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Die Anbetung im Geist und in der Wahrheit
von Wilhelm Stählin

„Gott ist Geist, und die Ihn anbeten, die müssen Ihn
im Geist und in der Wahrheit anbeten.”

LeerDas Wort von der Anbetung „im Geist und in der Wahrheit” gehört zu jenen Schlüsselworten der Heiligen Schrift, von deren rechtem Verständnis vieles, wenn nicht alles im christlichen Denken, ja auch in dem praktischen christlichen Verhalten abhängt. Es ist notwendig, sich zunächst einmal zu vergegenwärtigen, in welchem Zusammenhang dieses Herrenwort überliefert ist.

LeerIn dem Gespräch am Brunnen zu Sichar (4,5ff) fühlt sich das Weib, mit dem Jesus redet, in seiner eigenen Existenz durchschaut und entlarvt (Vs. 18), ähnlich wie auf einer ganz anderen Ebene Nathanael, da ihn Jesus auf die Stunde „unter dem Feigenbaum” anredet (1,48). Überwältigt von solcher „prophetischen” Vollmacht, legt die Samariterin dem Herrn die Streitfrage vor, in der die religiöse Tradition der Juden und die der Samariter unterschieden war: Welches ist der richtige Ort des Gebetes, der Berg Garizim, das Heiligtum der Samariter, oder der Tempel zu Jerusalem? Die Antwort Jesu lehnt es ab, sich für einen dieser heiligen Berge zu entscheiden. „Es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten.”

Leer„Es kommt die Zeit und  i s t  s c h o n  j e t z t , daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit.” Dann erst, wenn dieses geschieht, entspricht die Anbetung dem Wesen und dem Willen Gottes. Denn „Gott ist Geist, und die Ihn anbeten, die müssen Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten”. So wie vorher das ihr eigenes Leben betreffende Wort in ihr den Eindruck erweckt hat, es sei ein Prophet, der mit ihr redet, so scheint ihr dieses neue Wort in unheimlicher Weise jenem Bereich zuzugehören, über den erst der künftige Messias klare Erkenntnis wird geben können; und indem Jesus mit dem Selbstzeugnis antwortet: „Ich bin's, der mit dir redet”, erhebt Er zugleich für das Wort von der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit den vollen Anspruch, daß diese Art der Anbetung und selbst schon die ihr zugrundeliegende Gotteserkenntnis der Zeit der messianischen und darum endgültigen Erfüllung zugehört. Alles Gebet des vorchristlichen Raumes, es sei das jüdische (auf dem Berge Jerusalem) oder nichtjüdische (auf dem Berge Garizim), zielt auf diese Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, und es ist in ihr erfüllt, „aufgehoben” und „voll-endet”.

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LeerEine sehr beliebte und verbreitete, dem „Laien” zunächst sehr naheliegende Deutung versteht dieses Wort etwa so: In jener Zeit der Erfüllung, die mit der Erscheinung Jesu Christi angebrochen ist, verlieren alle Fragen der äußeren Form, die Frage nach dem rechten Ort, aber ebenso die Frage nach den richtigen Worten oder den begleitenden Gebärden ihre Bedeutung. Allen solchen „Zeremonien” hafte eine peinliche Gefahr an, die Gefahr des leeren Scheins, der inneren Unwahrheit, ja der frommen Heuchelei; und jede solche Regel, die von einem Ort des Gebetes, von einer Gebetswendung (zum Altar), von richtigen Gebetsgebärden zu sprechen wage, bleibe hinter der Höhe neutestamentlicher Gotteserkenntnis zurück.

LeerDas oberste Gebot für alles Beten sei die unbedingte persönliche Echtheit und Wahrhaftigkeit, und dieser Forderung könne nur das freie persönliche Gebet „im Kämmerlein” genügen. Auch entspreche dem geistigen Wesen Gottes allein das rein geistige Gebet des Herzens, für das weder Ort noch Zeichen etwas gelte. Das Gespräch des Herzens mit Gott, das gar nicht in formulierter Sprache laut zu werden braucht, sei allein die ganz wahre und gotteswürdige Form des Gebetes. Diese Erkenntnis gehöre, so fahren diese Ausleger fort, zu jenem in der Frömmigkeit des katholischen Mittelalters verschütteten Evangelium, das die Reformation aus dem Staub und Flitter der Zeremonien wieder ans Licht gezogen habe, und es zieme also dem Protestanten, insonderheit auch in seinem Gebet entgegen der ganzen Welt der liturgischen Formen sich zu der Religion der Innerlichkeit zu bekennen, die nur das Gebet „im Geiste” gelten läßt, und dieses Gebet im Geist allein sei zugleich ein Gebet in Wahrheit, befreit von der tödlichen Verstrickung in scheinheilige Form und Gebärde.

