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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerDie Briefe, die Tag für Tag zwischen der Front und der Heimat hin und her gehen, sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem nie endenden Gespräch, in dem wir mit unseren Söhnen und Brüdern und Freunden, mit unseren Gatten und Freunden verbunden sind. Zweierlei bricht in dieser zumeist stummen Zwiesprache immer wieder hindurch: In diesem Kriege bersten all die Mauern, hinter denen sich die abendländische Menschheit seit Jahrhunderten gegen die WiIdwasser des tobenden Schicksals geborgen wähnte; die Sicherungen lösen sich auf und die letzten Illusionen, die den Abgrund verdecken, werden weggerissen wie ein Tuch, daß das Grauen eines blutenden Leichnams mitleidig verhüllt hat. Diesem Geschlecht kann nichts mehr vorgemacht werden; oft meinen wir, die Augen, die dieses alles gesehen haben, könnten sich von keinem unechten Glanz mehr blenden lassen, und die Ohren, die sich an diese Stimmen gewöhnt haben, müßten taub geworden sein für alles geschwätzige Pathos. Was bedeutet das für den Glauben, den wir mit der heiligen Kirche bekennen? Ist dieses Geschlecht so „nüchtern” geworden, daß ihm nichts mehr übrig bleibt, als unter einem gnadenlosen Himmel selbst hart zu werden, ohne Hoffnung und ohne Erbarmen? Oder sind Wir auf dem Wege noch nüchterner zu werden, so nüchtern, daß wir schon anfangen, die ewigen Sterne wieder zu sehen, die nur sichtbar werden, wenn es bei uns sehr dunkel geworden ist: nüchtern zu hören, nüchtern zum Gebef, nüchtern genug, um allein auf den Gott zu vertrauen, der Wunder tut?

LeerUnd das andre: die ganze bisherige Welt des Abendlandes versinkt. Wenn sich die Fluten des Grauens und des Hasses einmal verlaufen haben, wird das Angesicht unserer Erde gründlich verändert sein. Wir aber möchten immer noch halten und retten, was gewesen ist, und starren den Fluten nach, die ein Stück um das andere hinwegspülen. Wir gleichen dem Volk, das auf seiner mühseligen Wüstenwanderung sich zurücksehnt nach den „Fleischtöpfen” seines Ägypten, nach einem in sich ruhenden Dasein mit Frieden und Sicherheit (»pax et securitas«); und es gibt doch für uns wie für den stürmenden Soldaten kein zurück, sondern nur das tapfere Vorwärts über das Niemandsland hinüber auf einen Boden, den unsere Füße noch nicht betreten haben, und das unsere Augen noch nicht deutlich erkennen können. Das gilt für die Gesamtgestalt unseres Lebens; es gilt auch für die Gestalt, in der die Kirche Jesu Christi in dem verwandelten Europa bestehen wird für die ganze Welt. Gott hat alles, auch unser eigenes Werk, in den Schmelzofen geworfen, daß die erstarrten und spröde gewordenen Formen feuerflüssig werden und neu geschmiedet werden können. Einer unserer Gefallenen, um den ich mit besonderer Liebe traure, schrieb kurz vor seinem Tode: „Wir werden neue Kleider anziehen müssen, so schwer uns auch die Trennung von dem Alten werden mag. Ob es uns noch gelingen wird? Aber wir  m ü s s e n  den Mut zur Wandlung haben, wenn wir leben wollen. Der Krieg macht es uns ja unerbittlich deutlich, daß wir nur durch den Tod zur Geburt gelangen.”

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LeerIn vielen Gesprächen und Briefen dieses Sommers und in manchen Tagen gemeinsamer Besinnung, die uns geschenkt waren, ist deutlicher als je zuvor die Aufgabe vor uns sichtbar geworden, Männer und Frauen in den Dienst konkreter kirchlicher Aufgaben zu weisen und sie für dieses ihr Amt äußerlich und innerlich zuzurüsten. Es darf nicht bloß eine Verlegenheit und ein Notbehelf sein, wenn da und dort Aufgaben, die wir gewohnt waren, dem Pfarrer allein zu überlassen, von dienstwilligen Gemeindegliedern übernommen werden; sondern wir müssen uns von der aktuellen Not endlich dazu treiben lassen, nachzuholen, was wir versäumt haben, um das Predigtamt der Kirche aus seiner Überforderung und seiner Vereinsamung zu befreien. Das geistliche Amt fordert um seiner selbst willen die Entfaltung und Ausgliederung in einer Vielzahl von Ämtern, und sie stehen untereinander in einer sinnvollen Ordnung, deren einzelne Stufen man nicht ohne Schaden überspringen kann.

LeerAuf jeder Stufe, ob es sich um den Dienst am äußeren Gottesraum, um die Fürsorge für die Paramente, um das selbständige Abhalten von Lese- oder Gebetsgottesdiensten, um das Amt des Kirchenmusikers oder um das Amt der kirchlichen Unterweisung handelt, sind neben einem bestimmten Maß von Kenntnissen und von technischem Können bestimmte innere Voraussetzungen gefordert. Schon wird uns in den Umrissen ein Weg der geistlichen Ausbildung und Weiterführung sichtbar; bestimmte Übungen haben sich als sehr hilfreich erwiesen, um überhaupt erst einmal zu lernen, was es heißt, im kirchlichen „Raum” (äußerlich und innerlich verstanden) zu leben und zu handeln. Viele Freunde bezeugen uns, daß sie mit einer neuen und bisher nicht gekannten Freudigkeit sich an die Aufgaben wagen, die auf sie warten, weil sie jetzt nicht mehr allein auf ihre persönliche Tüchtigkeit angewiesen sind, sondern eine geistliche Hilfe, eine innere Zurüstung und den Segen der Kirche empfangen haben.

