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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerIm Weihnachtsbrief hatte ich angeregt, daß die Mitglieder des Berneuchener Kreises sich im Laufe dieses Jahres mit den Seligpreisungen befassen sollten. Eine der Fragen, mit denen ich damals zum Nachdenken anregen wollte, lautete: Was heißt es, wenn diese Menschen „selig” gepriesen werden? Einer unserer Freunde hat mir sehr nachdenklich zu all diesen Fragen geschrieben; er beschreibt den menschlichen Zustand, der in den Seligpreisungen nach verschiedenen Richtungen entfaltet ist, und fährt dann fort:

Leer„Dies (nämlich diese ihre innere Art und Haltung) gibt ihnen das Gefühl der „Seligkeit”, einer Bevorzugung, einer Berufung durch Gott in Christo. Keine Weltverachtung, aber eine Erkenntnis, daß sie nicht von dieser Welt sind. Gewiß ist auch der Ausblick auf das gemeint, was sie sein werden, aber der Hauptton liegt doch in dem Enthobensein schon in dieser Welt”. - Ich möchte gewiß nicht leugnen, daß die von Jesus selig Gepriesenen auch ein Gefühl ihrer eigenen Seligkeit haben können und daß ihnen aus einer verborgenen Tiefe eine wunderbare Freudigkeit zuströmen kann. Aber sicherlich ist es nicht eigentlich dies, was Jesus meint, wenn er Menschen einer bestimmten Art selig preist. Sie sind selig; sie sind die, auf denen Gottes Wohlgefallen ruht, sie sind die, über die Gottes Segen ausgeschüttet ist und durch die Gott die Welt segnet, auch wenn sie selbst gar nichts von dieser Seligkeit spüren und wenn ihr Herz sich nicht zu solcher überlegenen Freudigkeit aufschwingen kann.

LeerWir sollten überhaupt nicht so sehr darauf achten, wie wir selber uns fühlen, und sollten uns jedenfalls von den unvermeidlichen Schwankungen unseres Lebensgefühls nicht abhängig machen. Die Menschen, die in den Seligpreisungen beschrieben werden, fühlen sich gerade nicht „glücklich”, auch nicht befriedet oder reich, sondern sie leiden, sie leiden wirklich; sie leiden unter sich selbst, unter ihrem Mangel und unter der Ungerechtigkeit der Welt. Sie werden von den andern im besten Fall bedauert, weil sie der robusten Lebenskraft ermangeln, und sie sind ständig in Gefahr, sich selber zu bedauern, weil sie es so schwer haben. Gerade diesen Menschen wird es gesagt, entgegen allem Augenschein und entgegen ihrem eigenen Gefühl, daß sie selig sind. Das Urteil Gottes zerbricht alle Maßstäbe unseres menschlichen Urteils. Eben dies ist das Evangelium, daß denen, die sich fürchten, die große Freude verkündet wird, daß die erschrockenen Herzen nicht vertröstet aber getrost werden. Es gehört zu diesem Evangelium, daß die Seligkeit in Zeit und Ewigkeit etwas anderes ist als Glückseligkeit.

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LeerWir hatten ein Gespräch über die „Dogmen” der Kirche. Dogmen seien, so sagten wir, der Niederschlag ganz bestimmter Erfahrungen, die der Kirche Jesu Christi geschenkt worden sind. Diese Erfahrungen aber wachen nur auf an der „Grenze” der menschlichen Existenz, an der Grenze, wo unsere sinnliche Erfahrung, unser schlußfolgerndes Denken und unser bewußtes Wollen wirklich am Ende sind. Dogmen sind das Spiegelbild, in dem jene Erfahrungen vom Jenseits der Grenze in den Raum unseres Denkens und unserer Sprache zurückgeworfen werden. Daher es wesensnotwendig zu allen echten Dogmen gehört, daß sie dem Verstande nicht einleuchten und nicht mit rationalen Gründen bewiesen werden können. An jene Grenze aber wird der Mensch geführt durch das Leid, die Schuld und den Tod.

