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Predigt am 7. Sonntag nach Trinitas (20. Juli 47) in der Universitätskirche zu Marburg/L. von Karl Bernhard Ritter |
„Und Jesus ging umher in alle Städte und Märkte, lehrte in ihren Schu- Heute werden durch ein Wort unseres Bischofs alle Gemeinden der Landeskirche zur Wahl eines Kirchenvorstandes aufgerufen. Diese Wahl hat aber für uns hier in Marburg eine besondere Bedeutung, denn zum ersten Mal seit rund 300 Jahren kann sich die evangelische Gemeinde durch die Wahl ihrer Kirchenvorsteher zu ihrer wiedergewonnenen Einheit bekennen und damit zu dem Wege, aus dem der Zusammenschluß der bis dahin getrennten Gemeinden einen allerersten Schritt bedeutet. Über 300 Jahre lang waren wir getrennt durch den Eingriff eines Fürsten in das Leben unserer evangelischen hessischen Heimatkirche: Landgraf Moritz der Gelehrte hat mit seiner „Reform” offensichtlich politische Ziele verfolgt. Die damals unseren Gemeinden auferlegten Änderungen des Katechismus und der gottesdienstlichen Ordnung haben denn auch alle Kennzeichen einer kirchenpolitischen, nicht einer aus christlicher Überzeugung kommenden und der Erkenntnis der Wahrheit dienenden Anordnung. Mit der Wiedervereinigung der Marburger Gemeinden, die durch den gemeinsamen Kampf um die Freiheit des Evangeliums gegen die nationalsozialistische Vergewaltigung der Gewissen merklich vorbereitet worden ist, ist darum ein schmerzliches Stück kirchlicher Territorialgeschichte zum Abschluß gekommen. Möchte die Rückkehr unserer ganzen kurhessischen Kirche zur Einheit und Geschlossenheit ihres Bekennens und Lebens auf der von Anfang an gegebenen und nie verlassenen gemeinsamen Grundlage des Augsburger Bekenntnisses folgen. Das Evangelium, das wir eben gehört haben, stellt uns mit großer Eindringlichkeit vor die Frage unserer Verantwortung, der Verantwortung des Dienstes an allem Volk im Auftrage Jesu Christi. In dem Aufruf des Bischofs steht der Satz: „Es gibt kein privates Christentum!” Wer von dem Herrn Christus in seinen Dienst gerufen worden ist, der gehört nicht mehr sich selbst, der hat darum auch nicht das Recht, sich für seine Privatbedürfnisse sein besonderes Christentum zurechtzuzimmern oder auszusuchen. Er hat nicht das Recht, private Empfindungen und Wünsche, Gewohnheiten oder Neigungen dem Dienst am Ganzen voranzustellen. Wir können uns nicht den kleinen Kreis unserer Sympathie aussuchen, in dem wir uns wohlfühlen in dem wir uns womöglich mit unserer Frömmigkeit und unseren Sondermeinungen wichtig genommen sehen. Wer von Christus gerufen ist, der hat den Auftrag, mit den ihm verliehenen Gaben und Kräften, mit dem Pfund, das Gott ihm anvertraut hat, an allem Volk der einen Kirche zu dienen, der einen Herde des einen Hirten. Es hat allzu lange gedauert, bis der Christenheit unserer Tage die Verantwortung für die Einheit der Kirche zum Bewußtsein gekommen ist. Durch Jahrhunderte hindurch hatte sich das christliche Abendland an die Zerspaltung der Kirche wie an etwas Selbstverständliches gewöhnt. Man empfand gar nicht mehr, daß diese Auflösung der einen Kirche in einander fremd und fern gegenüberstehende Teilkirchen etwas Unnatürliches, Wesenswidriges ist und dem klaren, eindeutigen Willen des Herrn der Kirche widerspricht. Es bedurfte erst des gewaltigen Wachstums der Weltmission bis zu Beginn unseres Jahrhunderts, um die abendländische Christenheit zu lehren, welche Not diese ihre Aufspaltung in eine fast unübersehbare Fülle von Konfessionen bedeutet. Am eindringlichsten ist diese Not der Christenheit erkannt und ausgesprochen worden auf der letzten internationalen Missionskonferenz vor dem Kriege in Tambaran im Jahre 1938. Wenn man bedenkt, daß in China über hundert Missionsgesellschaften verschiedener konfessioneller Prägung auf evangelischer Seite arbeiten, daß in Südafrika sogar über 500 religiöse Sondergruppen missionarisch tätig sind, dann kann es uns nicht verwundern, mit welchem Ernst, ja mit welcher leidenschaftlichen Anklage die jungen Kirchen des Missionsfeldes der abendländischen Christenheit vorhalten: „Wo das Evangelium Eingang