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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerDa ich mich anschicke, vielleicht zum letzten Male diesen „Brief” an die vielen bekannten und unbekannten Gefährten unseres Weges zu schreiben, geht es mir, wie es uns hundertfältig geht, wenn wir wieder einmal von einem nahen und lieben Menschen Abschied nehmen. Man möchte so vieles noch sagen, wovon das Herz übervoll ist, und ringt um ein Wort, das gewichtig und stark genug ist, den andern auf seinem Weg zu geleiten, und weiß doch, daß da nichts mehr zu sagen ist, was nicht längst gesagt wäre, und daß wir schon lernen müssen, auf eine andere Weise einander zu helfen und für einander da zu sein, als es in unseren armen Worten geschieht. Mit tausend Herzensfasern sind wir mit all dem großen und furchtbaren Geschehen, mit unseren Brüdern auf den Schlachtfeldern des Ostens, Südens und Nordens und auf dem weiten Meer verflochten; es strömt alles durch uns hindurch, fiebert, blutet, stirbt und wandelt sich in uns, und die Worte versagen uns, wenn wir anfangen wollen, davon über alles törichte und unzulängliche Gerede hinaus recht zu reden. Aber es ist ein Unterschied, ob wir verstummen, weil wir selbst ratlos geworden sind, oder ob wir schweigen lernen, um das Wort nicht zu überhören, das Gott zu den Völkern redet und das in uns neu geboren werden will; das Wort, das nicht schon veraltet und überholt ist, wenn es ausgesprochen wird, das Wort, mit dem wir bestehen können vor den Toten, zu denen wir nichts mehr sagen können und die doch mit uns am Altare stehen, wenn wir „hineingehen in das Heiligtum Gottes” (Ps. 73, 17); das Wort, das allerdings wir, eben wir, der Welt schuldig sind.

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LeerWas ich über die innere Lage der Kirche zu sagen vermöchte und über die Aufgaben, die uns darin erwachsen, ist an der ersten Stelle in diesem Heft ausführlich gesagt. Aber ich darf hier darauf verweisen, weil dies alles wirklich eher ein Gespräch und ein Brief als ein Aufsatz oder ein Vortrag ist.

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LeerUnter den Sonntagen dieser sommerlichen Zeit ist ein Sonntag, der 6. nach Trinitatis, der dem „Taufgedächtnis” gewidmet ist. Dieser Gedanke an die eigene Taufe bleibt für weitaus die meisten unter uns sehr blaß, ohne tiefere Bedeutung und Kraft. Wer von uns würde mit innerer Notwendigkeit sich in seinen Anfechtungen mit dem „baptizatus sum” trösten und zurecht helfen? Es bedarf zunächst einer zwiefachen inneren Umschichtung in unserem Denken und unserem Lebensgefühl, wenn die Taufe ein solches Gewicht, das Taufgedächtnis eine solche Tragkraft gewinnen soll. Die Taufe ist etwas, was an uns geschehen ist, nicht etwas, was wir selber gewollt, entschieden, getan hätten; in dem wir ernstlich unserer Taufe gedenken, in der Gott an uns gehandelt hat, ehe wir von ihm wußten, fangen wir an zu begreifen, daß seine uns zuvorkommende Gnade wichtiger ist, als alles, was wir selber von Gott erkennen und für sein Reich unternehmen könnten. Und die Taufe setzt den Anfang eines neuen, von Gott erweckten und durch seinen Geist geformten Lebens; wenn das „natürliche” Leben, das wir durch unsere physische Geburt empfangen haben, seinen Sinn in sich selber trägt und wenn es möglich ist, ans seinen vitalen Kräften die Bestimmung des Menschen zu erfüllen, dann sinkt die Taufe zu dem Rang einer feierlichen Begrüßung und herzlich wohlmeinender Wünsche herab; wenn aber alles Leben der Wandlung bedarf und nur die „Zeugung von oben her” uns in Wahrheit zum Gotteskind macht, dann ist es sehr tröstlich und sehr verpflichtend, der Stunde zu gedenken, in der dieses Neue, das aus uns werden soll, seinen verborgenen Anfang genommen hat!.

LeerEs ist aber mindestens im gleichen Maße notwendig und nützlich, dieses Taufgedächtnis praktisch zu gestalten. Unsere Kinder in Sonderheit werden eher durch die häusliche Feier des Tauftages als durch die besten Belehrungen dazu geführt werden, ihre Taufe hoch zu werten. Wissen wir unseren Tauftag, die Tauftage unserer Kinder? Am Tauftag brennt dann an der Stätte der täglichen Andacht, auf dem Hausaltar, vielleicht auch einfach auf dem Platz des Kindes am Familientisch die Taufkerze, die das Kind bei der Heiligen Taufe empfangen hat; sein Taufspruch wird ihm von allen zugesprochen, sein besonderes Tauflied von allen gesungen. Die Eltern erzählen dem Kinde von seinen Paten, wenn diese nicht selbst ihrem Patenkind zu diesem Tag einen Gruß gesandt haben. Es gibt, zum Glück, noch keine feste Form für solches häusliche Taufgedächtnis; so können Eltern und Kinder erfinderisch sein, wie in neugewonnener Sitte der Taufe und dem Taufgedächtnis ihre Würde und ihr Ernst wieder gegeben werden kann.