LeerIn dem Maß, als der Mensch sich diesem Grenzerlebnis entzieht und sich mit Hilfe einer Weltanschauung gegen diese Grenze isoliert (er flieht das Leid, er leugnet die Schuld, und er verharmlost das Sterben!), wird er unempfindlich für das, was dem Menschen immer nur an dieser Grenze erscheinen kann. Darum ist es gänzlich sinnlos, mit einem Menschen, der noch nie und nirgends an jene Grenze geraten ist, über die Dogmen zu streiten oder ihm auch nur irgend etwas von diesen Dogmen zuzumuten. Hier muß erst jene freche Sicherheit gebrochen werden, die über alles Geheimnis und Wunder überlegen zu lächeln wagt. Das Einzige, was hier möglich ist, ist jene schöne Bescheidenheit, die mir einmal ein junger Mann so ausgesprochen hat: Er habe keinen Zugang zu alle dem, wovon ich geredet hatte; aber er sehe ein, daß da etwas ist, zu dem er noch keinen Zugang habe. Welche Aufgabe für alle religiöse Erziehung und Unterweisung!

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LeerIn einem Vortrag hatte ich kürzlich davon gesprochen, daß wir heute wieder deutlicher als frühere Geschlechter sehen, was die Bibel mit den daimonizomenoi meint, jenen armen, von unheimlichen Mächten „besessenen” und vergewaltigten Menschen, und daß wir in diesem Zusammenhang wieder neu verstehen, warum in der Kirche zu allen Zeiten (bis in die jüngste Vergangenheit hinein) der Exorzismus, das heißt die Befreiung der Menschen aus solcher „dämonischen” Verstrickung und „Besessenheit” eine wesentliche Rolle gespielt hat; es werde eine Zeit kommen, wo man den Exorzismus wieder als die eigentliche und höchst verantwortungsvolle Aufgabe der Kirche erkennen werde. Im kleinen Kreis danach wurde das von einigen Theologen mit einer gewissen Befriedigung konstatiert, daß der Exorzismus „wieder zu Ehren komme”, und es verbreitete sich eine Stimmung merkwürdiger Zufriedenheit über diese Entdeckung.

LeerAber am gleichen Abend bekamen wir dann einen Anschauungsunterricht über die Größe und Schwierigkeit dieser Aufgabe. Die Menschen redeten, völlig gefangen in ihrer eigenen Sprache und Denkweise, hoffnungslos aneinander vorbei; die einen sprachen aus einer satten und mit sich selbst wohl zufriedenen kirchlichen Tradition heraus, die andern verstiegen sich in einen fanatischen Eifer, der nur noch Ohren abschlagen aber keine Ohren mehr auftun kann; der Teufel, der die Menschen taub und stumm macht, so daß sie nicht mehr aufeinander hören und nicht mehr miteinander reden können, war mächtig am Werk. Und es war niemand da, der diesen Bann hätte brechen können, der ein lösendes und heilendes Wort hätte reden können; niemand, der selbst bis in alle Tiefen hinein so von Christus erfüllt gewesen wäre, daß er in Christi Namen und Vollmacht die Herzen aus diesem dämonischen Krampf zur Freiheit der Wahrheit und Liebe hätte führen können. Und ich versank in ein trauriges Schweigen, des Wortes Jesu gedenkend, daß „diese Art nicht ausfährt denn durch Fasten und Beten”. Wieviel müssen wir lernen und gewinnen an Kraft des Opfers und der Entsagung, an Kraft und Treue des Gebetes, um den uns aufgetragenen Kampf gegen die Dämonen wirklich führen und den uns verheißenen Sieg wirklich bezeugen zu können!