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LeerBei der Frage der „Verpflichtung” auf die Sätze einer christlichen Lebensordnung macht manchen unserer Freunde der letzte dieser Sätze besondere Not, der von der Bereitschaft handelt, seelsorgerlichen Rat anzunehmen und brüderliche Zucht an sich üben zu lassen. Darin kann sich eine sehr berechtigte und notwendige Sorge ausdrücken sich in einer falschen Weise an Menschen zu binden oder von ihnen abhängig zu werden. Aber wirkt sich hier nicht doch auch eine sehr bedenkliche Scheu davor aus, daß die Autorität Gottes für uns in einer leibhaften menschlichen Autorität konkret werden könnte; eine Angst davor, daß die verpflichtende Kraft des göttlichen Gebotes uns in einer konkreten menschlichen Weisung auf den Leib rücken könnte? Wir Protestanten haben eine merkwürdige Scheu vor allem Konkreten. Wir sehen nicht, daß Gottes Wahrheit und Kraft sich in bestimmte Gefäße ergießt, die, obschon irdene und zerbrechliche Gefäße, doch nun wirklich Gefäße des Heiligen sind: ehrwürdige „Väter” unseres Glaubens, Gestalten, die es anzuschauen gilt, Orte, die erfüllt sind von seiner heiligen Gegenwart; darum auch Seelsorger und Beichtväter, deren Rat wir um Gottes und um unseres Heiles willen suchen und hören sollen.

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LeerMannigfache Erfahrungen treiben mich dazu, einmal ein Wort über seelsorgerliche Verschwiegenheit zu sagen. Es ist selbstverständlich, daß der Seelsorger in strengem Schweigen bewahrt, was ihm anvertraut worden ist; das „Beichtgeheimnis” zu wahren, gehört zu den allgemein anerkannten Amtspflichten des Pfarrers. Aber es will mir je länger desto mehr scheinen, als gebe es auch auf der anderen Seite eine seelsorgerliche Schweigepflicht. Man kann nicht sich mit seinem Seelsorger aussprechen und dann zu anderen Menschen hinlaufen, um ihnen das gleiche noch einmal zu erzählen, oder ihnen auch zu berichten (oder gar sich darüber zu beklagen), was „er” dazu gesagt hat. In der Beichte - und jedes ernsthafte Gespräch mit dem Seelsorger ist in diesem Sinne eine „Beichte” - legen wir vor Gott ab, was unsere Seele belastet und verwirrt; man kann sich dann nicht wieder holen, was man sich hat nehmen lassen. Die notwendige und heilsame Verschwiegenheit, die wie ein schützender Mantel das seelsorgerliche Gespräch umhüllt, verpflichtet beide Seiten; einem geschwätzigen Menschen ist nicht ernsthaft zu raten.

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LeerAus einem Feldpostbrief: „Über unsere Arbeit werde ich immer gewisser. Wir sind auf einen Weg gestellt, der mit reformatorischer Gewalt vorwärtsdrängt. Und es ist das Beglückende dabei, daß von diesem Weg aus die Argumente der Kritiker und die der Kirche und dem Christentum Absagenden aufgenommen werden und zu Bausteinen an der Kirche selbst werden.”

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LeerIn der Schilderung der Apostelgeschichte erscheint es als ein bedenkliches Merkmal der Athener, daß sie allezeit darauf gerichtet gewesen seien, etwas Neues zu sagen oder zu hören. Diese verführerische Neu-Gierde ist eine der Süchte, die den Weg der Menschen begleiten und am Mark der Seelen zehren. Es ist gut, wenn wir diese Sucht als solche erkennen und anfangen, sie in uns zu überwinden; es ist auch gut, wenn wir den uns in der Kriegszeit auferlegten Zwang als eine heilsame Hilfe annehmen und uns dienen lassen, Jetzt ist die rechte Zeit, „alte” Bücher zu lesen, und die schlummernden Schätze zu heben, die dort auf uns warten, und Speise zu empfangen von den Äckern, die lange brach gelegen haben. Das gilt auch im geistlichen Leben. Wir sollen den Eintagsfliegen eines für den Tagesgebrauch rasch produzierten und rasch verbrauchten religiösen Schrifttums nicht allzu sehr nachtrauern; was nicht wert ist, nach Jahr und Tag wieder und wieder gelesen zu werden, ist wohl nicht wert, auch nur einmal gelesen zu werden; aber es stehen in unseren Stuben genug Bücher, die es verdienen, wieder gelesen, wirklich „behalten und im Herzen bewegt” zu werden. Wir können mit wenigem auskommen, wenn das Wenige nur nahrhaftes Brot, nicht Zuckerbäckerware oder Schaumschlägerei ist!

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LeerDie üblichen Hilfsmittel der täglichen Bibellese können in diesem Jahr nicht erscheinen. Es ist keine besondere Kunst, sich ohne solche Anleitung zurechtzufinden; dennoch werden viele unserer Freunde dankbar sein für eine knappe Anweisung, wie in den einzelnen Wochen des kommenden Jahres unser Lesungsbuch (die „Lesung für das Jahr der Kirche”) zu gebrauchen ist. Wir danken unserem Freunde Pfarrer W. Lotz in Pfieffe, daß er uns mit dieser Übersicht die Treue im täglichen Gebrauch der .heiligen Schrift erleichtert hat. Ich rate dazu, daß die einzelnen diese paar Ziffern für sich und vielleicht auch für andere abschreiben und in ihr Lesungsbuch einlegen; oder noch besser, immer für ein paar Wochen im Voraus, aus dem Lesungsbuch oder aus dem vorjährigen kleinen Kalender die Schriftstellen selbst herausschreiben und sich die Übersicht in ihre Bibel einlegen.

Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 18-20

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
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