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Die Mächte des Lebens und ihr Herr
von Otto Heinz v. d. Gablentz

I. Lebensmächte

LeerEin Mensch, der ohne Angst und ohne Illusionen durch das Leben geht, gleicht einem Bergsteiger, der auf ein fernes Ziel zu einen unbekannten Weg wandert. Er schreitet gleichmäßig aus. Steigt der Hang steil an, dann verlangsamt er den Schritt - aber nur wenig. Geht es eben oder bergab, dann lockert er seine Haltung - aber nur wenig. Beim Steigen hält er nur selten an - denn sein Tempo ist so ruhig im Ganzen, daß er die Mühe schon eingerechnet hat. Auf glattem Wege geht er nicht unbekümmert schnell; denn er muß Kraft sammeln für den neuen Anstieg. Er paßt sich dem Rhythmus an, nach dem der Berg selbst gestaltet ist, aber er nimmt den Maßstab für seine Haltung aus sich selber.

LeerAlle Elemente treten ihm von außen entgegen, fördernd und drohend: die Erde trägt ihn, und sie hemmt seinen Schritt, wenn sie sich steil vor ihm aufreckt; die Luft umgibt ihm kühlend und tobt in wütendem Sturm gegen ihn an; das Wasser erquickt ihn im Quell und im sanften Regen, und es gefährdet ihn in Nebel und Eis; das Feuer der Sonne macht ihm den Weg erst gangbar und es kann ihn töten mit seiner Glut. Alle Elemente spürt er in sich selber: die Erde baut seinen Körper und wie ein Stück von ihr selber bewegt er sich in ihrem Rhythmus mit; die Luft zieht er in sich und aller Gebiete, die sie durchstürmt, „wird er inne” darin; das Wasser nährt ihn und fließt umgewandelt durch seine Adern; das Feuer empfindet er als die Eigenkraft, die er allen Mächten draußen entgegenzusetzen hat. Er ist selber einer von ihnen, er ist Glied der Natur, und er weiß sich als ihr Glied. Er hat teil an ihrem Rhythmus, und er gestaltet mit an ihrem Rhythmus. Das verleiht ihm Kräfte auf seiner Wanderung. Aber es ist nicht alles. Es verleiht ihm nicht die Kraft, die Wanderung zu beginnen und nicht den Willen, sie zu beenden; denn seine Wanderung hat ein Ziel. Und indem er das Ziel kennt und dem bekannten Ziel nachstrebt auf dem unbekannten Wege, ist er her ausgetreten aus dem Rhythmus der Elemente, ist er in eine neue Welt getreten, in die Welt des Geistes. Hier ist er nicht mehr Glied, hier ist er Herr der Natur.

LeerErst diese Spannung, zugleich Glied und Herr der Natur zu sein, gibt dem menschlichen Leben seinen menschlichen Inhalt. Wem die Herrschaft zu schwer fällt, der kann noch immer leben, aber er vertiert in sinnloser Bewegung, oder er vegetiert untätig dahin, oder er erstarrt im bloßen Dasein. Die Lebensmächte sind stärker als er. Wer aber die Gliedhaftigkeit verliert, kann auch die Herrschaft nicht behaupten. Abstrakte Geistigkeit verdorrt im Tode.

LeerWir müssen die Lebensmächte kennen, wenn wir menschlich leben wollen.
„Wer nicht fragen kann,
Wie nur je ein Freier,
Bleibt im Trugesbann
Siebenfacher Schleier.”
(Christian Morgenstern)
LeerSo müssen wir in dankbarer Aufmerksamkeit auf einen Frager hören, de« unbefangen und mutig an die ganze Wirklichkeit des Lebens herantritt, der fragt und hört, ohne seine Antwort vorweg zu haben. In dieser Haltung des Fragens kann Fritz Klatt ein Vorbild sein. So ist er es auch im Ansatz seines letzten Buches. (1)