gefunden hat bei uns, da werden die Spaltungen in der Kirche den Nichtchristen zum Anstoß. Die denkenden Menschen fragen, warum wir Hingabe an den einen Christus fordern und doch gleichzeitig im Gottesdienst getrennt sind und in den heiligsten Handlungen uns engherzig voneinander abschließen. Die Spaltungen verwirren den nachdenklichen Sucher. Welcher Kirche soll ich mich anschließen, - so fragen die Bekehrten. Wie kann die christliche Mission die Völker der Welt zu der einen Wahrheit des einen Evangeliums rufen, wenn ihre Träger selbst sich nicht darüber einig sind, was dieses Evangelium eigentlich ist?” So kommt denn Prälat Hartenstein, der bekannte langjährige Leiter der Baseler Mission, in dem deutschen Bericht über Tambaran zu der Schlußfolgerung: „Tambaran redete von der Zusammenarbeit aller Christen zum Dienst am Bau der Gemeinde Jesu. Vor ihm stand die gewaltige Schau der Einheit des Leibes Christi in der Welt. Das bedeutet eine kühne Herausforderung an die alte Christenheit. Sollen alle konfessionellen Schranken und Prägungen verewigt werden, oder ist nicht die Stunde da, wo um des großen Zieles willen, „damit die Welt glaube, Du habest mich gesandt”, neu zu überprüfen ist, was Gott in die Gefäße der Bekenntnisse hineingelegt hat, damit sie nicht gegeneinander und widereinander, sondern miteinander zum Bau seiner Gemeinde, des Leibes Christi auf Erden, fähig werden?” Steht nicht allen denen, die sich heute ernsthaft über die inneren Zustände unseres Volkes Gedanken machen, vor Augen, daß die Front, die nicht nur durch unser Volk, sondern durch die ganze Welt geht, wahrhaft keine konfessionelle Front mehr ist, sondern die zwischen Christus und Antichristus, zwischen dem Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen Kirche auf der einen und dem leidenschaftlichen Aufstand der Menschen gegen Gott aus der anderen Seite? Weisen nicht alle Anzeichen darauf hin, daß es sich heute um diese letzte Entscheidungsfrage für die Menschheit handelt? So empfinden es die Millionen, die heute fragend, suchend, zweifelnd und doch im Stillen hoffend vor den Toren der Kirche stehen. Was sollen wir also tun, - wir alle, - ob wir nun ein besonderes Amt in der Kirche inne haben, - das Amt eines Pfarrers oder Predigers, das Amt eines Ältesten, - oder ob wir als Glieder der Gemeinde Verantwortung dafür tragen, daß das Zeugnis unseres Glaubens und Lebens dem klaren und unzweideutigen Worte Christi von der Einheit seiner Kirche entspricht? Das erste und wichtigste, was wir zur Lösung der Frage nach der einen Kirche Christi zu tun haben, ist, daß wir es wieder lernen, an die eine Kirche zu glauben. So lesen wir in der Apologie zum Augsburger Bekenntnis, also in einer Bekenntnisschrift, die seit den Tagen der Reformation für alle unsere hessischen Gemeinden in Geltung geblieben ist: „Daß wir gewiß sein mögen, nicht zweifeln, sondern gänzlich glauben, daß eigentlich eine christliche Kirche auf Erden lebe und sei, welche Christi Braut sei.. . daß auch der Herr Christus hier auf Erden in dem Haufen, welcher Kirche heißt, täglich wirke, Sünde vergebe, täglich das Gebet erhöre, täglich in Anfechtung mit reichem, starkem Trost die Seinen erquicke und immer wieder aufrichte, so ist der restliche Artikel im Glauben gesetzt: Ich glaube an eine katholische allgemeine christliche Kirche. Wahrhaftig gar „nötig und hochtröstlich” ist der Glaubensartikel von der katholischen oder allgemeinen Kirchen, welche von aller Nation unter der Sonnen zusammen sich schickt”. Dieser Artikel unseres Glaubens ist uns gegeben ne desperemus, wie es im lateinischen Text der Apologie heißt,-damit wir nicht verzweifeln, - denn solche Verzweiflung könnte uns ja wahrhaftig überfallen, wenn wir ansehen müssen, was uns vor Augen ist, wie es mit der Christenheit steht, was auch in unserer lieben Stadt Marburg nur zu sichtbar ist an gegenseitiger Unduldsamkeit, eigensinniger Rechthaberei, Eigenbrötelei, - an Unwillen, einander zu achten, aufeinander zu hören, Glauben mit Liebe und Einigkeit zu verbinden. Der feste Glaube an die Einheit der Kirche Christi hat einen Thomas von Aquin, den