LeerSo vertraut uns dieser Gedankengang ist, und so sehr er vielen von uns als selbst- verständlich richtig gilt, so entschieden ist ihm zu widersprechen. Denn er beruht auf einer doppelten verhängnisvollen Verwechslung. Diese Denkweise nämlich kennt keine andere „Wahrheit” als die subjektive Wahrhaftigkeit. Während die Bibel unter „Wahrheit” das Vertrauenswürdig-Wirkliche versteht, dem wir uns anvertrauen dürfen, ein Lebenselement also, „in” dem der Einzelne ist oder nicht ist, gilt hier die persönliche Echtheit als oberstes Gebot, so daß ein Gebet, in dem ein Herz seine eigenen Empfindungen und Wünsche ungehemmt und unverfälscht ausströmt, als ein „Gebet in Wahrheit” erscheint.

LeerUnd zugleich wird der „Geist”, in dem wir Gott an- beten sollen, mit der menschlichen Innerlichkeit in eins gesetzt, der Geist Gottes mit dem Geist des Menschen verwechselt. Der „Geist”, der als das große und entscheidende Geschenk der messianischen Erfüllung verheißen ist, und „in dem” nun allein vollgültig gebetet werden kann, ist aber immer die lebendige und bewegende Kraft Gottes. Das griechische Wort pneuma bezeichnet eigentlich den wehenden Hauch, den Wind (Joh. 3,8 steht das gleiche Wort!), den lebendigen Atem. Der Geist Gottes ist der schöpferische Odem Gottes, den Er dem aus irdischem Stoff gebildeten Menschenwesen „eingehaucht” hat; die geistliche Kraft, die der auferstandene Herr Seinen Jüngern, indem Er sie „anblies” (Joh. 20,22), verliehen hat; die göttliche Dynamis, von der ein Mensch bewegt und getrieben werden kann.

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LeerAuch bei Hes.37 ist der von den vier Enden her wehende Wind das Symbol des göttlichen Geistes, durch Den allein in dem Gefilde der Toten neues Leben entsteht. Diese alles durchdringende und bewegende Kraft ist das eigentliche Wesen Gottes, und es kann darum auch kein rechtes Gebet geben, das nicht von diesem Anhauch Gottes selbst getroffen und erweckt, durchpulst und gespeist ist. Das Gebet „im Geist” ist nicht der ohnmächtige Sehnsuchtsschrei des Menschen nach dem unerreichbaren fernen Gott, sondern die Antwort des Menschen auf den an ihn ergangenen Ruf, ja diese Antwort ist selbst durch den schöpferischen Anhauch Gottes erweckt. In dem Gebet, das „im Geist” gebetet wird, schwingt die Bewegung der göttlichen Liebe, die sich zu dem Menschen neigt, in Dank und Lobpreis, in Ehrfurcht und Vertrauen zu Gott zurück.

LeerJa diese göttliche Lebens- und Liebeskraft „vertritt” uns vor Gott, wenn in uns das „Vermögen zu beten” versagt und nicht nur die Worte, sondern auch die rechten Gedanken uns fehlen. Es ist ein Gebet, das „im Namen Jesu” oder, wie es die liturgischen Formulare der Kirche besagen, „durch Jesum Christum” dargebracht wird; durch die Tür hindurch, mit der Gott selber die trennende Wand zwischen Ihm und uns durchschlagen hat, in dem Raum des neuen Gottesverhältnisses, der durch Jesum Christum geschaffen und erschlossen ist. Wenn es das Grundanliegen des betenden Menschen ist, daß er durch sein Gebet in Verbindung komme mit der Wirklichkeit Gottes und von den Kräften der himmlischen Welt wirklich berührt, gespeist und gestärkt werde, dann kann dies Entscheidende dem Beter nur gelingen, wenn Gott selber ihn zu sich zieht, wenn also sein Beten von Gottes eignem Lebensodem erweckt und sozusagen durchblutet ist. Es handelt sich weder um subjektive Wahrhaftigkeit noch um die Innerlichkeit des Herzens: Nur der Geist Gottes macht unser Beten zu einem wirklichen Gebet; nur das Gebet im Geist ist in Wahrheit ein Gebet.

LeerEs bedarf keines Wortes, daß die „Anbetung im Geist und in der Wahrheit”, so verstanden, keineswegs in eins zu setzen ist mit dem Gebet, das „nur im Geist”, das heißt, nur in der Stille des Herzens geschieht, und das um der Wahrhaftigkeit willen alle äußeren Formen und Gebärden verachtet und meidet. An diesem Gegensatz von außen und innen ist die biblische Rede vom Geist ganz uninteressiert. Es kann ein stilles und wortloses Gebet geben, das von dem Geist Gottes völlig unberührt ist, und das also zwar wahrhaftig ist, aber weil es nur ein Selbstgespräch des Menschen ist, „in Wahrheit” doch kein Gebet ist. Und es kann ebenso ein geordnetes und streng formuliertes liturgisches Gebet geben, das ein echtes geistliches Geschehen ist und sich ganz und gar im Reich der Wahrheit bewegt.

