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Michaelskampf?
von Walter Uhsadel

LeerIn der Rheinisch-Westfälischen Zeitung vom 23. Juli 1896, aus der wir schon im Pfingstbrief ein Stück zitierten, lesen wir einen Leitartikel, der vom Kampf gegen die „sozial- demokratische Litteratur” berichtet, wie ihn der Christliche Zeitschriftenverein aufgenommen hat. „Es bedarf einer litterarischen Gegenwirkung in großem Stile, einer geschickten Organisation und planmäßigen Agitation aller derer, die den systematischen Angriffen auf Religion, Sitte und Ordnung entgegenzutreten entschlossen sind. In dieser Erkenntnis legen wir gern ein anerkennendes und hoffentlich zur Teilnahme anspornendes Zeugnis ab für den ‚Christlichen Zeitschriftenverein’ in Berlin. Der ‚Christliche Zeitschriftenverein’, begründet am 10. November 1830, hat sich satzungsgemäß die Aufgabe gestellt, frei von jeder politischen und konfessionellen Parteitendenz, durch ganz billige Zeitschriften, Volksbücher, Volkskalender, Flugblätter und Broschüren insbesondere für die arbeitenden Klassen eine positive Gegenwirkung gegen die Sozialdemokratie auf dem Gebiete der Presse zu schaffen (im Original gesperrt), Gottesfurcht, Familiensinn, Vaterlandsliebe und Treue gegen Kaiser und Reich zu stärken und zum sozialen Frieden in Wertschätzung und unter Mitarbeit der niedern Klassen beizutragen...

LeerFür unentgeltliche Verteilung geeigneter Blätter und Lesemappen in Krankenhäusern, Gefängnissen, Kasernen, Fabriken usw. verwendet der Verein jährlich ca. 40 000 M., die ihm von Freunden der guten Sache geschenkt werden. Die Auflage der vom Verein herausgegebenen 139 verschiedenen regelmäßig erscheinenden Zeitungen - darunter 20 selbständig redigierte mit verschiedenem Inhalt - beträgt 78 000 Exemplare. An Flugschriften wurden 300 000 Exemplare vertrieben, an Volkskalendern 350 000 Exemplare. Die Gesamtauflage der zahlreichen Zeitschriften betrug 1 ½ Million. Die Redaktion des ‚Christl. Zeitschriftenverein’ liegt in den Händen des Predigers Hülle, dem sieben Redakteure zur Seite stehen sowie mehrere Damen für die vom Verein herausgegebenen Frauen-und Mädchenzeitungen. Im ganzen beschäftigt der Verein 200 Personen. 12 000 Agenten suchen der Gegenwirkung gegen die Umsturzbestrebungen in allen Teilen des Reiches Eingang zu verschaffen. Von dem Umfang des Geschäftsbereiches bekommt man eine Ahnung, wenn man hört, daß jährlich 100 000 M. für Briefmarken ausgegeben werden ...”

LeerSehen wir von Einzelheiten wie den Begriffen „arbeitende” oder „niedere” Klassen ganz ab, die verräterisch genug sind, so sind wir doch nach den Erfahrungen eines halben Jahrhunderts, das seither verstrich, über die Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, der die sozialdemokratische Bewegung entstammte, erschrocken. Es wird uns manch bitteres Wort auch noch heutiger alter Sozialisten gegenüber der Kirche nur allzu verständlich. Der Kampf, den dieser Verein im Namen der Kirche aufnahm, ging an dem eigentlichen Notstande vorbei und hat unabschätzbaren Schaden angerichtet. Wir haben keine Vorstellung, wie weit er wirkte. Aber sicher ist, daß er geholfen hat, die Kluft zwischen den „niederen Klassen” und der Kirche zu vertiefen. Nicht ein einziges Wort finden wir in seiner Zielsetzung, das darauf hinweist, daß sich die Kirche der Not der Massen, die ein Wichern schon 50 Jahre früher deutlich erkannt hatte, annehmen müsse. In derselben Zeit aber entstanden jene großstädtischen Wohnhöhlen für Hunderttausende, in denen die Bodenspekulation wie etwa im Hamburger Hammerbrook an den hilflosen Massen verdiente.