LeerEr hat die unmittelbaren Mächte des Lebens so stark erfahren - am stärksten im Kriege - daß ihm jede überlieferte Deutung darüber fragwürdig geworden ist. Er will „auf den Grund gehen”, auch „die dunkelste Verzweiflung in das persönlich bewußte Leben einbeziehen als nicht wegzudenkenden Bestandteil”. Er hat die „Vernunft des Leibes” erfahren und preist in der Zeugung die Gefährdung und Heilkraft des Lebens. Er weiß, daß Freiheit erst in selbstgewollter Bindung sich erfüllt. Er sieht die Spannung von Freiheit und Bindung in den Tiefen des Lebens als „Lebensmacht männlicher und weiblicher Ergänzung”. Die beiden von Goethe entdeckten Lebensgesetze der Polarität und Steigerung helfen ihm zum Verständnis der verschiedenen Wege, deutend die Welt zu gestalten, mit Nietzsche in der rein männlichen Liebesüberwindung, mit Hölderlin und Novalis in der „mutterrechtlichen” Liebeserfüllung. Er spürt dem Wege Goethes und Karossas nach, in der Zeugung des Neuen, die zugleich Überwindung des engen Selbst ist, beiden Gesetzen dauernd gerecht zn werden, und läßt sich von Rilke die Pforte zu einer metaphysischen, fast okkulten Schau eines jenseitigen Ausgleiches aufstoßen.

LeerEr macht dieses Wissen fruchtbar für die Lebensgestaltung der Gemeinschaft. Gegenüber dem einseitig männlichen, willensbetonten Wesen unserer Kultur müssen die weiblichen Kräfte der Beharrung, der behutsamen Einfühlung zur Geltung kommen. Der Mann muß sein „inneres Mädchen” entdecken, wie Rilke ihn mahnt. Die hohe Wertung der Arbeit, zu der unsere Zeit mit Recht gelangt ist, verlangt zur Ergänzung eine Hinwendung zu Kunst und Spiel. Das bloß gliedhafte Arbeitsideal und das krampfhaft herrscherliche Tatideal müssen sich verbinden in der Anerkennung des geduldigen bewußten Dienstes - überzeugend dargestellt an Stifters „Witiko”.

LeerEr verlangt geistige Ordnung des Lebens durch „organisches”, nicht objektives Denken, „vom Leib”, d. h. von der unmittelbaren Erfahrung aus. Er warnt vor Willensüberspannung wie vor willenlosem Erleben. Er verlangt, die Erfahrung Nietzsches „Gott ist tor” und die Erfahrung der frommen Geborgenheit, die spricht „Befiehl du deine Wege”, als gleich „wirklich” zu nehmen. Er beschwört hinter allen Einzelerlebnissen die „Urphänomene” herauf: Licht und Finsternis, die Macht der Sterne und die Elemente, die lebensreiche Pflanze, Tier und Mensch.

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LeerEr macht deutlich, wie diese Erfahrung des „Urbildes” im „Bilde” aller Kunst den Maßstab gibt. Singen und Tanzen, Zeichnen vermittelt den Zugang zu Erlebnis und Gestaltung, zu Natur und geschichtlicher Gemeinschaft. Mit seinem genialen Verständnis der Sprache stößt er am tiefsten vor. „Dichtung” sagt er, „vermittelt zwischen alltäglicher Wirklichkeit und ewiger Wahrheit”. Nur die Offenheit zum Hören verbinde den Menschen mit den „schaffenden Mächten”. Und der Sinn der Sprache liegt für ihn darin, daß „auf Erden der geistige Ausdrucksumfang für das Seiende wachsen muß”, daß wir, wie es bei Rilke heißt, mit „den Engeln die Welt preisen” - in der einfachen Sprache des Glaubens, daß wir „Gott loben”. Ihm ist dieser Eindruck zu eindeutig. Wir sind, meint er, „schwergläubig” geworden. All unser Denken hat „Versuchscharakter”, muß für ihn „von neuem Körpergefühl ausgehen”. (Gemeint ist etwas Tieferes: es muß leibhaft sein. Er findet selbst ein seiner Meinung besser entsprechendes Wort: „Wir wollen eingehen in das, was wir wissen”).

