linien.

LeerDieses ferne Religiöse, dieses unbekannte Göttliche greift aber auch hinein in das Geschehen. Der treibende Fluß der Linien wird plötzlich unterbrochen, der Mensch in der Bewegung aus das Göttliche hin wird plötzlich überfallen, erschreckt, „baff”, wird angegriffen von dem „Anderen”, plötzlich schlägt eine Vogelkralle hinein, der Rest des zerdehnten Leibes, der ja ein kultischer Leib ist. Ein Tierrachen, ein Vogelkopf erzeugt jene typische religiöse Bangigkeit, wie sie in R. Ottos „Das Heilige” beschrieben ist.

LeerGrundelemente germanischer Frömmigkeit offenbart die Ornamentik. Das Wissen über sie wird bereichert durch andere Erscheinungen germanischen Lebens derselben Zeit, durch die tänzerische und poetische Gestaltung und durch das Berserkertum.

Die Tänze sind feierliche Schwerterreigen der Burschenschaft von kultischer Bedeutung, die ihr tänzerisches Prinzip darin haben, daß die Kette, die die Tänzer durch die Schwerter bilden, nicht durchbrochen, sondern immer enger und komplizierter verflochten wird, daß die Dynamik der Verschlingung sich steigert, die Linien des Tanzes sich in einander verziehen bis zum kultischen Höhepunkt der Handlung.

LeerDie Stabreimdichtung hat denselben vor-, rück- und übergreifenden Charakter wie die Geflechtsornamentik. Ebenso gehört hierher die durchkomponierte Bewegung des Laich.

LeerDas Berserkertum zeigt die besondere Art germanischer Ekstase. Wir kennen Ekstase als Steigerung durch menschliche Mittel (Tanz, Gifte, Rauschmittel, kultische Übungen), bis der Trancezustand erreicht wird. Der Germane weiß von keiner Möglichkeit, durch menschliche Werke göttliche Qualität zu erhalten, sondern zwischen den Zeiten, im Zwielicht, in der Ungewißheit der menschlichen Möglichkeit wird er überfallen, in der Dämmerung wird der Mann zum Werwolf gemacht und unter göttlichem Zwang, unter völliger Ausschaltung des eigenen Willens, gebunden und gekettet, tut er gewaltige Taten, hat er übermenschliche Kräfte, nicht er, sondern der Gott wütet und wirkt.

LeerUnd das Verhältnis zum Christentum? 1. Mos. 32, der Jakobskampf gibt die Antwort, dort findet sich dieselbe Haltung, derselbe Überfall, aber im christlichen Sinne.

LeerIn der Völkerwanderung ist unendliche Bewegung, doch das Ziel ist ferne, und noch leuchtet Gottes Wahrheit nicht durch das Dunkel. Konnte es eine andere Weisung geben, die ins Helle führt, ins Reich und in das Leber: als die christliche?

LeerDas Christentum hat das Wort für das stumme Empfinden des Germanen, es hat geglaubt und erkannt, was das Germanentum ersehnt hat. Es ist die Antwort auf die Frage. Und wenn heute wieder von vielen Deutschen die germanische Frage gestellt wird, dann gibt es nur eine Antwort, jene, die Gott mit der Geschichte gegeben hat: Geschichte begreifen heißt Gottes Werke sehen.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 177-180

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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