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Die geöffneten Augen
von Wilhelm Stählin

„Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten IHN”,
Lukas 24, Vers 31

LeerDie ganze Christus-Botschaft hat ihren Ursprung darin, daß bestimmte Menschen etwas geschaut haben, was andere nicht sehen konnten. „Wir sahen Seine Herrlichkeit” (Joh. 1, 14). „Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch” (1. Joh. 1, 2). Insbesondere ist die Kunde von der Auferstehung Jesu Christi nicht zu denken ohne den Bericht, daß bestimmte Menschen Ihn, den Auf erstandenen, gesehen haben (1. Kor. 15, 5-3). Das, was diese Zeugen Christi und seiner Auferstehung gesehen haben, ist aber offenbar von einer solchen Art, daß es nicht ohne weiteres und nicht von jedem Menschen gesehen werden konnte. Von den Jüngern, denen der Herr auf dem Wege nach Emmaus „erschienen” ist. heißt es zunächst, daß ihre Augen „gehalten” waren, sodaß sie Ihn nicht „kannten” (Luk. 24, 16).

LeerSie sahen einen Menschen, der sie begleitete auf dem Wege von Jerusalem nach Emmaus, sie hörten seine Stimme und versuchten zu verstehen, was er zu ihnen sagte; aber sie wußten nicht, wer da eigentlich bei ihnen war; dafür waren ihre Augen verschlossen und erst hernach, als „ER” mit ihnen zu Tische saß und ihnen das Brot brach, da - heißt es - wurden ihre Augen geöffnet, und sie sahen, was sie bis zu diesem Augenblick nicht gesehen hatten: sie „erkannten” IHN.

LeerEs ist selbstverständlich, daß wir mit geschlossenen Augen nicht sehen können. Wer eine Binde vor den Augen trägt, kann nichts von dem erkennen, was ihn umgibt und ihm räumlich nahe ist.

LeerBei Wanderungen in den Bergen haben wir uns bisweilen die Freude gemacht, einen unserer Wandergefährten mit geschlossenen Augen an einen bestimmten Punkt zu führen, damit er dann, mit geöffneten Augen, überwältigt sei von der reichen und weiten Aussicht, die sich vor ihm ausbreitete. Aber eben dieses scheint uns dann selbstverständlich: Sobald der Mensch das Auge auftut, sieht er alles, was ihn an dem Ort, da er steht, umgibt. Hier aber in den Geschichten von dem Auferstandenen, und nicht nur in diesen Geschichten, sind die Augen leiblich wohl geöffnet, sie sehen Gegenstände und Personen, sie erkennen Weg und Haus; aber sie sind in einem tieferen Sinne dennoch verschlossen für die Wirklichkeit, die ihnen begegnet war, und es bedurfte, wenn sie in diesem tieferen Sinne sehend werden sollten, einer besonderen Hilfe, deren sie selbst nicht mächtig waren; es heißt nicht: sie schlugen ihre Augen auf, sondern: ihre Augen wurden geöffnet; und da ihre Augen in dieser geheimnisvollen Weise geöffnet worden waren, „erkannten” sie Ihn.

LeerEine solche Bemerkung soll uns ein für allemal warnen vor der Neigung, die „Erscheinungen”, die aus der göttlichen Welt zu uns Menschen gekommen sind, und vollends die Erscheinungen des Auferstandenen, als ein Stück der materiellen Welt aufzufassen, in die wir gestellt sind und die wir mit unseren leiblichen Organen wahrnehmen. Diese Wirklichkeit zu erkennen, bedarf es nur gesunder „Sinne”, und wir wissen, wie sehr die Leistungsfähigkeit dieser unserer Sinne einerseits durch Übung, andererseits (und in einem unvergleichlich viel größeren Maß) durch technische Hilfen gesteigert werden kann, sodaß uns etwas sichtbar oder hörbar gemacht wird, was wir mit dem „bloßen” Auge, mit „bloßem” Ohr nicht wahrnehmen könnten.