LeerEr faßt noch einmal die Erfahrung zusammen, wie wir leben aus der Kraft der Elemente („der Urgottheiten des Himmels und der Erde”) und aus der Kraft der Geschichte („aus dem gemeinsamen Gut menschlicher Geistigkeit”), ehe er sich herantastet an die Grenzerfahrung des Lebens, an den Tod. Tiefernst ist seine Ablehnung gegen jede Beschönigung der Todeserfahrung. Wer die Todesangst wirklich erfahren hat, kann sich mit einer übernommenen Deutung des Todessinnes nicht begnügen. Vor einer weiterweisenden Erfahrung aber resigniert Klatt. Er nennt den Tod „Zurückgeben des persönlichen Lebens an die Urmächte der Welt”. Dem Menschen seiner Haltung, den die christlichen Lehren nicht mehr überzeugen, der sich auch au Nietzsches Konstruktion von der „ewigen Wiederkehr” nicht mehr halten kann, bleibt nur übrig, wie Rilke seinen Tod zu sterben, im Bewußtsein, daß auch der Tod sinnvoll ist.

LeerDerselben Lebenshaltung, groß in ihrer Illusionslosigkeit, aber noch viel härter in der Darstellung der Erfahrung und im Mut, sich diesem harten Leben entgegenzustemmen, begegnen wir bei Ernst Jünger. Am deutlichsten wird sie in seinem Aufsatz „Über den Schmerz” (2) und in seinem neuen Buch „Auf den Marmorklippen” (3) Jünger weiß noch mehr als Klatt um die Ekstasen, die Ausschreitungen der Lebensmächte, in der Liebe und im Schmerz, in Rausch und Wahnsinn und Grausamkeit und in seliger Hingabe. Er sieht allem ins Auge und hält doch den Maßstab fest, das Bild des Manschen, die Würde des Menschen. Die tragende Kraft ist bei ihm deutlich, bei Klatt verhüllter, ein tiefer Humanismus; der Mensch ist das Maß aller Dinge.

LeerHier gibt es aber einen Widerspruch. Wir erleben die Einheit von Leib und Seele in den rhythmischen Perioden des Menschenlebens, in der Glut der Sinne, in der inneren Gewalt von Sippe und Volk, in Gemeinschaft des Volkes und Kampf der Völker. Wir erfahren die Spannung des Geistes zum Leben im Schaffen und im Ringen um die machtvolle Ordnung der Gemeinschaft. Wir erleben die jeder Deutung spottende Gewalt des Lebens im Rätsel des Schicksals, im Druck des Schmerzes, im Tode. Hier wird eine übermenschliche Macht geschaut, vor der zunächst einmal das Bild des Menschen verblaßt. Darum spricht Klatt von „schaffenden Mächten”, Rilke in den Duineser Elegien von den Engeln. Diese Erfahrung muß zu echtem Polytheismus führen; aus ihr heraus singen die Heiden im Anfangschor des mittelalterlichen Spiels vom Antichristen:
Sic multa sunt officiaSo ist verschiedenes Gebiet
Diversaque deorum,Den Göttern untergeben.
Quae nobis sunt indiciaDas zeigt uns an den Unterschied
Discriminis eorumIn ihrem Sein und Weben.
Qui igitur tam multifariisAlso muß, wer solcher Vielgestalt
Unum dicunt praeesseVoran will einen setzen,
Illorum contrariisSehen, wie der Widerstreit alsbald
Est affici necesse.Muß seinen Gott verletzen.
LeerWer demgegenüber vom Erlebnis der Ordnung und Einheit getroffen ist, gerät in Gefahr, aus diesem andersartigen Erleben heraus sich ein ebenso einseitiges Bild der Gottheit zu machen. Er kommt dann zur Vorstellung des willkürlichen zornigen Gottes und singt mit dem Chor der Juden im alten Spiel „Nulla spes in homine” (Keine Hoffnung kann auf Menschen sein!)

LeerOder aber er sieht durch das Menschenbild hindurch eine andere Gestalt schimmern, die erst erfüllt, was die Menschengestalt andeutet. Nicht der Mensch ist dann der Maßstab, auch nicht der Geist in der Fülle seiner Erscheinungen, seiner „schrecklichen Engel”, wie Rilke sie geschaut hat, aber auch nicht ein unbegreiflich willkürlicher Schöpfergott, stumm wie der Stein und brennend wie das Feuer - sondern der Gott-Mensch, der Christus als Mitte dieser dreifachen Gotteskraft.