großen Lehrer der mittelalterlichen Kirche, getrost sterben lassen, als der Tod ihn auf dem Wege zum Kirchenkonzil von Lyon überraschte, wo seine Mitarbeit an der großen, überaus nötigen Aufgabe der Heilung des Schismas zwischen Abendland und Morgenland unentbehrlich erschien. Zu allen Zeiten der Kirchengeschichte haben die verantwortlichen Männer im Kampf stehen müssen, um die Einheit der Kirche gegen die immerwährend drohenden Tendenzen zur Spaltung, zu Schisma und Häresie zu erhalten. Schon der Apostel Paulus ist in einer gespaltenen Kirche gestorben und hat sein Leben lang kämpfen müssen gegen die Zerspaltung der Gemeinde Gottes. Wir kennen seine leidenschaftlich anklagenden Fragen an die Korinther, die sich in Parteien gegenüberstanden: „Ist Christus zertrennt? Ist denn Paulus für euch gekreuzigt, oder seid ihr auf des Paulus Namen getauft?” Soll das nun heißen, daß die Zerspaltung der Christenheit ihr unabänderlicher Normalzustand sei? Gott bewahre uns vor einer solchen leichtfertigen Feststellung! Wir wollen doch ja die Augen nicht davor verschließen, wieviel menschliche Torheit, Ungehorsam, Sünde in all dem zur Wirkung gekommen ist. Wir wollen auch die Augen nicht davor verschließen, welche unvermeidlichen Schäden der Christenheit durch diese ihre immer wieder ausbrechende Uneinigkeit zugefügt worden sind. Um nur eines zu nennen: Der Sieg des Islam über die Kirche im Orient und Nordafrika ist gar nicht denkbar ohne die Lähmung dieser Kirche durch die sie zerreißenden Spaltungen. Gerade weil wir diese Gefahr zu allen Zeiten der Kirchengeschichte vor Augen haben, ist uns der Glaubensartikel von der „einen, katholischen, d. h. allgemeinen, christlichen Kirche” so nötig. Es ist uns nötig, zu erkennen und zu bekennen, und uns danach in unserem ganzen Verhalten zu richten, daß überall dort, wo der Herr Christus ist, die eine Kirche Gottes auf Erden ist. Christus ist die lebendig wirkende Mitte und Einheit in einer unerhörten Fülle und Mannigfaltigkeit der von ihm gewirkten Erkenntnis und des von ihm erweckten und erfüllten Lebens. Wir haben immer aufs Neue zu lernen, welches da sei „die Länge und die Breite und die Tiefe und die Höhe” des Christusraumes, den wir betreten, wenn wir in die Kirche aufgenommen werden. Es gilt, die Neigung zu überwinden, alles christliche Leben nach dem eigenen Modell zuschneiden zu wollen, alle Erkenntnis nach dem eigenen, vielleicht sehr beschränkten und dürftigen Maß messen zu wollen. Je mehr man sich in die Geschichte der Kirche Jesu Christi vertieft, umso deutlicher wird, wie sehr immer wieder alle die Gefäße, mit denen die Menschen jeweils versucht haben, das aus der einen Quelle strömende Wasser aufzufangen, zu eng und zu dürftig sind für diesen Reichtum. Es gilt also, Liebe und Bereitschaft zur gegenseitigen Anerkennung und Duldung zu üben, das ist das genaue Gegenteil des Sektengeistes, der jede Verschiedenheit in der Erkenntnis, in der Form des Gottesdienstes, in der Erfahrung der Christusgemeinschaft zum Anlaß pharisäischer Absonderung nimmt und nur allzu leichtfertig bereit ist, dem Mitchristen den rechten Glauben abzusprechen. Der gewisse Glaube an die eine Kirche Christi läßt uns vielmehr immer wieder die apostolische Mahnung hören und beherzigen: „Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hangt durch alle Gelenke, dadurch eines dem anderen Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maß und macht, daß der Leib wächst zu seiner selbst Besserung, und das alles in der Liebe.” Zum Dritten und Letzten: Der Glaube an die unzerstörbare Einheit der heiligen Kirche Gottes gibt uns auch den Mut und die Geduld, um in unbeirrbarer Treue die Frage nach der Wahrheit zu stellen und festzuhalten. Glauben wir an den einen Herrn der Kirche, an das Haupt aller Glieder seines Leibes, - glauben wir an den einen Heiligen Geist, der uns in alle Wahrheit leiten will, so dürfen wir auch gewiß sein, daß er uns zu der einen Wahrheit führen kann, zur vollen Gemeinschaft m der Erkenntnis, und daß diese eine Wahrheit zuletzt über allen Irrtum, alle Verdunkelungen, alle bloße Menschenmeinung siegen