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LeerWir haben in unserm Kreise öfters das Wort von Fr. Chr. Oetinger in den Mund genommen, daß „Leiblichkeit das Ende der Wege Gottes” sei. Ein Freund macht mich darauf aufmerksam, daß das Wort in einem Zusammenhang steht, der wichtig ist, wenn jene Äußerung nicht mißverstanden werden soll. „So bildet sich dann nach und nach im Wiedergeborenen in dem natürlichen Leib ein zarter geistlicher Leib, ein verborgener siderischer oder ätherischer, ein eigentlich unverweslicher Leib. Leib bleibt Leib, Geist bleibt Geist. Doch geht der Geist vom Leib aus; der Leib aber wird nicht zu Geist, er bleibt des Geistes Untergestell. Geist kann aber nicht sein ohne einen geistlichen Leib, welcher genährt wird aus dem Leben Jesu, des Herrn und Fürsten des Lebens, der das Leben in ihm selber hat. Denn Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes”. „Sehen können wir den neuen Leib in dieser Welt nicht, ob wir ihn schon essen und trinken: der alte Mensch hat den neuen in sich, und es geschieht durch göttliche Anstalt, daß ans dem Natürlichen das Geistliche als aus einer Mutter herauskommt” (Evang. I, 360; Wört. 407; die Citate nach Auberlen, Die Theosophie Oetingers). Man muß wohl die gesamte Denkweise Oetingers und seine Terminologie etwas kennen, um diese Sätze völlig zu verstehen; aber so viel ist doch wohl jedem verständlich, wie unlöslich jenes Wort, das wir so gern anführen, mit dem Glauben an die Auferstehung, an eine reale Wandlung des Menschenwesens durch den Geist Jesu Christi zusammenhängt und daß es alles andere eher ist als eine Verherrlichung dieses irdischen und materiellen Leibes!

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LeerZur Frage der Freizeiten schreibt mir P. Uhsadel:

Leer„Je mehr unsere Arbeit in Kirchgemeinden fruchtbar wird, desto mehr bedrängt uns die Frage, wie wir den Gemeindegliedern auch Anteil an unserer Freizeitarbeit geben können; denn erst in der Verbundenheit ganzer Tage vom Morgen- bis zum Abendgebet können Fernerstehende erfahren, was wir sind und wollen, und erst aus dem Mitleben in solchen Tagen auch die Freudigkeit gewinnen, das, was uns not scheint, auch in ihr persönliches Leben aufzunehmen. Es ist mir z. B. deutlich geworden, daß viele durch Reden schwer zu überzeugen sind, wie notwendig die tägliche Lesung ist, daß sie aber von selber zur täglichen Lesung kommen, wenn sie an einer Freizeit teilnahmen und nun den Wunsch haben, das dort Erlebte in ihrem Alltage fortzusetzen. Ich halte diesen Ansatz auch für richtiger, denn nun halten sie die tägliche Lesung sogleich als Glieder einer wirklich erlebten Gemeinschaft des Geistes, nicht als christliche Privatpersonen, die sich gern in die Bibel vertiefen.

LeerHier besteht aber nun die Schwierigkeit, daß die große Mehrzahl unserer Gemeindeglieder es nicht ermöglichen kann, an einer mehrtägigen Freizeit teilzunehmen. Für den Kreis besteht andrerseits die Gefahr, daß an seinen Freizeiten schließlich immer nur eine feststehende Schar von solchen Menschen teilnimmt, die es sich finanziell und zeitlich leisten können. Darum mache ich einen Vorschlag, der auch schon erprobt worden ist: Es werden eintägige „Sonntags-” oder „Gemeindetreffen” gehalten zu denen jeweils Glieder einer Gemeinde und die Glieder des Kreises, die in der Nachbarschaft wohnen, eingeladen werden. Man beginnt am Freitagabend mit einem Bibelabend oder Vortrag, abschließend mit dem Abendgebet, in der Stadt, kommt am Sonnabend zur Wochenschlußandacht zusammen und fährt am Sonntag früh gemeinsam hinaus in ein Dorf am Stadtrande, das schnell erreicht werden kann. Dort wird dann der Tag vom Morgengebet oder der Deutschen Messe an bis zum Abendgebet gestaltet, wie wir es gewohnt sind. Eine Schweigezeit, wie auch das Lesen bei Tisch dürfte sich bei so kurzem Beisammensein nicht immer empfehlen, auch mangelt es wohl im allgemeinen an den nötigen Ruheplätzen für das Schweigen.

