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„Lasset uns anbeten das Geheimnis der Erscheinung Gottes im Fleisch”
von Wilhelm Stählin

LeerIn der Form der Messe, wie sie in der Ostkirche gefeiert wird, der sogenannten Chrysostomos-Messe, geschieht in der Vorbereitung, bei der Zurüstung der Elemente, das Folgende: Nachdem das heilige Brot auf einen Teller, nach seiner Form Diskus genannt, gelegt und die für die heilige Handlung bestimmten Stücke unter feierlichen Zeremonien und Gebeten herausgeschnitten und geordnet sind, wird dieser Teller mit dem Brot mit einem sternförmigen Gestell, dem „Asteriskus” („Sternlein”) , bedeckt, und dazu spricht der Priester das Wort: „Der Stern kam und blieb stehen über dem Ort, wo das Kindlein war.” Mit diesem Vers aus der Weihnachtsgeschichte (Matth. 2, 9) wird in der Bildersprache, die der Liturgie der Ostkirche insonderheit eigentümlich ist, in einer fast kindlich zu nennenden Weise der Zusammenhang ausgedrückt, der zwischen dem sakramentalen Geschehen und dem Wunder der Menschwerdung, wie es uns das heilige Evangelium erzählt, besteht und gesehen werden soll.

LeerDie Gläubigen werden, sofern sie darauf achten, angeleitet, das gesegnete Brot, das ihnen im Heiligen Mahl gereicht wird, anzuschauen und zu ehren als eben den Christus, der vom Himmel zu uns Menschen gekommen ist und als Kindlein in der Krippe lag; Wort und Gebärde, die die heilige Handlung begleiten, bis hin zu den Geräten auf dem Altar, rücken ein in die Funktion, die nach Gottes Ratschluß damals der Stern geübt hat, als er den Magiern aus dem Osten den Weg wies zu dem Haus, da der neugeborene König zu finden war. Die Form dieser Symbolik ist uns fremd und erscheint uns fast wie eine Spielerei, die aus der Freude daran erwachsen ist, tiefsinnige Gedanken in kleinen Zeichen und Bildern sehr leise und gleichsam heimlich auszudrücken. Aber der Sinngehalt dieser Symbolik gilt von der Messe, von dem christlichen Gottesdienst in jeder Form. Sie ist ein Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes, und daß wir „das Geheimnis der Erscheinung Gottes im Fleisch anbeten”, durchzieht wie der viel zitierte „rote Faden” das ganze Gefüge und Gebäude der Liturgie.

LeerIn Oldenburg wird seit einigen Jahren jedesmal in der Heiligen Nacht in einer mitternächtlichen Feier die Messe „Pange lingua” des Josqin de Pres gesungen. An der Stelle, wo im Credo die Worte von der Menschwerdung erreicht werden: et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est („und ist leibhaft worden durch den Heiligen Geist aus Maria der Jungfrau und ist Mensch worden”), geschieht eine eigentümliche und erschütternde Veränderung in der musikalischen Gestalt; das kunstvoll ineinander geflochtene Tongewoge lichtet sich zur durchsichtigen Klarheit, die Polyphonie wandelt sich für diese wenigen Takte zur reinen Harmonie, so als ob nur das ganz Einfache, Klare demütig genug scheine, anzubeten das unaussprechbare Wunder, daß Gott zu uns gekommen ist, leibhaft, geboren als Mensch unter Menschen. In vielen Zweigen der christlichen Kirche, so z. B. auch in der anglikanischen Kirche, besteht die Sitte, daß während der Priester am Altar oder ein Chor diese Worte im Credo spricht oder singt, die ganze Gemeinde niederkniet, um eine Weile in tiefster Andacht und Ehrfurcht vor dem Mysterium der Geburt Gottes zu verharren. Die Welt hält gleichsam den Atem an vor dem Wunder, das in der Heiligen Nacht sich ereignet.