kann und siegen wird. Wir fragen unbeirrbar nach der Wahrheit, denn bei allem Ringen um die Einheit der Kirche geht es ja notwendigerweise zuletzt immer wieder um die Wahrheit des Evangeliums. Wer nach der einen Kirche Christi fragt, der fragt nach der wahren Kirche, oder er weiß nicht, was er tut. Alles liebevolle Sichgeltenlassen, alle gegenseitige Anerkennung von der wir sprachen, bedeutet ja nicht ein Gleichgültigwerden gegenüber der Wahrheit, sondern im Gegenteil den Eifer, durch alle unsere menschlichen Begriffe und Aussagen hindurch, in aller ihrer Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit die eine Wahrheit zu hören, in die Richtung zu schauen, in die alle diese verschiedenartigen Erfahrungen und Zeugnisse zielen. Wenn der Herr Christus in dem hohenpriesterlichen Gebet am Vorabend seines heiligen Opfers darum bittet, daß „sie alles Eines seien”, so steht ja dieses Gebet in unmittelbarem Zusammenhang mit der anderen Bitte „Heilige sie in Deiner Wahrheit, Dein Wort ist die Wahrheit”. Die Liebe und Freiheit, mit der wir aufeinander hören, mit der wir einander gelten lassen, mit der wir uns den gegenseitigen Dienst gefallen lassen, schließt die Frage nach der Wahrheit nicht aus, sondern ein. Es gibt in der Christenheit Unterschiede, die nur aus verschiedenen Anlagen, Interessen, Gesichtspunkten der Menschen stammen. Verschiedenheiten, die mit einem Wort der Individualität zugehören, welche nun einmal allen Gebilden der menschlichen Geschichte anhaftet. Sie zum Grunde der Trennung und Abspaltung zu machen, wäre Unrecht und Sünde. Das kann gar nicht deutlich genug ausgesprochen werden. Darum stehen solche bekennenden Christen aller Teilkirchen sich auch untereinander näher als die Gleichgültigen, die nur den Kopf zu schütteln wissen über den Ernst solchen Ringens um die Wahrheit. Ich las vor wenigen Tagen die überraschende Bemerkung, daß die Einheit des christlichen Abendlandes eigentlich nicht im Zeitalter der Reformation, sondern erst am Ende des 17. Jahrhunderts zerbrochen sei, als der Kampf zwischen den Konfessionen erlahmte und die Zeit der Indifferenz und Toleranz begann. So überraschend das klingt, so spricht es doch eine echte Erkenntnis aus. Solange die Konfessionen miteinander ringen, sind sie ja auch im Gespräch miteinander, wissen sie im tiefsten Grund, daß sie zueinander gehören, daß sie sich nicht loslassen können, daß sie zum Dienst des gegenseitigen Zeugnisses verpflichtet sind. In ihrem Kampf geht es ja gerade um die Einheit und die Wahrheit der Kirche Christi. Und heute, in unseren Tagen, ist es nicht anders. Nicht dort, wo man über das ernsthafte Ringen der Konfessionen die Achseln zuckt, in der Auffassung: „Was gehen uns die Streitereien der Theologen an, das alles sind doch längst überholte, verstaubte und für uns heute völlig gleichgültige Dogmen”, aber auch nicht dort, wo der Sektengeist herrscht wo man sich eigensinnig an bloße Vorurteile und Gewohnheiten oder irgendein Sonderfündlein klammert und selbstzufrieden oder wichtigtuerisch sich von der allgemeinen christlichen Kirche absondert, sondern allein da, wo im tiefen Ernst des Ringens um die Wahrheit in dem echten, keine Schwierigkeiten vertuschenden Gespräch von Konfession zu Konfession ein Stein der trennenden Mauern nach dem andern geduldig niedergelegt wird, da wächst die Einheit der Christenheit. Noch einmal: Was sollen wir tun? Wir sollen mit ganzem Ernst glauben und uns zu immer tieferer Erkenntnis der Wahrheit führen lassen. Wir sollen mit ganzer Freiheit und Offenheit des Herzens die Brüder lieben in allen Teilen der einen Kirche Christi über alle Gräben hinweg, die uns noch trennen. Wir sollen mit ganzer Hingabe durch das Zeugnis unseres Glaubens und unserer Liebe dem Kommen der einen Kirche Christi zu dienen versuchen. Und wir sollen schließlich über dem allen und vor allem anderen nicht müde werden in dem Gebet, das seit den Tagen der ersten Gemeinde in ihrer Versammlung aufsteigt: „Maranatha - ja, komm, Herr Jesu!” Amen. Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 47-53 |
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