II. Höllenfahrt und Himmelfahrt Christi

LeerDieses Bild hat Matthias Grünewald gemalt. Es gibt viele Auferstehungsbilder, die einfach feststellen: der Herr ist wieder da, der Tod hat ihm nichts anhaben können. Es gibt andere - so ein gewaltiges von Greco - auf denen wird deutlich, welch eine Umwälzung in den Menschen und Dingen vorgeht durch die Auferstehung. Grünewalds Bild vom Isenheimer Altar zeigt etwas anderes: das Wunder der Wandlung, das sich am Ostermorgen vollzieht. Er malt den Licht-Leib. Die Gestalt des Herrn ist Leib, deutlich umrissen, kenntlich, greifbar. Und zugleich ist diese Gestalt Licht, eine heraustretende Verdichtung des Sonnenglanzes, der das Haupt umgibt, greifbar und doch dem Zugriff entzogen, noch Leib und schon Licht, noch Licht und schon leibhafte Gestalt. Die Lehre der gegenwärtigen physikalischen Wissenschaft von der Entstehung der Materie ans den Strahlen des Lichtes kann uns den Zugang zu diesem Wunder, ebenso erleichtern, wie ihn die materialistische Physik erschwert hat. Aber Grünewald führt uns darüber hinaus in den Bereich der Sinndeutung, der jeder Naturwissenschaft verschlossen bleibt. Er verdeutlicht uns dieses Wunder der Schöpfung überhaupt: Licht wird Leib - zugleich das Geheimnis der Wandlung: Leib wird Licht - und er gibt die Deutung beider Geheimnisse: das wahre Bild des Menschen.

LeerVon hier aus können wir die Deutung der Welt wieder versuchen. Und wir werden gerade dort anfangen, wo Klatt aufhört. Auch für die tapferste Lebensphilosophie ist der Tod etwas, das zum Leben gehört, das notwendige Ende. Kennt man auch seinen Sinn nicht, an seiner Notwendigkeit und darum an seiner verborgenen Sinnhaftigkeit zweifelt man nicht. Darum kann man den erhebenden Gedanken von der Überwindung des Todes so wenig denken, wie den entsetzlichen Gedanken, daß der Tod nicht notwendig, daß er durch sinn-lose Freiheit verschuldet ist. Man ist stolz darauf, mit der Todesfurcht auch die Hoffnung ewigen Lebens verbannt zu haben.

LeerWir aber gehen aus von der Auferstehung Christi. Hier ist die Mitte der Geschichte der Erde. Schauen wir zurück, dann sehen wir die Erde, die aus Licht verdichtete Materie, in ihrer höchsten Schönheit, dem organischen Leben, der Vernichtung ausgesetzt durch die Ungeduld und Eitelkeit des Menschen. Nicht daß er sich bewußt wurde, Gottes Ebenbild zu sein, ist seine Schuld, sondern daß er sich selbst wichtig nahm, daß er eitel wurde. Nicht daß er die Herrschaft ausgeübt hat über die Elemente, hat die Natur in den Tod mit hineingerissen, sondern daß er sie willkürlich, lieblos, ohne Ehrfurcht ausgeübt hat vor dem, was über ihm und was unter ihm ist. Der Tod erfaßt alles, die alte Erinnerung an das ewige Leben erlischt von Jahr zu Jahr mehr bis auf den letzten Funken, bis die Sinnlosigkeit des Todes und die Verstricktheit der Menschheit erbarmungslos deutlich wird am Kreuztode Jesu. Hier findet der Tod ein Ende. Der Leib des Herrn verwest nicht. Er lockert sich wieder zur Gestalt des Menschen. Die göttliche Liebe selbst hat nicht nur einmal Schöpferkraft, sie hat die Kraft zur Neuschöpfung erwiesen. Von ihr geht die neue Geisteskraft aus, die nun die Menschen sammelt, erleuchtet und wandelt von Pfingsten bis zum Ende dieser Erde.

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LeerDieses Weltbild ist dogmatisch. Es ist nicht nachzuweisen mit den Kräften der Logik. Denn das Wirkliche ist überhaupt nicht zu beweisen. Daß die Auferstehung Christi eine Wirklichkeit, ja die eigentlich wahre Wirklichkeit ist, dem kann man näher kommen, wenn man an eigenen Erfahrungen die Wirklichkeit des Lebendigen, Auferstandenen spürt. Man kann auch feststellen, daß die christliche Sinndeutung Fragen beantwortet, die sich sonst jeder Lösung entziehen. Aber man kann auch sie nur hinstellen und muß es dem Wirklichkeitssinn der Frager und der Gnade Gottes überlassen, wie sie weiterkommen und wie Gott uns hilft, die notwendig unvollkommene Deutung seiner Wirklichkeit im Dogma lebensnah auszudrücken.

