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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerAm 19. Juli d. J. ist der frühere Generalsuperintendent von Westfalen D. Wilhelm Zoellner zu Grabe getragen worden. Neben den vielen anderen, die an seinem Sarge ihre Verehrung und Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht haben, hat auch unsere evangelische Michaelsbruderschaft und mit ihr der Berneuchener Kreis Anlaß, dieses Mannes in ehrerbietiger Dankbarkeit zu gedenken. Seine Theologie erwuchs aus dem Ringen um das Werden lebendiger Kirche. Er war ein bewußter Lutheraner, aber das Luthertum war ihm der uns besonders aufgetragene Dienst an der gesamten Kirche. Weil er früher und tiefer als andere die Nöte unserer Kirche erkannt hatte, darum war er unserer Arbeit mit wachem Verständnis und großem Vertrauen zugewendet. Wenige werden wissen, daß er sich einmal zur Teilnahme an einer Berneuchener Freizeit angemeldet hatte und nur wegen dringender beruflicher Verhinderung im letzten Augenblick absagen mußte. Als Vorsitzender des Reichskirchenausschusses hatte er ein großes Verdienst daran, daß der Reichskirchenausschuß kurz vor seinem Rücktritt die kirchliche Anerkennung unserer Bruderschaft aussprach und damit die Notwendigkeit und den Wert bruderschaftlicher Arbeit für die gesamtkirchlichen Aufgaben öffentlich bezeugte.

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LeerDie Freizeiten dieses Sommers haben denen, die daran teilnehmen konnten, ein Dreifaches zum Bewußtsein gebracht. Es ist stärker als in früheren Jahren sichtbar geworden, daß diese Freizeitenarbeit nicht von einzelnen Männern, sondern von einer Bruderschaft getragen wird, in der die Einzelnen wirklich miteinander und darum auch stellvertretend füreinander handeln. Die innere Geschlossenheit der auf einer Freizeit anwesenden Brüder und die Gemeinsamkeit ihres Dienstes am Altar haben vielen Einzelnen deutlich gemacht, daß hier wirklich nicht mehr eine Personalgemeinde, sondern Kirche ist, die alle Einzelnen trägt und umschließt. Es hängt damit zusammen, daß stärker als in früheren Jahren eine jüngere Generation in die verantwortlichen Führungsaufgaben hineinwächst: eine große innere Entlastung für uns Ältere und ein Zeichen lebendigen Wachstums.

LeerDrittens aber hat sich von Neuem die dringende Notwendigkeit gezeigt, unsere Freizeitarbeit stärker zu gliedern und besondere Wochen für solche zu halten, die mit der Ordnung solcher Freizeitwochen ganz vertraut sind und nur nach Stille und Andacht und nach weiterer seelsorgerlicher Führung verlangen. Auch in dieser Hinsicht wachsen wir aus einem Anfangsstadium heraus und sind unterwegs zu einer organischen Gliederung, wie sie dem Gefüge der Kirche entspricht. Im Zusammenhang damit wird die Frage nach der Aufgabe und Zukunft des Berneuchener Kreises dringend. Viele Glieder verlangen nach einer strengeren Bindung, nach einer festeren Ordnung, nach einer das ganze Leben umfassenden geistlichen Verpflichtung. Nur von Kreisen, die in einer solchen Ordnung leben, nicht von irgendwelchen Protesten oder Programmen, kann die Erneuerung der Kirche ausgehen. Gewiß werden nicht alle, die zum Berneuchener Kreis gehören, die Freudigkeit haben, solche Bindungen auf sich zu nehmen, aber für die vielen, die um ihres eigenen Lebens und um ihres Dienstes willen nach einer solchen Ordnung verlangen, werden wir die rechte Form finden müssen. Das, was ich im Osterbrief darüber geschrieben habe, bezeichnet die Richtung, in der wir hier weitergehen müssen. Doch soll Näheres darüber erst gesagt werden, wenn wir nach sorgsamer Überlegung einen festen und nach allen Seiten abgewogenen Vorschlag machen können.