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LeerIm Zusammenhang mit der uns alle bedrückenden Abendmahlsnot unserer Kirche bin ich den in der kirchlichen Statistik niedergelegten Ziffern über den Abendmahlsbesuch nachgegangen. Für das Gesamtgebiet der deutschen evangelischen Kirche betrug (1938) der Abendmahlsbesuch 20,52 %; das heißt auf je 100 Glieder der Kirche (einschließlich der Kinder und derer, die nur noch äußerlich der Kirche zugehören) kamen etwas mehr als 20 „Kommunikanten” im ganzen Jahr. Die entsprechende Zahl für die katholische Kirche auf deutschem Boden betrug (1939) 1400 %. Man kann gewiß geistige und geistliche Vorgänge nicht in einer solchen Statistik erfassen; aber diese Zahlen lassen mir doch keine Ruhe. Sie zeigen ein- dringlich und unwiderleglich, in welchem Maße die Feier des Sakraments an den Rand der Frömmigkeit geraten ist. Können wir irgend etwas tun, um diesen Zustand zu überwinden? Gewiß geschieht das nicht durch die Mahnung zu größerem Eifer im Besuch und in der Teilnahme an der Feier des Altarsakramentes; auch nicht, so nötig das ist, durch Belehrung über die Bedeutung des Abendmahls in Predigten oder Bibelstunden. Ich erwarte auch nicht sehr viel davon, wenn Menschen, bei denen alle inneren Voraussetzungen für ein Leben im Mysterium verloren gegangen sind, auf irgend welchem Weg veranlaßt werden, einer solchen Feier wenigstens beizuwohnen. Zwei Dinge aber erscheinen mir nötig und hilfreich: eine solche Gestalt der Abendmahlsfeier, die den Reichtum und die Fülle des Sakraments ahnen läßt, und die hingebende Treue einer kleinen Schar, die am Tisch des Herrn wieder ihre Heimat gefunden hat und begierig ist, ans diesen Kräften heraus zu denken und zu leben.

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LeerAlle, die zu irgendeinem Dienst und Amt in der Kirche berufen werden, sollten vorbereitet werden zu dem bescheidenen Dienst eines „Türhüters” und sollten willig sein, zunächst dieses stille und unscheinbare Amt mit aller Sorgfalt zu verwalten. Denn muß nicht jeder, der irgend einen Dienst im Heiligtum erfüllen will, vor allem wissen um das Geheimnis der Schwelle, die von außen nach innen führt und über die wir aus dem Heiligtum wieder gesandt werden in die Welt hinein? „Ich habe” - so schreibt mir jemand - „einem inneren Bedürfnis folgend, die wesentlichen, etwa 130 Schriftstellen geschrieben, die von der Tür handeln. Was eine Tür ist und was um eine Tür vorgeht, das habe ich jetzt zu einem guten Teil begriffen.” - „Ich hatte für ein paar Tage die Pflege eines Sterbenden übernommen. Dabei ist mir klar geworden, daß auch dieser Dienst, bei dem wir einen Mitchristen an die Grenze unseres Erdenlebens geleiten, sehr mit dem Türhüteramt zusammenhängt.”

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LeerAus einem Brief: „Ich versenke mich in die Psalmen, weil ich, erschüttert von dem Geschehen unserer Zeit, darin alle Unbegreiflichkeiten Gottes finde, aus denen Not, Schrecken, Grausamkeit und alle Furchtbarkeiten entspringen. Ich kann mich nicht entschließen, das alles als Werk des Teufels zu bezeichnen, nur weil es nicht in den Begriff der „christlichen Liebe” paßt. Oder müßte man eben diese „Liebe” ganz anders fassen, als es Paulus tut?” - Aber hat denn nicht gerade Paulus die Liebe Gottes so gefaßt, daß „Tod und Leben, Engel und Fürstentümer und Gewalten, Gegenwärtiges und Zukünftiges” darin eingeschlossen sind?