LeerDamit hat es offenbar nichts zu tun, wenn den Jüngern die Augen geöffnet wurden für die Begegnung mit dem Auferstandenen Christus. Wohl aber warnt eine solche Begegnung zugleich vor der entgegengesetzten Neigung, die Wirklichkeit, die diesen Menschen „erschienen” ist, für einen rein geistigen Vorgang zu halten, sie also sozusagen in das Innere ihres eigenen Herzens zu verlegen. Nein, das „Wort”, das die Jünger gehört haben, kam als ein mündliches und hörbares Wort zu ihren Ohren, und das Leben, das sie gesehen haben, erschien als ein sichtbares Bild ihren leiblichen Augen. Und als ihre Augen für dieses Neue, Unbekannte und Unerhörte geöffnet waren, konnten sie es sehen. Wir fragen, wie wir im Katechismus zu fragen gelernt haben: Wie geschieht das?

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LeerEs besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Licht und dem Auge, welches das Licht sieht. Das Licht wird nicht durch das Auge hervorgebracht, eher ist umgekehrt zu sagen, daß das Licht ein Organ hervorbringt, durch welches es wahrgenommen werden kann. Das Auge unseres Leibes ist die Spiegelung des Lichtes im menschlichen Leib, geschaffen, das Licht zu sehen und widerzustrahlen. So schafft das unseren natürlichen Sinnen verborgene Leben des Auferstandenen den dazu berufenen Menschen neue Organe, mit denen dieses verborgene Leben wahrgenommen werden kann. Es tut die verschlossenen Augen auf, daß sie zu sehen vermögen, was sie zunächst nicht sehen können. Die Nähe des Auferstandenen, der in ihrer Mitte saß und ihnen das Brot brach, erweckte eine Sehkraft, die ihnen bis zu dieser Stunde versagt war, und kraft derer sie sehend wurden. „Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten Ihn.”

LeerDie Erzählung enthält freilich auch eine wichtige Andeutung darüber, wie sehr dieses Sehen ein Sehen mit dem Auge und mit dem Herzen zugleich ist. Über dem Gespräch mit dem Auferstandenen, da er ihnen die Schrift auslegte, war ihr Herz brennend geworden; brennend von Liebe und von ahnendem Verstehen für die geheimnisvollen Wege Gottes. Und da ihr Herz wissend geworden war, entbrannt in dem heiligen Feuer der Einsicht, da konnten auch ihre Augen sehend werden. Das neue Licht berührte zuerst ihr Herz, ehe es sozusagen von innen durchbrach und das verschlossene Auge auftat; aber nun verspüren sie nicht nur die Flamme, von der ihr Herz entbrannt war, sondern sie sahen und erkannten Ihn, der bei ihnen war. Sie erkannten Ihn - heißt es. Sie kannten Ihn; sie kannten sein Angesicht; seine Gebärde, das Brot zu brechen, war ihnen vertraut. Dennoch waren ihre Augen gehalten, sodaß sie ihn nicht erkannten.

LeerWas sie sehen, ist nicht einfach das bekannte und vertraute Bild, ist nicht die Wiederkehr der gewohnten und irdischen Gestalt; sondern es ist eine verklärte Leiblichkeit, da die sichtbare Gestalt ganz durchscheinend geworden ist für die Herrlichkeit Gottes, ganz Ausdruck und Gebärde des Sieges, der Einbruch der himmlischen Welt in den Raum der Sinne. Darum waren ihre Augen zunächst gehalten, weil sie das Kreuz in der Glorie nicht wiedererkannten, die Glorie im Kreuz nicht sahen. Da aber ihre Herzen brennend und ihre Augen sehend geworden waren, da erkannten sie ihn, der bei ihnen gewesen war, den Getöteten und Geopferten in der Gestalt der Herrlichkeit; und sie erkannten ihn in eben der Gebärde, mit der der Auferstandene und Erhöhte sich ihnen gab im gebrochenen Brot; denn das Opfer ist das Band, das Himmel und Erde zusammenhält, und nur das Herz, das brennend geworden ist von der opfernden Liebe, kann von innen her das Auge auftun, daß es der Nähe des Herrn inne wird.

LeerWas sich auf dem Wege nach Emmaus ereignete, ist das Urbild alles christlichen Gottesdienstes, da traurigen und ratlosen Menschen auf dem Wege die Schrift ausgelegt wird und sie dann „hineingehen”, um das Mahl zu halten. Und was kann unsere Predigt anderes zum Ziel haben, das wir erflehen, als daß die Herzen brennend werden über dem, was sie hören, und dadurch bereitet werden für die Begegnung mit dem Leben des Auferstandenen? Denn dieses ist der Kern der Ostergeschichte, der Kern dessen, was sich ereignet in unseren Gottesdiensten: Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten IHN.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 3-5

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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