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LeerIn einem Brief heißt es, daß wir alle noch in ganz anderem Maß uns füreinander verantwortlich fühlen und füreinander haftbar sein müssen. Das ist in der Tat eine wesentliche Erkenntnis, sobald wir aus einer individualistischen und selbstsüchtigen Frömmigkeitspflege herausgewachsen sind, daß wir wirklich unserer Brüder und Schwestern Hüter sein wollen. Nur wo dieses Bewußtsein ganz lebendig ist, können auch Ordnungen brüderlicher Zucht wieder gewonnen werden. Denn alle geistliche Zucht der christlichen Gemeinde erwächst aus der Liebe, die dem Bruder beistehen will in seinem Kampf, in dem Kampf mit seiner konkreten Sünde. (Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Schrift über „Geistliche Zucht” hinweisen, die Friedrich Schauer und ich soeben in unserer Schriftenreihe „Kirche im Aufbau” veröffentlicht haben.) Auf diesem Wege wollen wir freilich ernstlich bedenken, daß wir einander noch mehr durch unser eigenes Beispiel und durch treue Fürbitte helfen können als durch mahnende und warnende Worte. Übereifriges Reden kann viel verderben, und wir wollen nicht vergessen, daß die Wahrung des Abstandes ebenso sehr wie vertrauensvolle Nähe zu den Grundgesetzen dauernder Gemeinschaft gehört. Wenn wir aber mit einem anderen Menschen über sein persönliches Leben reden, daß wir dann nur mit jedem Wort in der Wahrheit und in der Liebe bleiben!

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LeerÖfters schon haben wir an dieser Stelle davon gesprochen, wie wertvoll und hilfreich die Übung des Schreibens, des langsamen, sorgsamen und besinnlichen Schreibens sein kann. Laßt mich dazu sagen, daß auch das Auswendiglernen von Bibelstellen und Liedstrophen zu den einfachen und wertvollen Formen geistlicher Übung gehört. Ich rate allen, sich im Laufe der Monate und Jahre eine größere Zahl von Liedern und Bibelstellen wirklich einzuprägen, sodaß sie an jedem Ort und in jeder Stunde das bereit haben, das ihre Seele mit Frieden, getrostem Mut und innerer Freudigkeit erfüllen kann. Wir werden in nächster Zeit einen festen Vorschlag für dieses Auswendiglernen machen.

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LeerEine wachsende Zahl von Menschen haben wieder erkannt, was die Reformatoren mit solchem Nachdruck wiederholt haben, daß die Einzelbeichte eine unschätzbare Hilfe für unser geistliches Leben und unseren geistlichen Kampf zu bieten vermag. Immer wieder müssen wir den Menschen, die an dieser Schwelle mit begreiflicher Scheu und Zaghaftigkeit bleiben, Mut machen, diesen Schritt zu tun. Was soll man denn beichten? Es gilt nach evangelischem Verständnis nicht jene drückende und selbstquälerische Verpflichtung, alle Verfehlungen vollständig aufzuzählen. Luther sagt: Vor dem Beichtiger sollen wir die Sünden bekennen, „die wir wissen und fühlen im Herzen”; das, wovon wir bedrückt und belastet sind - das, wovon wir uns lösen und befreien wollen, Ein Aufsatz im neuen Gottesjahr (1938) „mea culpa” - meine Schuld - leitet zur täglichen Gewissenserforschung an. Wer in solcher täglichen Selbstprüfung vor Gott steht, erkennt unmittelbar, was er nun zu seinem eigenen Trost und seiner Stärkung vor dem verschwiegenen Ohr seines geistlichen Beraters, seines Hirten und Priesters aussprechen und bekennen soll. Solche Freunde, die den Wunsch haben, zur Einzelbeichte zu gehen, die aber nicht wissen, wo ein Pfarrer ist, der ihnen diesen Dienst zu tun bereit ist, werden wir gern beraten.

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LeerIn diesen Tagen ist unsere große Abendmahlsagende „Die Ordnung der Deutschen Messe” fertig geworden. Die Arbeit eines Jahrzehnts und zugleich eine innere Entwicklung, die uns weit über unsere Anfänge hinausgeführt hat, ist damit zum Abschluß gekommen. In erster Linie gehört dieses Buch natürlich in die Hand des Pfarrers zum Dienst am Altar, aber wir halten es durchaus für sinnvoll, daß auch einzelne Gemeindeglieder, die tiefer in die Ordnung des Sakraments eindringen wollen, dieses Buch zur Hand nehmen. Nicht etwa um bei der Feier des Heiligen Mahles selbst darin zu blättern und nachzulesen, sondern um zu Hause sich in alle einzelnen Stücke, in Sonderheit die Gebete zu versenken. Viel wichtiger als die Bekanntschaft mit dem Buch ist freilich dieses, daß diese evangelische Ordnung des vollständigen christlichen Gottesdienstes nun wirklich an den Altären unserer Kirche gebraucht wird. Es ist unser heißer Wunsch, daß diese Ordnung der „Deutschen Messe” nicht auf unseren Kreis beschränkt bleibe, sondern dazu beitragen dürfe, daß unsere Kirche überhaupt die Sakramentsfeier als ihren sonntäglichen Gottesdienst wiedergewinne.

