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Die Heilung des Aussätzigen
von Bernhard Martin

LeerKarl ThylmannIm Anfang des Jahres 1915, kurz bevor er Soldat geworden ist, im siebenundzwanzigsten Lebensjahr hat Karl Thylmann einen seiner größten Holzschnitte geschaffen, der unter der Bezeichnung „Die Heilung des Aussätzigen” bekannt geworden ist. Dieser Holzschnitt, wie überhaupt die Reihe der christlichen Kunstwerke Karl Thylmanns, kann besonders eindringlich zeigen, was christliche Kunst ihrem Wesen nach ist und wie sie wesentlich wirken kann. Sie ist nämlich nie eine bloße äußere Darstellung von irgendetwas Geschehenem oder Geglaubtem, sondern muß selbst als ein Stück oder Stückchen Offenbarung durch die Seele des „schöpferischen” Menschen hindurchgegangen sein. Der Stoff eines Bildwerks kann so „religiös” oder fromm sein wie immer, das macht für seine wahre Wirkungskraft überhaupt nichts aus; und manches Naturbild oder das Bildnis eines beliebigen Menschen strahlt mehr Kraft der Erhebung aus als nur zu viele allzugut gemeinter, aber allzusehr stoffgebundener Werke ...

LeerKarl Thylmanns Bild „Die Heilung des Aussätzigen” will nicht etwas darstellen, was irgendwann äußerlich in der Welt geschehen ist. Man sieht auf dem Bilde nur sehr wenig Dinge und Gestalten: eine enge Gasse mit hoher Mauer links und fast fensterlosen Häusern rechts, ein Stückchen des lastenden Himmels, unten ein Häufchen Stroh, aus dem der kaum bekleidete Aussätzige hockt, von Christus mächtig an beiden Schultern gepackt, ihn anschauend und von ihm durchdringend angeschaut. Das ist alles, was in das Auge des Betrachters fällt, und er wird bei alledem nur besonders deutlich und stark des hell beleuchteten weißen Mantels bewußt, den Christus trägt.

LeerNun weiß man, daß die Aussätzigen in Palästina zur Zeit des Erdenlebens Jesu Christi sich nicht in den Straßen der Städte zeigen durften, sondern weit von den übrigen Menschen entfernt sich allein aufhalten mußten. Aber auch wenn man das nicht wüßte, so würde Karl Thylmanns Gestaltung keinem Verständigen die Ansicht entlocken, die dargestellte Straße sei in Jerusalem oder Jericho oder Kapernaum zu finden gewesen. Die beiden Gestalten des Aussätzigen und Jesu Christi sind in der engen Straße so völlig allein miteinander, daß man ohne weiteres erspürt: hier wird die Begegnung des Menschen mit dem Christus zum Bilde, die überall, in jedem Menschen stattfinden kann, in der Seele des Künstlers stattgefunden hat, in der Seele des Betrachters stattfinden will. Mit anderen Worten: diese Begegnung, diese Heilung ist nicht geschichtlich, sondern urbildlich, und das äußerlich Sichtbare ist ein Gleichnis dessen, was dahinter steht und was der Künstler eigentlich sagen will.

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LeerDarum kann der Schlüssel für das Bild auch nur im eigenen Herzen gefunden werden. Niemand wird das Bild verstehen oder lieben, der sich nicht, sei es nun schon tiefer oder doch aber ansatzweise, als einen „Aussätzigen” erlebt und der in dieser seiner Lage den Retter herbeigesehnt oder gar erfahren hat.

LeerDas Bild ist groß durch seine Wahrheit und Unerbittlichkeit. Weit entfernt von der Versüßlichung nur zu vieler „Heilands”-Bilder strahlt es denjenigen Ernst aus, der das Menschenleben in seiner Tiefe, der aber erst recht das Christus-Wirken, also auch das Evangelium selbst durchwaltet. Es verlangt von dem Betrachter, daß er sich in dem Aussätzigen, in seiner Art und Lage wiederfinde. Andernfalls bleibt es unheimlich und fremd, womöglich unschön und allenfalls interessant. Und was heißt „sich wiederfinden”?

LeerDie enge Gasse muß man kennen, die lastende Enge und Schwere der Mauern und Steine, das Erbarmungslose einer grell brennenden Sonne, die Nacktheit, den Strohhaufen, die Dürftigkeit der Krankheit, Schwachheit, Sünde oder wie man sagen mag. In dieser Gasse läßt sich ein zwar keineswegs anmutiges, aber umso wahreres Bild des Erdenlebens als solchen sehen.

LeerWohnt nicht in fast jedem die Ahnung eines freieren, besseren, lichtvolleren Zustandes seiner selbst und der Welt? Haben nicht gerade diejenigen Menschen, die die stärkste Idealkraft besitzen, auch den deutlichsten Begriff davon, daß die äußerlich wirkliche Welt, uns selbst eingeschlossen, weit, weit vom „Ideale” entfernt ist, daß das Erdenleben starrer, leerer, zehrender ist als jenes deutlich erahnte andere und höhere Reich, mag man dieses nun benennen wie immer ? So fensterlos wie die Gasse auf Karl Thylmanns Bild ist das Erdenleben selbst weithin, und schon mancher hat auf dem Häuflein Stroh gesessen wie der Aussätzige aus dem Bilde und hat es nur nicht bemerkt. Dann freilich muß man ein Anderes erahnen und ersehnen, wenn es erscheinen soll: „Wer wird mich erretten...?”