LeerWas ist es, was im Vollzug der Messe mit einer so hohen Verehrung bekannt und begleitet wird? Der Glaube an die Menschwerdung Gottes, Das Bekenntnis zur Inkarnation steht in einem zwiefachen Gegensatz. Es tritt darin zutage, daß weder die reine Immanenz, noch die reine Transzendenz ausreicht, um das Geheimnis Gottes und seiner Offenbarung angemessen zu beschreiben. Der Gott, an den wir glauben, ist nicht der göttliche Wesensgrund alles Seins, der, obschon in einer unserem Verstand unzugänglichen Tiefe, in allem Geschaffenen immer und überall gegenwärtig sei, nicht der göttliche Wesenskeim, der „allem, was Menschenantlitz trägt”, unverlierbar innewohne. Und er ist ebenso wenig jenes erhabene „höhere Wesen”, das in unnahbarer Majestät auf dem Weltenthron sitzt, für unsere Gedanken so völlig unerreichbar, daß schon alles, was wir über ihn zu sagen wagen, verkehrt ist, eine Verletzung jenes unaussprechlichen Geheimnisses, mit dem er sich unserem Blick und unserem Begreifen für immer entzogen hat.

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LeerSondern es ist der Gott, der zu uns kommt, damit nicht die allein gelassene Welt gänzlich verloren gehe und die in sich selber verschlossene und verkrampfte Menschheit sich selber zugrunde richte; der Gott, der „herniedergestiegen ist aus den Himmeln”, der sich in seiner Barmherzigkeit herabgeneigt hat zu der Niedrigkeit unseres Menschenwesens und die Glorie der himmlischen Herrlichkeit vertauscht hat mit der Armut, Hinfälligkeit und Todesnot, die von unserem irdischen Leben untrennbar sind. Die unüberbrückbare Kluft, die den Menschen von Gott trennt, ist überbrückt in dem Mysterium des Gottmenschen; es ist aber ein anderes, an den Gott-Menschen, den Mensch gewordenen Gott, den deus incarnatus, zu glauben als an den Mensch-Gott, den sich selbst zu göttlicher Würde emporsteigernden Menschen; das innerste Wesen des Gott-Menschen ist die gnädige Selbsthingabe Gottes, das Wesen des Mensch-Gottes ist der titanische Frevel schlechthin.

LeerDie „Inkarnation” ist die Voraussetzung alles dessen, was die Heilige Schrift und was der christliche Glaube von dem Christus-Ereignis und von dem durch Christus vollbrachten Erlösungswerk aussagen. Seine Worte reden von Ihm selbst, dem Christus Gottes und seine Taten zeugen von Ihm, in dem die Herrschaft Gottes auf Erden angebrochen ist. Was seine Jünger an ihm erfahren haben, ist die „Herrlichkeit” Gottes, die in dem Sohn unter uns erschienen ist. Der Gekreuzigte ist Gott selber, der sich ans Kreuz hingegeben und mit seinem Kreuz zugleich die Sünde der Welt getragen und mit seinem Tod hinweggenommen hat. Nur weil „Gott in Christo war”, hat er in ihm die Welt mit sich selber versöhnt (2. Kor. 5, 19).

LeerDie Inkarnation ist aber nicht nur die geschichtliche Voraussetzung, sondern zugleich der gegenwärtige Inhalt jedes christlichen Gottesdienstes. So wie wir an Christus selbst nicht als an ein vergangenes Ereignis in der Geschichte erinnern, sondern ihn als den Gegenwärtigen erfahren, so geschieht im Sakrament immer von neuem jene geheimnisvolle Verbindung von Himmel und Erde, die die Kirche als das Wunder der Menschwerdung besingt. Als im 9. Jahrhundert die Gesandten des Großfürsten Wladimir von einer Reise nach Konstantinopel nach Kiew, an den Hof ihres Fürsten, zurückkehrten, berichteten sie über ihren Eindruck von einem christlichen Gottesdienst in der Kirche der Hagia Sophia: Sie hätten zwar nichts verstanden von dem Inhalt, der Liturgie und der Gesänge und Gebete, aber sie hätten nicht mehr gewußt, ob sie im Himmel oder auf Erden seien; kein Wunder, denn eben die Verbindung von Himmel und Erde ist das Herzstück jedes christlichen Gottesdienstes. Erscheint es uns nicht sehr glaubhaft und sinnvoll, wenn berichtet wird, daß Wladimir eben auf diese Aussage hin sich mit seinem Volk dem christlichen Glauben und christlichen Gottesdienst zugewendet habe?