LeerBei solcher Ordnung ist durch das Beisammensein an drei Tagen doch etwas von dem, was uns die längeren Freizeiten bieten, gewonnen und es wird der Beginn des Sonntages durch die beiden vorbereitenden Zusammenkünfte wesentlich erleichtert. Wo es gar nicht anders geht, kann man sich auch mit einem Vorabend begnügen, auch scheint es mir möglich, etwa am Freitag die Beichtfeier in der Gemeinde zu hallen, am Sonnabend die Herrenmahlsfeier und dann den Sonntag anzuschließen.

LeerAuf diesem Wege würde möglich werden, in den Gemeinden wieder ein „Leben mit der Kirche” zu wecken, wozu wir durch bloßes Anreden nie gelangen. Wir würden hiermit gleichzeitig die rechte Form für das, was wir als richtiges Anliegen in katholischen Wallfahrten und in unsern beliebten „Gemeindevereinsausflügen mit abschließender Andacht” wahrnehmen, gefunden haben.”

LeerSo weit dieser Brief. Es ist deutlich, daß auch dieser Weg an ganz bestimmte örtliche Vorbedingungen gebunden ist; aber die Vorschläge scheinen mir doch so wichtig, daß ich sie unverkürzt dem ganzen Kreis zum Nachdenken und zur Anregung mitteilen möchte.

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LeerIn verschiedenen Städten habe ich einen Vortrag über Parzival gehalten. Es hängt wohl tief mit unserm gegenwärtigen deutschen Schicksal zusammen, daß die Parzivalgestalt und Wolframs Dichtung eben jetzt sehr verschiedenartige Menschen in ihren Bann gezogen hat. Es ist in der Tat höchst erstaunlich, welche Fülle tiefster geistlicher Erkenntnisse hier der Entdeckung harrt, verborgen unter der Hülle der Bilder, die aus Sage und Dichtung gewoben ist. Ich kann einstweilen nur dringend anregen, sich mit geduldiger Liebe in diesen ungeheuren Stoff zu versenken. Die Prosa-Übersetzung, die Wilhelm Stapel in der Hanseatischen Verlagsanstalt veröffentlicht hat, vermittelt eine genaue Kenntnis von dem Inhalt der Wolframschen Dichtung und bietet in den Anmerkungen einige wichtige Hilfen zum Verständnis; mehr darf man freilich in dieser Prosaübertragung nicht suchen. Für viele wird sich das Büchlein von Joh. Bielfeldt „Der christliche Ritter deutscher Nation” (Kranz-Verlag 1935, 1.10) als eine Einführung in den Sinn der Parzival-Dichtung als hilfreich erweisen. Wenn es mir gelingt, meinen Vortrag zum Druck zu bringen, so werden es die Leser unserer Jahresbriefe erfahren; nur kann und will ich freilich auch nicht mehr bieten als ein paar Wegweiser in einem unerhört weiten und reichen Garten.

LeerEs müßte einem Dichter von Gott aufgetragen und geschenkt werden, daß er aus der Fülle echter Erkenntnis dem gegenwärtigen Geschlecht neu erzählte, welchen Weg Parzival geführt worden ist. von seiner Mutter zum Königtum des Gral. -

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LeerIm Fastenbrief hatte ich die Frage weitergegeben, wie man es lernen könne, bei Tag und Nacht zu wirklicher Ruhe und innerem Schweigen zu kommen. Zu meiner Freude habe ich dazu eine ganze Reihe wertvoller Zuschriften empfangen; ich habe daraus eine Anzahl von Sätzen zusammengestellt, die ich unsern Lesern mitteilen werde. Leider haben sie im Osterbrief keinen Raum mehr gefunden und ich muß ihren Abdruck auf den Johannisbrief verschieben.

Evangelische Jahresbriefe 1938, S. 104-109

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-05
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