LeerDiese Ahnung und Sehnsucht lebt auf unheimlich große Art in dem dargestellten Aussätzigen. Im vollen Bewußtsein seiner Schicksalslage hat er alle noch verfügbaren Kräfte in den hilfesuchenden Blick und in die flehend erhobenen Arme gesammelt. Man sieht: dieser Kranke hält nichts bei sich, nichts in sich zurück. Sein Wesen erschöpft sich in Hingabe, also auch in Selbst-Aufgabe, in Erwartung. Vielleicht, weil seine Schwäche wirklich und vollständig ist. Aber was heißt „wirklich und vollständig”? Alles Dargestellte ist ja „Bild”. Es hat Karl Thylmann nicht gelockt, irgendeinen verquälten, an seinem Leibe leidenden Menschen zu verbildlichen. Aber so kann sich ja die Seele verhalten wie der Aussätzige sich äußerlich verhält. In weitem, tiefem Sinne ist der Mensch der gegenwärtigen Welt-Zeit ein „Aussätziger”, der in dem „Paradies” nicht mehr, aber in dem „Neuen Jerusalem” noch nicht ist. Karl Thylmanns Aussätziger ist Bild für diesen, umfassenden Menschheitszustand.

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LeerUnd zwar ein Bild, das aus den Tiefen eines Menschen hervorgebrochen ist und in dem die Kraft wohnt, den ruhigen Betrachter zu tieferen Erlebnissen und Erfahrungen hinzuführen. Nichts ist im Anblick eines solchen Bildes damit getan, daß man es „gut” ober „groß” findet, sondern es kommt allein darauf an, daß man sich seiner Sprache aufschließe, daß man sich mit Ruhe, Hingabe, Bildsamkeit, Empfangsbereitschaft eröffne. Man suche also die Wege nachzugehen, die der Künstler selbst gegangen ist, ehe das Bild zur äußeren Gestalt werden konnte. Man wird dann gewahr werden, daß die Spannweite seiner Erfahrung sehr groß und der Mut seiner menschlichen Selbsterkenntnis sehr gewaltig waren. Aber auch dies gilt es ja nicht festzustellen. Sondern die Erfahrung und der Mut eines Andern sind uns Hilfen. Warum gäbe es denn echte und große religiöse oder christliche Kunst, wenn in ihr nicht eine helfende Macht wohnte, wenn sie nicht selbst ein Stück fördernder Verkündigung wäre? Diese erschließt sich aber stets nur der eignen, gelassenen, aufmerksamen Betrachtung. Wer sich in das Bild versenkt, wird die „fördernde Verkündigung” von ihm ausgehen fühlen.

LeerUnd dazu gehört vor allem die Christusgestalt selbst. Der Kopf Jesu Christi ist nahezu in der Bildmitte, umgeben von doppeltem ihn umlaufenden Strahlenkranz. Aber Karl Thylmann hat, in einer Überspitzung äußerlich gegebener Möglichkeiten, den Christuskopf zugleich zu dem Ort gemacht, in den alle Linien des Bildes zusammenlaufen. Er ist der perspektivische Mittelpunkt und erscheint so mit einer noch viel größeren Ausstrahlung versehen als der doppelte Strahlenkranz allein ihm gäbe. Und indem dies mit einer leisen Vergewaltigung der perspektivischen Gesetze erreicht worden ist, darf es als sprechend im tieferen Sinn angesehen, muß es so angesehen werben. Christus: die Mitte der Welt und alles Geschehens ....: Das hat der Künstler in das Bild hineingelegt, also darf es aus ihm herausgesehen werden.

LeerAber auch der weiße Mantel des Erlösers mit seiner unwirklich oder überwirklich blendend weißen Fläche will aussagen, was sich mit keinen Worten so knapp und stark über das Wesen Christi aussagen ließe. Es ist, als hätte sich die Strahlenkraft gesammelt auf diesen Mantel oder in ihm. Ja: was in dem Haupte Christi lebt, was aus seinen Händen in den Aussätzigen übergeht, das hat seine geheime, aber deutlich angedeutete Quelle in dem Licht, das seinen Mantel zu seiner reinsten Offenbarung macht. Der Mantel und sein Weiß sind - Gleichnis. Dieses will durchschaut werden, so wie man durch die einzelnen Worte des Neuen Testamentes durchschauen muß, um Den zu finden, dem sie entstammen ...

LeerChristus schaut den Aussätzigen an, und man ist sicher: mit diesem Blick geht Gesundheit auf den Kranken über. Aber so wie der Aussätzige angeschaut wird, kann der Mensch überhaupt angeschaut werden. So wie Christus in dieser engen fensterlosen Gasse wirkt und waltet, so will und kann er überall wirken und walten. Aber daß er es tue, dazu ist vom Menschen auch etwas nötig: eben daß er sich als einen Aussätzigen, als einen Ausgesetzten erlebe, daß er ein heißes Bedürfnis habe, an das Land des Ursprungs oder Zieles stärker, lebensvoller angeschlossen zu werden, daß er den Mut zu jenem Blick und zu jener Gebärde habe, die Karl Thylmann mit so erschütternder Eindringlichkeit dem Aussätzigen beigelegt hat.

LeerDas ist das Urbildliche und Hilfreiche an diesem Bilde, daß es nicht anmutig und nett etwas aus dem Erdenleben Jesu Christi „illustriert”, sondern daß es ein vielleicht viele Menschen geradezu erschreckendes Wahr-Bild ist, an dem man sich richten, ausrichten und ausrichten lassen kann. Diese Betrachtung will daher keineswegs das Bild „würdigen”, sondern dazu einladen, sich mit ihm lange und tief zu befassen...

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 187-189

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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