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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerAls der Krieg ausbrach, riß er uns alle aus dem Gleichmaß unserer Lebensgewohnheiten und unserer Arbeit. Während er die einen in der empfindlichsten Weise auch äußerlich aus der Bahn warf und sie zwang, alles, was ihnen nahe und vertraut war, hinter sich zu lassen, ist doch auch den anderen eine Loslösung und Umstellung zugemutet, wenn auch in einer stilleren und verborgenen Weise. Manchem schien es besonders schwierig, in der gewohnten Umgebung, zwischen den vertrauten Menschen, vielleicht auch in der gleichen Arbeit wie sonst, doch unter völlig veränderten Bedingungen, in ständiger Unsicherheit, von einem Tag zum andern zu leben. Wir alle aber meinten zunächst, gleichsam nur Urlaub zu nehmen von unserem Alltag, in den wir über kurz oder lang zurückzukehren hofften. Diese Urlaubshaltung, die von dem vergangenen Friedenszustand innerlich nicht loskommt und ungeduldig nur auf den Tag wartet, wo es „wieder” so sein wird wie zuvor, ist gefährlich. Denn sie verführt uns dazu, unser gegenwärtiges Leben nur als eine Art Provisorium anzusehen und also nicht wirklich ernstzunehmen. Es rächt sich aber immer, auch in kleinen Dingen, etwas nur „vorläufig” zu tun; alles will mit ganzem Ernst und ganzer Herzenshingabe ergriffen und erfüllt werden. Was uns heute an Aufgaben vor die Füße gelegt wird, was an Hingabe, Opfer, Treue und Liebe von uns erwartet wird, ist wichtiger als alles, was wir vielleicht einmal später wieder unternehmen können und sollen. Gehen wir diese Zeit nur als eine unerwünschte Unterbrechung unseres „normalen” Lebensweges an, deren Ende wir ungeduldig herbeisehnen, so werden wir versäumen, was diese Zeit von uns verlangt. In diesem Sinne gibt es überhaupt keinen „Urlaub”, der dann wieder durch das „eigentliche” Leben abgelöst wird; sondern jeder Tag ist „eigentliches” Leben, und wir werden das Morgen verfehlen, wenn wir das Heute versäumen. So gewiß das für die großen Bewährungsproben in der Geschichte der Völker gilt, so gewiß gilt es auch im kleinen und persönlichen Bereich. Es gibt Aufgaben äußerer und innerer Art, die gerade jetzt unsere Kraft und unseren „Einsatz” verlangen; und wir stiften Schaden und nehmen Schaden, wenn wir, mißmutig über die störende Unterbrechung und ihre unabsehbare Dauer, nicht mit wacher Seele, mit allen Kräften des Geistes, des Herzens und des Leibes eben das ergreifen und vollbringen, was diese Kriegszeit von uns verlangt.

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LeerDie Frage nach dem Schicksal unserer Toten und nach der Art unserer Verbindung mit ihnen bricht überall aus. Aus gequälten Herzen werden Fragen über Fragen laut, und dringende Hilferufe ans tiefer Seelennot kommen zu uns. Haben wir etwas zu sagen, oder ziehen wir uns verlegen auf Worte einer allgemeinen und unverbindlichen Teilnahme zurück? Es ist aber sehr erstaunlich, daß mindestens ebenso oft die Stimme einer großen und sieghaften Gewißheit zu uns dringt Die Überzeugung, daß dieses Leben nur ein Ausschnitt aus einem umfassenderen Menschenschicksal ist, daß das Leben unserer jungen Brüder und Freunde, die der Tod hinweggerafft hat, nun nicht einfach abgebrochen und ausgelöscht ist, sondern daß sie auf einer anderen Ebene zu weiterem Wachstum und weiterem Dienst gerufen werden, erfüllt viele Menschen als ein echter und wirksamer Trost. Durch Jahrhunderte haben wir die großen Totenfelder möglichst weit von den Wohnungen der Lebenden entfernt, und es schien mir immer, als ob darin ein tieferes Bedürfnis sich ausspräche, den Gedanken an den Tod und die Toten möglichst weit ans unserem Lebensraum hinwegzurücken. Nun leben wir alle, mehr als je, mit den Toten. Ich kann an den Ruinen zerstörter Häuser nicht vorübergehen, ohne das elementar zu empfinden: die Wände unseres Erdenhauses sind brüchig geworden, sie können uns nicht mehr abschließen und bergen; sie haben Risse und Sprünge bekommen, sind dünn und durchlässig geworden, und wir leben wieder gleichsam „im Freien”, und die größere und weitere Welt, zu der die Abgeschiedenen gehören, ist um uns.

LeerDazu paßt wohl auch ein Wort Goethes, auf das mich einer meiner Freunde aufmerksam gemacht hat. G. schreibt über Mozart: „Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu erfüllen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem. Da aber auf Erden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, Bis er zuletzt unterliegt ... Mozart starb im 36. Jahre.” - Wozu freilich jener Freund mit Recht schreibt, daß das gewiß nicht nur von den außerordentlichen Menschen gilt, und daß umgekehrt die Dämonen uns nichts anhaben können, so lange Gott in dieser Welt noch etwas mit uns vorhat.