LeerAber neben der Frage nach dem Tode, die so unerwartet in das Zentrum rückte, ist die Frage nach den Mächten und der Herrlichkeit des Lebens noch unbeantwortet. In unserer knappen Darstellung oben fehlten auch zwei Zwischenglieder. Zwischen Kreuztod und Auferstehung liegt jenes Ereignis, für das die Kirche den Ausdruck „Höllenfahrt Christi” gebraucht, und zwischen der Auferstehung und der Ausgießung des Geistes sehen die Jünger den Herrn „gen Himmel fahren”.

LeerDie Himmelfahrt gehört aufs engste zur Auferstehung. Die Ballung der Lichtkräfte in der Form des Leibes war noch ein Rest der Bindung an Zeit und Raum. Nicht Auflösung des Leibes ist hier geschehen, sondern umgekehrt, die Kraft, die in der Auferstehung errungen ist, die sieghafte Formungskraft des Lichtes durchdringt jetzt alle Welt. So konnte es geschehen, daß sie sich ohne leibliche Bindung auch wieder auf die Jünger warf, ja daß sie gerade ohne diese Bindung ihnen die freie Einordnung möglich machte. Das war das Pfingstwunder, das ist das Pfingstwunder jeder christlichen Gemeinschaft, in der die Liebe alles Wort durchdringt, daß durch die Verschiedenheit der Sprachen hindurch buchstäblich die Ursprache der Engel, das göttliche Urwort, verständlich wird.

LeerEs bleiben aber noch Fragezeichen. Wie ist es mit der vorchristlichen Welt? Bleibt auf ihr der Fluch, weil diese Menschen ohne ihre Schuld zwischen Sündenfall und Auferstehung lebten? Wie ist es mit jenen Lebensmächten, die, dem Tobe unterworfen, dennoch Gottes Gesetze durch das Leben tragen? Hat Christus den Tod überwunden, dann muß er auch sie neu geordnet, dann muß er dem scheinbar Verlorenen wieder Sinn gegeben haben. Die alte Kirche hat dafür das Dogma der „Höllenfahrt”. Das Mittelalter malt Bilder, wie der Herr die Ureltern Adam und Eva aus dem Höllenrachen holt. Die Apostel sprechen in verhüllten Bildern davon, daß er „hinuntergefahren ist zu den untersten Örtern der Erde” (Eph. 4, 9), daß er „gepredigt hat den Geistern im Gefängnis” (1. Petr. 3, 19), daß er „gesetzt ist über alle Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft” (d. h. über alle Chöre der Engel) (Eph. 1, 21).

LeerMenschen, denen es verliehen ist, die „Mächte” unmittelbar zu schauen, so wie Rilke Engel schaute, und wie manche auch heute unter uns weilen mögen, können uns diese Worte vielleicht einmal begreiflicher machen. Unsere Erfahrungen hier sind heute beschränkt, beschränkter als die der meisten früheren Generationen. Sicher ist aber eines: alle Mächte sind vom Herrn „in seinem Triumphzug mitgeführt”. (Kolosser 2, 15). Nichts ist in der Welt, das nicht von ihm durchdrungen wäre, nichts, das wir nicht „in Christo schauen” könnten. Kein Mensch und kein anderes Wesen in der Schöpfung, keine Leidenschaft und keine Sünde und kein Geschehen, möge es noch so fremd und furchtbar erscheinen, durch das hindurch wir nicht das Licht zu schauen vermöchten, wenn nur unser Auge rein und mutig geniug ist. Ja, wir sollen den Dingen „auf den Grund gehen”. Aber auf dem Grund finden wir immer nur ihn, den Herrn. Denn er ist auch „niedergefahren zur Hölle”

III. Vom Ziel des Lebens

LeerWie aber ist es möglich, daß wir von der gegenwärtigen Kraft des lebendigen Christus das erfahren, was uns jene Weltdeutung glaubhaft macht? Wir kehren zurück zum Bilde des Bergsteigers. Wer so durchs Leben geht, wie er es tut, der muß das Ziel seiner Wanderung kennen. Selbst wer mit Klatt das Ziel nicht anders nennen kann, als „seinen Tod”, der muß die Sicherheit in sich tragen, daß dieses Ziel gerade nicht Tod ist, sondern Tod überwindendes Leben. „Wer das Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben”. Die Apostel haben manche Namen für dieses Ziel des Menschenlebens. „Das vollkommene Gesetz der Freiheit” nennt es Jakobus (1, 25), „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes” sagt Paulus im Römerbrief (8, 21), „das Maß des vollkommenen Alters Christi” im Epheserbrief (4, 13). Es ist immer dasselbe: die Wandlung aller Dinge zum Lobe Gottes.