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LeerMein Buch vom „Göttlichen Geheimnis” ist in englischer Übersetzung erschienen unter dem Titel: „The Mystery of God” (Student Christian Movement Preß, London. 7 1/2 sh, ebenso ist die englische Übersetzung vom „Gebet der Tageszeiten” - „The Church in Germany in Prayer” inzwischen erschienen. Mowbray & Co., London. 2 1/2 sh).

LeerDazu hat der Erzbischof von York ein Vorwort geschrieben, das einen klassischen Ausspruch ökumenischen Denkens enthält: „Engländer, die diese Gebete gebrauchen, werden sie zum größten Teil in naher Verwandtschaft mit ihrer eigenen religiösen Erfahrung finden und werden sich freuen, in geistliche Gemeinschaft mit Christen eines anderen Volkes zu treten; soweit diese Gebete für uns ungewohnt sind, werden wir uns freuen, daß wir durch ihren Gebrauch völliger in das reiche Erbe der gesamten Kirche Christi einzudringen vermögen.”

LeerWenn ich die Leser unserer Jahresbriefe darauf hinweise, so denke ich weniger daran, daß sie sich diese Bücher selbst beschaffen sollten, als daran, daß sie Freunde im Ausland, vor allem in den angelsächsischen Ländern, darauf aufmerksam machen.

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LeerWährend ich diese Zeilen schreibe, stehe ich noch ganz unter dem Eindruck der Tagung, die die süddeutschen und ausländischen Konvente der Michaelsbruderschaft in Neuendettelsau haben durften. Wir sind von tiefer Dankbarkeit erfüllt dafür, wie sehr uns die dortige Anstaltsgemeinde mit aller Freundlichkeit in ihrer Mitte aufgenommen hat, und wie sehr wir von dem reichen gottesdienstlichen Leben in der schönen Sf. Laurentiuskirche getragen waren. Noch an keinem Orte, an den unser Weg uns geführt hat, haben wir so stark und beglückt empfunden, wie eine singende und betende Gemeinde uns, eine geistliche Bruderschaft, mit ihrem eigenen Leben getragen hat. Zugleich sind wir aufs Stärkste bewegt von der Erkenntnis, wie vieles von dem, was Wilhelm Löhe, der Gründer der Neuendettelsauer Anstalten, vor einem Jahrhundert gemeint, gewollt, gefordert und begonnen hat, in unserer Bruderschaft verwirklicht wird; und dieser für viele von uns überraschende Zusammenklang hat umso mehr Bedeutung, als wir ja von ganz anderer Seite her, nicht als die Wahrer eines Erbes, sondern als solche, die ganz vom Rande her um Erneuerung der Kirche ringen, zu den gleichen Erkenntnissen und zu den gleichen Formen geführt worden sind.

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LeerMit diesem Michaelisbrief schließt der 6. Jahrgang unserer Jahresbriefe. Ich habe den Eindruck, daß noch in keinem Jahrgang so deutlich sichtbar geworden ist, was uns als Aufgabe vor der Seele steht: eine wirkliche Anleitung und Hilfe, mit der Kirche Jesu Christi zu denken, zu glauben, zu beten. Freilich sehen wir zugleich einen langen und mühsamen Weg vor uns. Bisweilen erfaßt uns das Gefühl, wir müßten ganz von vorn anfangen, wenn wir dem heutigen Geschlecht in Deutschland nahebringen wollen, was die Botschaft von Jesus Christus bedeutet, und was es heißt, mit und in seiner Kirche zu glauben. Wir wissen, daß diese Aufgabe nicht damit erfüllt ist, wenn wir wertvolle Tradition, überkommene Begriffe und Worte wieder hörbar und verständlich machen, sondern daß es nun unsere unermeßliche Aufgabe ist, alle Fragen unseres gegenwärtigen Lebens mit diesem Christuslicht zu durchleuchten und den Scheinwerfer dieser Erkenntnis auf die praktischen Fragen unseres persönlichen, leiblichen, wirtschaftlichen Lebens zu richten. Laßt uns Gott danken, daß wir so große Aufgaben vor uns sehen, daß die geschichtliche Stunde viel von uns verlangt, und daß uns noch Kraft und Raum gegönnt ist, ein Weniges zu tun von dem, was getan werden muß.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 190-194

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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