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LeerJetzt haben die Bomben dafür gesorgt, daß diese Steinwüsten, in denen sich ein Hinterhaus hinter das andere schob, jedes ein Stück tiefer ausgeschachtet, damit ein Stockwerk mehr gewonnen würde, so daß das letzte bei Flut unter dem Wasserspiegel der Elbe lag, - daß diese Steinwüsten zu Schutt- Halden geworden sind. Sie waren die Brutstatten der Tuberkulose und des Nihilismus, und die alten sozialdemokratischen Familien waren in ihnen wahrlich der letzte gesunde Rest, der sich noch gegen Verwahrlosung und Untergang wehrte. Das kann jeder bezeugen, der mit wachen Augen noch während des vorigen Krieges durch jene düsteren, baumlosen Häuserblocks ging und die dort „lebenden” Menschen in ernsten Gesprächen kennenlernte.

LeerWie, wenn der Christliche Zeitschriftenverein sein Augenmerk auf diese Not und den Kampf gegen das soziale Verbrechen gerichtet hätte, das hier jahrzehntelang begangen wurde? Ob es nicht-eine wirksamere Bekämpfung der „Umsturzbewegungen” gewesen wäre? So wie er ihn aufgefaßt hat, war es wahrhaftig kein christlicher, kein Michaelskampf, sondern - eine Don Quichoterie. Wir sagen das, indem wir Don Quichote durchaus eine traurige, verfehlte Ernsthaftigkeit zubilligen, deren Tragik etwas Versöhnendes hat. Wir verstehen jedoch, daß den Betroffenen solche Versöhnlichkeit nicht naheliegt.

LeerStellen wir dem gegenüber, was der amerikanische Pastor M. O Dietrich nach einer Deutschlandreise schreibt (News Bulletin, official organ of the Lutheran World Federation, Office of Dr. S. C. Michelfelder. Deutsche Ausgabe bearbeitet von Dr. Hermann Ullmann. Genf, 15. Mai 1948): „ . . Auch auf sozialem Gebiet ist etwas im Werden. Die alten Formen des gesellschaftlichen Lebens sind nicht nur erschüttert, sondern zumeist auch zerstört. Etwas Neues muß gesucht und gefunden werden. So ernst ist die soziale Lage für alle Deutschen, daß die Lösung, die oft vorgeschlagen wird, einen revolutionären Charakter hat. Die Lebenszustände fordern einen neuen Angriff; man redet ernstlich von einer Bodenreform. Man ringt um eine Lösung die 13 ½ Millionen Flüchtlinge betreffend, die überall sind und nirgends, sein können. Man beschäftigt sich mit den krassen und ungerechten Unterschieden zwischen den sozialen Schichten und weiß, daß eine Nivellierung nicht ausbleiben kann.

LeerDas Alte ist dahin und wird niemals wiederkehren. Für die meisten hat sich das Leben von Grund auf verändert und kann kaum wieder in die alten Bahnen gelenkt werden. Ein Mensch, der sich mit grauenvollen Erinnerungen quälen muß, muß einen ganz besonderen Weg gehen. Es muß auch eine Lösung gefunden werden für die unglücklichen Familien- und Eheverhältnisse. Es muß eine Brücke gebaut werden über die Zonengrenzen, so daß Menschen, die von einander getrennt leben, wieder zueinander finden. Auf dem Gebiet des sozialen Lebens kocht und siedet es überall . . . Das ernste Denken, das sich: mit all diesen Problemen abgibt, wird nicht umsonst sein. Theologie und praktisches Gemeindeleben sind getränkt mit neuen Gedanken...”

LeerIst hier ein Ansatz zum wahren christlichen Kampf richtig gesehen worden? Oder ist es die Meinung eines wohlwollenden Mannes, der uns positiver sehen möchte, als wir sind? Und wenn es richtig gesehen ist, wird es Literatur, wird es Bericht über eine Problematik bleiben, aus der kein Weg zum Leben führt? Oder ist wirklich Neues im Werden? Als Kampf der Christen wird es anders aus sehen müssen, als jener, den die Rheinisch- Westfälische Zeitung abschließend so kennzeichnet: „Wer sich der allgemeinen Wehrpflicht bewußt ist und nicht will, daß die Gemütsverrohung der Massen und die Verhetzung und Zersetzung des Volkes weiter um sich greife, dem ist hier die beste Gelegenheit geboten, an dem Kampf mit geistigen Waffen gegen die Umsturzbestrebungen stetig und erfolgreich mitzuwirken. Einigkeit macht stark!” Uns geht es nach einem halben Jahrhundert bitterer Erfahrungen um die allgemeine Wehrpflicht der Liebe, die ohne Nebenabsichten ist, die gegen nichts kämpft, als gegen die Not, Kampf der Seelsorge und Fürsorge, in dem nach politischen Meinungen nicht gefragt wird, der nicht nach Auflageziffern und Briefmarkenverbrauch bewertet werden kann.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 145-147

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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