LeerJetzt wird deutlich, was das Dogma will. Nicht als „Zwang zu Gott” wie Rilke einmal sagt, lehrt die Kirche ihr Glaubensbekenntnis, um den Menschen die Not der Erfahrung zu ersparen. Das wäre wirklich der Großinquisitor Dostojewskis. Wohl als Weisung für einen Weg, den der Gläubige selbst einmal gehen soll, um dann die Erfahrung im eigenen Wort zu schildern. Aber das ist nicht der letzte Sinn. Der liegt wirklich, wie Rilke und Klatt das verkünden: in der Erweiterung des Lebens. Nicht die Bewahrung des Lebens ist der Sinn, sondern die Wandlung. „Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden” (2. Kor. 5, 17). Es ist jetzt schon neu. Auch wenn wir es erst im Rätselwort vernehmen, erst im Spiegel schauen (1. Kor. 13, 13), es ist im Kommen! Die Christus-Wirklichkeit steht da in der Welt-Wirklichkeit. Die Christenheit steht da in den Völkern trotz Krieg, sie steht da in der einen heiligen allgemeinen Kirche trotz der Konfessionen. Gott gibt den Demütigen, die sich ihm öffnen, ohne noch etwas für sich zu wollen, immer wieder Gnade, die Wandlung zu erfahren.
Gebet wandelt den Haß, und Fürbitte schafft eine völlig neue Situation von Mensch zu Mensch.
Meditation wandelt den Blick für die Dinge, daß wir sie vor Gott schauen, durchlässig für sein Licht, aus dem und zu dem er sie geschaffen.
Sakrament wandelt die Dinge, daß uns Wasser und Brot und Wein dienen zu dem, wozu Gott die Elemente bestimmt hat, zur Speise für Leib, Seele und Geist zugleich, daß sie uns „bewahren zum ewigen Leben”.
LeerDer Herr ist da in den Dingen und im Worte, er ist da im Menschen, er ist da im Werk, das betend geschaffen wurde, im Werk der Gemeinschaft, aber auch im Werk der Kunst, des Handwerks, der Technik. Es ist eine gefährliche Eitelkeit der Menschen, von „christlicher Kultur”, „christlichem Staat”, „christlicher Kunst”, „christlicher Gesellschaftsordnung” zu reden. Aber Gott vergönnt es immer wieder einem seiner redlichen Diener, daß er ihm ein Werk gelingen läßt, das das Lob Gottes weiterträgt: ein Bild oder Gedicht, eine Kirche oder ein Wohnhaus, einen Garten oder eine Maschine, eine Kirchengemeinde oder ein Staatsgesetz oder eine Arbeitsgemeinschaft mitten im Leben der Wirtschaft, die hinweisen auf Christus in Tat und Wort. Das ist das Ziel. Danken wir Gott dafür, wie es der heilige Franziskus tat, durch unsere Brüder und Schwestern, die Mächte des Lebens, bis hin zu unserem Bruder, dem leiblichen Tod, die uns den Weg zu ihm geleiten. Danken wir ihnen, indem wir sie mitnehmen zu ihrem und unserem Ziel.
„Es dankt aus aller Gottheit Ein-
Und aller Gottheit Vielfalt wieder;
In Dank verschlingt sich alles Sein.”
(Christian Morgenstern)

Anmerkungen
(1) Fritz Klatt: „Lebensmächte”, Gesetze der geistigen Entwicklung. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1939.
(2) in „Blätter und Steine”, Hanseatische Verlagsanstalt 1934.
(3) „Auf den Marmorklippen”, Hanseatische Verlagsanstalt 1939

Ev. Jahresbriefe 1941, S. 71-78

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-17
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