LeerDenn der schöpferische Odem Gottes ist zwar völlig frei („der Geist wehet, wo er will”); aber er trifft doch nicht sprunghaft und unberechenbar bald diesen, bald jenen in seiner Einsamkeit und Vereinzelung, um die Versammlung der Gläubigen zu meiden; sondern er hat in seiner Kirche Formen, Gebete, Lieder, Gesänge, Melodien, auch Räume und Bildwerke hervorgebracht, die nun geladen sind mit seiner lebendigen Kraft, erfüllt von der verborgenen Mächtigkeit, die jeden ergreift und bewegt, der sich ihr willig öffnet.

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LeerDie Liturgie der Kirche ist überreich an solchen Gebeten und Melodien, Symbolen und Gebärden, in denen der Geist Gottes sich sein Gefäß und Organ bereitet hat. Wie töricht wäre es, dieses alles zu verachten und das freie Gebet des heimlichen Herzens allein gelten zu lassen, das so leicht zur Eitelkeit verführt und in seinen pathetischen Expektorationen die Wahrheit verfehlt und die Zucht des Heiligen Geistes verleugnet!

LeerMan braucht kein Wort darüber zu verlieren, daß man diese Erkenntnis nun nicht etwa umdrehen und das liturgische Gebet als das angeblich geisterfüllte gegen das freie Gebet des Herzens ausspielen darf, als ob das letztere immer nur ein Geschwätz wäre. Es gibt kein Gefäß des Heiligen Geistes in der Geschichte, das nicht auch leer werden könnte, und die herrlichsten Gebete und Gebräuche können zur sinnlosen Zeremonie entarten, in die kein subjektiver Eifer den daraus entwichenen Geist zurück- holen kann; und dem gleichen Geist Gottes kann es gefallen, daß er sich in das ein- fältige Beten des schlichtesten Menschen ergießt und das Stammeln seines Herzens als einen süßen Wohlgeruch vor den Thron Gottes bringt.

LeerFreilich die Fragen, auf welchem „Berge” man beten, wie man die Hände falten, welcher liturgischen Überlieferung man folgen solle, verlieren ihre letzte Wichtigkeit, darum auch ihre letzte trennende Bedeutung, wenn es doch allein darauf ankommt, ob Gott selber in unserem Gebet betet, spricht und seufzt, und wenn also allein durch die Wirkung des Heiligen Geistes unser Beten ein „Gebet in der Wahrheit” ist. Wer gelernt hat, was es heißt, im Geist und in der Wahrheit zu beten, ist über solche Streitfragen, an der Völker und Religionen sich entzweit haben, hinausgeführt. Aber die uns durch Christus geschenkte Freiheit würde mißbraucht und zur Willkür verfälscht, wenn wir nun das Recht zu haben meinten, alle äußere Ordnung, Form und Gebärde des Gebets überhaupt zu verachten. Wäre Jesus selbst auf Berge gestiegen oder in die Wüste gegangen, um zu beten, hätte er selbst beim Passahmahl und wohl auch bei anderen Gelegenheiten die durch den geheiligten Ritus seines Volkes vorgeschriebenen Psalmgebete vollzogen, wenn es nun, in der Zeit der Erfüllung, ganz sinnlos oder gar verwerflich wäre, an bestimmten Orten oder mit bestimmten Worten zu beten?

LeerEs gibt eine negative Gesetzlichkeit, die am liebsten den Berg Zion ebenso wie den Berg Garizim in die Luft sprengen möchte, damit niemand mehr zu der Meinung verführt werden könnte, er müsse an eben dieser Stelle beten. Es gilt auch in Hinsicht aller dieser Fragen, daß die Wahrheit uns frei macht, und daß da Freiheit ist, wo der Geist des Herrn ist. Dieser Geist, in dem Wahrheit und Freiheit eins sind, kann im liturgischen Chor ebenso zuhause und am Werke sein wie in dem hilflosen Seufzer eines Kranken, der kein Wort mehr über die Lippen bringt, in dem streng formulierten Gebet einer „Agende” ebenso, wie in einer pietistischen Gebetsgemeinschaft; eine gregorianische Weise und ein musikalisch recht fragwürdiges Liedchen können in gleicher Weise „im Geist und in der Wahrheit” erklingen, und der Heilige Geist kann den demütigen Beter am geschmückten Altar wie in der überfüllten Straßenbahn inspirieren. Eben die Freiheit, die nirgends meint, den Heiligen Geist zu haben, die aber immer und überall um sein Kommen fleht und sich seines Kommens getröstet, ist das Siegel des Gebetes, das den Gott, der „der Geist” ist, anbetet im Geist und in der Wahrheit.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 43-46

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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