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LeerFür die Mitglieder des Berneuchener Dienstes ist folgende wichtige Mitteilung bestimmt: Daß wir in dem jetzt zu Ende gehenden Geschäftsjahr statt der üblichen Jahresgaben bestimmte Ersatzleistungen angeboten und geliefert haben, war eine Notlösung. Auch dieser Weg kann nicht noch einmal gegangen werden. Wir werden im neuen Geschäftsjahr 1942/43 auf die Lieferung irgend welcher literarischer Erscheinungen überhaupt verzichten müssen; ob die „Evangelischen Jahresbriefe” weiter erscheinen können, läßt sich in dem Augenblick, da dieser Brief hinausgeht, noch nicht übersehen. Unter den Opfern, die der Krieg von uns allen verlangt, verdient dieser Verzicht, so schmerzlich er für viele von uns ist, kaum den Namen eines wirklichen Opfers. Wir sind sehr bemüht, auf anderem Wege, vor allem durch persönliche Verbindung und gottesdienstliches Leben, auch durch die Zurüstung zum kirchlichen Dienst, unseren Mitgliedern und Freunden das zu vermitteln, was sie in unserem Kreise suchen und von uns erwarten. - Mit Rücksicht auf diese Notwendigkeiten wird im neuen Geschäftsjahr von dem Mitgliedsbeitrag von RM 10,- nur ein Teilbetrag von RM 6,- erhoben. Wenn keine weitere Mitteilung erfolgt, gilt diese Regelung auch für das Jahr 1943/44 Wir bitten sehr, diese Regelung zu beachten und, wenn nötig, auch andere Mitglieder des B. D. darauf aufmerksam zu machen. Postscheckkonto 87980 Köln (Pfarrer R. Harney, Düsseldorf).

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LeerDie letzte Entscheidung über die Zukunft unserer Evangelischen Jahresbriese ist noch nicht gefallen; aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß mit dem vorliegenden Johannisbrief 1942 die Reihe der Hefte, die wir mit dein Weihnachtbrief 1931 begonnen haben, zu einem vorläufigen Abschluß kommt. Wenn es so ist, dann sollte uns dieses durch den Krieg bedingte Ende weniger ein Anlaß zu bedauernder Klage als zu nüchterner Selbstprüfung und Rechenschaft sein. Haben diese Briefe, die wir zu den großen Zeiten des kirchlichen Jahres aussandten, ein eigenes Gesicht gewonnen und bewahrt, das ihnen neben allen „Zeitschriften” ein eigenes Daseinsrecht verlieh? Ist darin die Fülle lebendiger Mannigfaltigkeit und die unzweifelbare Einheit zugleich sichtbar geworden? Wie weit haben wir unsere Aufgabe erfüllen können, unsere Freunde in der christlichen Erkenntnis zu unterweisen, auf die Fragen, die überall aufbrechen, hilfreiche Antworten und zugleich für praktische Nöte und Aufgaben brauchbare Wegweisung zu geben? Und wie weit habt Ihr, die Leser unserer Jahresbriefe, das, was Euch hier dargeboten wurde, wirklich in Euch aufgenommen und in Eurem Denken und Leben fruchtbar gemacht?

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LeerWährend dieser „Brief” schon im Druck ist, kommt ein Rundbrief in meine Hand, in dem eine große Anzahl von Soldaten von allen Fronten ihre Gedanken austauschen. Was sie schreiben, ist in erstaunlichem Maß auf einen Ton gestimmt. Ich kann es nicht besser zusammenfassen, als es einer der Briefschreiber selbst getan hat: „Je länger der Krieg dauert und uns umgestaltet, umso klarer wird jedem, was zunächst nur als eine Ahnung vorhanden war, daß es ein Zurück in alte Formen nicht mehr geben kann. ... Man muß es frei und offen sagen können, daß die Rücksichtnahme auf alte Gewohnheiten und Ansichten eines der großen Hemmnisse auf dem Wege ist. Wir haben viel zu viel gebundenes Christentum überkommen, das jetzt weitergeschleppt sein will und doch nur den eintretenden Kristallisationsprozeß aufhält. Die Verdrängung des Christentums aus der Öffentlichkeit der Völker wird zugleich das Wunder jener Zusammenführung der Gemeinde über alle Sonderwege hinweg bringen. Vor Jesus Christus, der „rechten einigen Hauptperson”, werden alle anderen Bekenntnisse versagen und in den Hintergrund treten.” Daß wir die tatsächliche Einheit aller Glaubenden in Christus, unbeschadet unserer verschiedenen kirchlichen Zugehörigkeit, bereits heute mehr denn je erkennen, das schreiben viele. „Eben diese schon vorhandene Einheit derer, die an Christus glauben und von Ihm leben wollen, ist in Kasernenstuben und in Bunkern, auf Schiffen und in Lazaretten und in ungezählten nächtlichen Gesprächen erfahren und bewährt.” Das ist der starke Ton, der mit großer Freude und Zuversicht durch diese Briefe hindurchklingt.

Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 68-70

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
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