LeerDer Lobpreis der Menschwerdung durchzieht in wunderbarer Weise das ganze Gefüge der Messe. In dem Gebet zur Darbringung der Elemente Brot und Wein heißt es an erster Stelle, daß wir uns anschicken, mit diesen Gaben Gottes die Wunder seiner heiligen Geburt zu feiern und am Ende, nach Abschluß der heiligen Handlung lesen wir - gemäß einer aus dem späten Mittelalter stammenden Überlieferung - den Anfang des Johannes-Evangeliums, den großen Weihnachts-Hymnus, man könnte auch sagen: die weihnachtliche Meditation über die Fleischwerdung des Wortes, ausdrücklich in der Absicht, in, mit und unter diesen Worten „das Geheimnis der Erscheinung Gottes im Fleisch anzubeten”.

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LeerIn dem Maß, wie unser Christusglaube die bewußte Verehrung der Menschwerdung Gottes, der Inkarnation, in sich schließt, rückt die Gestalt seiner Mutter in unser Blickfeld. Der völlige Mangel einer Marien-Verehrung, welche das Maß dessen, was die Heilige Schrift von Maria sagt, weder willkürlich überschreitet, noch auch ebenso willkürlich entleert, ist das Symptom dafür, ist das Symptom dafür, daß der Glaube das Geheimnis der Inkarnation nicht mehr in seiner Tragweite erkennt. Hier aber waltet ein unterirdischer Zusammenhang mit einem realistischen Sakramentsglauben. Die irdischen Stoffe, die im Sakrament zu Trägern eines geistlichen und heilserfüllten Geschehens werden, Wasser, Brot und Wei, werden in der dogmatischen Sprache als die „Materie” des Sakraments bezeichnet. Das lateinische Wort materia aber ist abgeleitet von mater = Mutter.

LeerIn der jeweiligen „Materie” des Sakraments wird also in einer sehr verborgenen Weise Maria als die Mutter des Herrn, als das irdische Gefäß der Inkarnation abgebildet und sinnbildlich dargestellt. Wenn in dem Gebet um die Kraft des Heiligen Geistes, die sogenannte Epiklese, Gott angefleht wird: „Sende herab deinen Heiligen Geist, der da lebendig macht ... Mit ihm segne und heilige auch diese Gaben zur himmlischen Speise, segne und heilige dieses Brot und mache es uns zur Gemeinschaft des Leibes unseres Herrn Jesu Christi ...”, so ist diese Segnung der „Materie” nichts anderes als die kultische Vergegenwärtigung dessen, was in der Geschichte von der Verkündigung, in dem Gespräch des Engels mit der Jungfrau Maria, der mater Dei, sich ereignet hat: das durch den Hauch des Mundes geformte Wort - einerlei, ob man dabei mehr an die Worte der Einsetzung selbst oder an ein besonderes Gebet denken will - spielt sozusagen die Rolle, die in dem Wort des Engels die „Kraft des Höchsten” spielt, welche Maria überschattet. Genau das Gleiche aber, von den sakramentalen Elementen auf den teilnehmenden Menschen übertragen, drückt sich darin aus, daß die Gläubigen vor den Empfang der heiligen Speise das Wort beten: „Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst...”. Denn eben dieses will sich ereignen, jenseits aller Würdigkeit oder Unwürdigkeit, daß der heilige Gott zu uns kommt und in Wahrheit eingeht unter das niedrige Dach, in die elende Hütte unseres Menschenwesens, um hier bei uns, in uns zu wohnen. Die Einwohnung Gottes in dem Menschen, die der Herr den Seinen verheißt (Joh 14, 23 u. ö.), ist die Auswirkung und Ausstrahlung der Inkarnation in das Leben der Gläubigen hinein.

LeerUnd nur die Hoffnung, daß wir durch die heilige Speise selbst zur Herberge Gottes, zur Stätte der neuen Geburt werden, erklärt in der letzten Tiefe die zitternde Ehrfurcht und jubelnde Freude, mit der das Wort gebetet und gesungen wird: Et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine.

LeerDie Feier der Messe ist das lobpreisende Bekenntnis zu dem Wunder der Inkarnation.

Evangelische Jahresbriefe 1950, S. 2-5

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-16
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