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LeerDie Frage nach unserem Verhältnis zu den Toten hat freilich noch eine andere Seite. Die Kirche hat zu allen Zeiten das Gebet für die Verstorbenen geübt, und auch die Väter der Reformation haben dem keineswegs widersprechen wollen, wenngleich sie die Seelenmessen um der damit verbundenen Mißbräuche willen leidenschaftlich verurteilten. In diesem Gebet für die Verstorbenen spricht sich die Ahnung aus, daß wir mit den Heimgegangenen verbunden bleiben, und daß wir ihren Weg begleiten, so wie sie den unseren. Unser eigenes Leben wird in der Tiefe verändert, wenn wir sozusagen einen Teil unser selbst schon vorausgesandt haben über die Todesgrenze hinweg, und ebenso ist es für diese jenseitige Welt nicht gleichgültig, wie wir der Toten gedenken. Das Märchen vom Tränenkrüglein spricht nicht einen kindlichen Aberglauben, sondern die Ahnung einer tieferen Wahrheit aus. Das priesterliche Amt, zu dem wir als getaufte Christen alle berufen find, und in dem wir einander vor Gott vertreten, wird durch den leiblichen Tod nicht abgebrochen. So tröstlich es für uns sein mag, daß die Vollendeten nun auch unser vor Gott gedenken und vor dem Angesicht Gottes, das sie schauen dürfen, unsere Namen nennen, so gewiß dürfen auch wir die, die von uns gegangen sind, der Liebe Gottes befehlen und Gott bitten, er wolle ihnen nun die Augen öffnen für die Fülle der Wahrheit, die ihnen hier auf Erden verborgen geblieben ist. Wie vielen Frauen und Müttern, deren Herz und Leben nun zu erstarren droht in der großen Leere, möchte man dies sagen: erkenne, welche Macht und welche Verantwortung dir gegeben ist! „Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie geheiligt seien in der Wahrheit!” Dieses priesterliche Amt Christi ist uns anvertraut!

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LeerUnser Berneuchener Dienst hat an verschiedenen Orten die Aufgabe ergriffen, Männer und Frauen zuzurüsten für bestimmte kirchliche Ämter und Dienste. Wir sind durch den Blick auf äußere und innere Nöte der Kirche zu diesem Dienst gedrängt worden, und wir gehen mit großer Freudigkeit darin weiter. In der Fülle kirchlicher Ämter gibt es vielerlei Aufgaben und Dienste, aber zu jedem Amt gehört ein bestimmtes Wissen, ein bestimmtes Können und auch ein bestimmtes Sein. Die Ämter der Kirche stehen aber nicht zusammenhangslos nebeneinander, sondern sie sind in einer geheimnisvollen Weise abgestuft und aneinander gebunden, und es ist gefährlich, wenn man Stufen überspringt und hohe Ämter der Kirche bekleiden will, ohne in den niederen bescheiden gedient zu haben. Wenn uns nicht der Mund für Dinge seelsorgerlicher Erfahrung verschlossen wäre, so gäbe es wohl vieles zu erzählen, das Freude und Mut erwecken kann: schon die einfachsten Übungen können sich als eine erstaunlich tiefgreifende Hilfe bewähren, die uns neue Räume sowohl der Heiligen Schrift als des gottesdienstlichen Lebens erschließt; und durch die bescheidensten Dienste, die zunächst den Äußerlichkeiten des gottesdienstlichen Raumes zugewendet sind, gewinnt mancher Mensch ein völlig verändertes Verhältnis zu dem gesamten kultischen Leben der Kirche. Wir sind sehr dankbar für die Erkenntnisse, die sich uns hier aufgetan haben, und für die Möglichkeit, auf diesem neuen und im Grunde uralten Wege voranzuschreiten.

LeerDie Vertrauensleute des Berneuchener Dienstes empfangen in nächster Zeit einige Richtlinien für die Zurüstung der „Laien” zu solchem kirchlichen Dienst, und ich hoffe, daß bei den Treffen des B. D. alle, die es angeht und die darnach fragen daran Anteil gewinnen.

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LeerAn alle Mitglieder des Berneuchener Dienstes richte ich die dringende Bitte, alle Anschriftenänderungen ungesäumt an die Geschäftsstelle des Berneuchener Dienstes (Münster i. W., Paulstr. 15) zu melden. Dadurch, daß dies in sehr vielen Fällen vergessen und versäumt wird, entsteht ein peinliches Maß von Mehrarbeit, Ich bitte dringend, diesen Appell zu beachten und bitte zugleich, solche Mitteilungen immer auf eigenem Blatt, nicht mit anderen brieflichen Mitteilungen zusammen, einzusenden. Die Geschäftsstelle gibt alle solche Mitteilungen an den Verlag und an die Kasse des Berneuchener Dienstes weiter; die Mitglieder brauchen nur an die Geschäftsstelle zu schreiben. Das Konto des Kassenwartes des Berneuchener Dienstes ist unverändert: Pfarrer R. Harney, Düsseldorf, Postscheck-Konto 87980 Köln.

Evangelische Jahresbriefe 1942 S. 44

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
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