Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1942
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Gotteslob im Weltenbrand
von Georg Gudelius

LeerAm frühen Morgen des zweiten Kriegssonntags stürmen wir mit dem Wagen weiter vor, vorbei an fahrenden Kolonnen und marschierenden Bataillonen. Brennende Häuser und zerschossene Kampfwagen weisen uns den Weg der vorderen Truppenteile, die jetzt dabei sind, den Feind aus einem größeren Flecken zu werfen. Nun ist die Ortschaft vom Feinde frei, nur hier und da fällt noch ein Schuß aus den engen Gassen, die nachrückenden Kompanien übernehmen die restlose Säuberung der Häuser. Schon gebietet uns ein Funkspruch Vorsicht beim Feuern; denn von Norden her stoßen andere Truppen auf uns zu, mit denen wir uns heute die Hand reichen sollen, um mit ihnen weiter nach Osten vorzugehen. In den letzten Vormittagsstunden ist es dann soweit; es gibt für uns eine Atempause, die zur wohlverdienten Ruhe für Mann und Pferd genutzt wird. Bald sind die Quartiere bezogen, die Truppe verpflegt und die Pferde versorgt.

LeerTiefer Friede liegt über dem Flecken, in dem vorhin noch der Kampf tobte, in dem jetzt noch der Qualm in den zerstörten Häusern schwelt und wo am Straßenkreuz die grauen Soldaten ihre gefallenen Kameraden betten. Ich habe ein wenig ausgeruht und gehe nun langsam durch die Straßen. Da läßt mich ein schüchternes Glockengeläut aufhorchen; es kommt von der russisch-orthodoxen Kirche, dem ehrwürdigen alten Gotteshaus des Ortes, an dessen Rand sich erst in polnischer Zeit die römischen Katholiken ein neuen, etwas schreiendes Kirchlein erbaut haben. „Sollte etwa ...” Ich vermochte es nicht auszudenken, daß sich nach diesen Stunden des Kampfes, der Unruhe und der Zerstörung Menschen zu einem Gottesdienst zusammenfinden könnten. Mir ließ das Glöcklein aber keine Ruhe. So gehe ich denn die wenigen Schritte auf den Marktplatz, in dessen Mitte - unter den hohen Bäumen des „Kirchhofs” versteckt - die Kirche liegt.

LeerIch schreite über den schattigen Kirchplatz; da kann ich schon von außen wundervollen Gemeindegesang hören. Und nun trete ich ein. Das Kirchlein ist dicht gedrängt voll von bunt angezogenen Frauen und bärtigen Männern. Vor dem Altar verrichtet der Pope seinen Dienst; mit ungemein klangvoller Stimme singt er die liturgischen Stücke, und jedesmal antwortet die Gemeinde in mehrstimmigen Responsorien, ohne Orgelbegleitung, aber in einer Disziplin, die mich einfach staunen läßt. Ich verstehe kein Wort der russischen Liturgie; aber das verstehe ich: daß hier ein Hymnus nach dem andern aufklingt zur Ehre des auferstandenen Christus, der im Sakrament angebetet wird. Und was das Eindrucksvollste war: Der Gesang des Priesters und der Gemeinde waren begleitet von einer Gebärdensprache, die uns Deutschen - zumal uns Evangelischen - völlig fremd geworden ist und die doch, durch diese einfachen Bauern geübt, alle Zeichen der Echtheit und Sachgemäßheit an sich trug. Nicht nur das Knien der Gemeinde in der banklosen Kirche, auch die „große” Gebetshaltung des Popen: die ausgebreiteten erhobenen Arme, das tiefe Herabneigen des ganzen Körpers in demütiger Beugung vor dem göttlichen Geheimnis - vom Priester und von den Gläubigen ausgeübt -, alles das ist uns gewöhnlich ja nur literarisch bekannt; und doch: Hier wurde ich geradezu mit hineingenommen in diesen heiligen Strom der Hingabe und Anbetung.

Linie

LeerDas war das erste, was ich spürte: die Kraft wirklicher Liturgie Nicht einer Liturgie, die jemand mit allerlei menschlicher Klugheit - nur ja nicht irgendwo anecken! - ausgedacht hat, sondern einer dem Wortlaut nach völlig unbekannten und unverständlichen Liturgie, bei den einzig und allein ihr inneres Gewicht, ihre strenge Bezogenheit auf ihren Gegenstand, ihre heilige Sachgemäßheit „wirkte”.

LeerUnd das andere: Diese Liturgie erwies auch darin ihre innere Mächtigkeit, daß sie die Menschen einfach mit Beschlag belegte. Denn in welcher „Lage” befanden sich diese Bauern? Eineinhalb Jahre standen sie unter der Knute der Sowjets, verloren sie das Letzte, was sie hatten; dann nahmen die ihnen auch noch ihre Söhne fort und preßten sie zur Roten Armee, und jetzt sahen sie die Kriegsfackel über ihrem Ort lodern, die Häuser, Vieh und Menschen nicht verschonte. Fürwahr, eine „Lage”, die uns empfindsamen Mittel- und Westeuropäern Kopf und Herz wahrscheinlich derart beansprucht haben würde, daß wir nur zu Wehklagen und Verzweiflungsausbrüchen fähig gewesen wären. Und für die weißrussischen Christen? Sie ließen sich ganz abziehen von ihrem persönlichen Schicksal, mochte es auch noch so schwer sein, und sich hineinstellen in eine Wirklichkeit, die eben „nicht von dieser Welt” ist. Alles das brachte die Liturgie fertig; wohl sah ich hier und da in ein schluchzendes Frauengesicht, wohl rannen auch dem einen oder andern der alten Männer die Tränen in den Bart, aber alles bezwingend und sieghaft stand in dem Kirchlein der Lobpreis des lebendigen Christus, der dem Tode die Macht genommen und Leben und volles Genüge ans Licht gebracht hat.

LeerDas war das dritte, was mir aufging: Wenn uns das gelingt, völlig abzusehen von unserer jeweiligen inneren Verfassung, uns völlig frei zu machen von allen Sorgen, von allem Leid und Schmerz, und wenn wir uns dann finden können zum Lob des dreieinigen Gottes, dann erfüllen wir wahrhaft das „Amt” des Christen in der Welt, dann stehen wir wirklich in der echten Situation des Christen, der Gott lobt mitten im Zusammenbruch aller menschlichen Werte und Schöpfungen.

LeerDaß es diesen Ort auf Erden gibt, wo der Lobpreis Gottes erklingt - immerfort erklingt, und mag noch so lautes Getöse ihn zu übertönen suchen -, das ist das Geschenk, das uns in der Kirche gegeben ist: Eine andere „Aufgabe” hat sie nicht. Und daß der Mensch mitten im Weltenbrand Gott loben kann, das ist das Geschenk, das die Heilige Schrift als „neues Leben” bezeichnet, dessen wir teilhaftig werden durch die Menschwerdung, das Leiden und Sterben und die Auferstehung Jesu Christi. Wie klein wird angesichts dieser Urwirklichkeit alles Reden von „Christentum”, von „christlicher Weltanschauung” und wie man das sonst nennt.

LeerDer Gottesdienst im zerschossenen Dorf, die feierliche Liturgie im Angesicht des Todes - sie zeugen mehr von der Wahrheit des christlichen Glaubens als alle noch so klugen Gespräche und Darlegungen von ihr zu „überzeugen” vermögen.

Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 16-17

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
Haftungsausschluss
TOP