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Nochmals Bruderschaft im französischen Reformiertentum
von Arthur Graf

LeerAn der Arbeitstagung der oekum. Kommission „On Ways of Worship” , Thun 1949, wurde den Teilnehmern eine kleine Schrift über Enstehung und Wesen der „Communauté Clunisienne” überreicht. Es wird für die Leser der „Jahresbriefe” wertvoll sein, daraus zu entnehmen, wie die Lage der evangelischen Christenheit heute auf französisch-reformiertem Boden gesehen wird.

LeerDer Verfasser, Max Thurian, der führende Theologe dieses Ordens, geht von der Feststellung aus, daß das „ W o r t ” in der modernen Welt keine Wirklichkeit mehr darstellt, welche konkret in das Leben der Menschen eingreifen und dasselbe zu gestalten vermöchte. Auch die Kirchen leben in ihnen letztlich fremden Lebensformen. Er spricht daher von einer  K r  i s e  d e r  V e r k ü n d i g u n g . Wohl haben die Theologen wieder das „Wort Gottes” entdeckt, aber es ist nicht das „Verbum nunc incarnatum”. Das „Wort” schwebt gleichsam zwischen Himmel und Erde, als hätte es vergessen, daß es nur wirksam wird, wenn es „Fleisch wird”.

LeerEs gibt aber keine hermeneutische oder homiletische Methode, welche das Wort wirksam werden ließe, wenn dasselbe sich nicht in Wahrheit verleiblicht. Es gibt keine Methode um die Predigt des Wortes wirksam zu machen. Es gibt nur einen  W e g , nämlich den Weg des Gehorsams und der immer völligeren Unterwerfung unter das Wort Gottes. Dabei ist sehr aufmerksam auf die  N ö t e  der Zeit zu achten, in der die Verkünder des Wortes leben. Inmitten all der saekularen Bewegungen, welche diesen Nöten begegnen, gilt es Werkzeug des Heiligen Geistes zu werden, der durch uns das „Wort” ausrichten will. Unser Denken und Reden, unser Lobpreis und unsere ganze Haltung, unser ganzes Dasein muß diesem Geist zu Gebote stehen. In der Bereitschaft zu solchem Gehorsam gilt es die Fülle geistiger, psychologischer und sozialer Wirklichkeit zu erfassen, nur so wird uns eines Tages offenbar, wie heute gepredigt werden soll.

LeerWenn wir behaupten, es genüge, schriftgemäß und textgebunden zu predigen, damit Kirche als wirkende Wirklichkeit in der Welt lebendig sei, so ist das einfach nicht wahr, es sei denn, man verstehe darunter die erleuchtete Erkenntnis der Weise, wie heute das Wort Fleisch werden will. Es ist uns bekannt, wie junge Pfarrer, welche von den Erneuerungsbewegungen unserer Tage erfaßt worden waren, sei es vom Neo-Calvinismus, sei es von der dialektischen Theologie, sei es von der Gruppe, und die ehrlich und treu besorgt waren, ihren Gemeinden das Wort der Wahrheit und des Lebens zu predigen, kaum 50 Zuhörer zu vereinigen ermochten, in Kirchen, die deren 500 fassen konnten; ihre Evangelisationsarbeit gewann nur seltene Seelen, und bescheiden blieben die Ansätze zu einem evangelischen „Laienapostolat”. So entfiel ihnen der Mut, und sie fuhren fort, „Kinder von Ungläubigen zu taufen, geistlich Gleichgültige zu trauen und Heiden zu beerdigen” ... Man darf somit nicht dem theologischen Ungenügen oder dem Liberalismus die Schuld an dem Mißerfolg der Verkündigung zumessen. Es gibt ein Problem der Gestalt, der „Incarnation”.

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LeerUnsere Zeit ist Übergangszeit. Eine große und schöne Epoche ist zu Ende. Sie begann mit der Renaissance und führte über die Reformation und die Aufklärung zur Revolution. Sie schuf den Individualismus und wollte die Rechte der Persönlichkeit wahren. Gewaltige soziale und politische Umwälzungen schufen eine neue Gesellschaft, die Wissenschaften erzeugten eine staunenswerte Technik. Die Kirche erlebte neben der weitgehenden Aufsplitterung auch eine Reinigung und Festigung ihrer Lehre und ihres Lebens. Der Mensch strebte nach Freiheit und Wohlstand. Es entstanden Individualismus und Kapitalismus.

LeerNun stehen wir allerwärts in der Krise. Wir sind des Individualismus und Kapitalismus überdrüssig geworden. Der Mensch will nicht nur als Einzelner Freiheit und Wohlstand erwerben. Es geht ein starker Zug zur Gemeinschaft und zum Opfer durch die Menschheit. Auch des Intellektualismus ist man müde geworden und sucht eine neue, fruchtbare, lebendige Geistigkeit. Gerade Frankreich leidet im Innersten an einem übersteigerten Intellektualismus. Immer neue, übrigens sehr gescheite Reformprogramme werden ausgearbeitet, zahlreiche „Comités” treten ins Leben, Organisationen aller Art. Sieht man näher zu, erschrickt man über die Leere, die einem entgegengähnt: man kam nicht über die Vorbereitungen hinaus; die Projekte veralten. Wir lieben die Theorien, die Abhandlung, die Programme. Es geschieht nichts. Nun will aber der heutige Mensch verwirklicht sehen, wovon gesprochen wird. Er hungert nach Inkarnation, nach echtem Zeichen, Symbol, Sakrament.

LeerD i e s e r  Situation muß die Verkündigung Rechnung tragen. Die Kirche kann es sich nicht leisten, allerwärts „Gemeinschaften” entstehen zu lassen und darob zu vergessen, daß  s i e  d i e  Gemeinschaft schlechthin  i s t . Sie kann es sich nicht leisten, zu reden, zu katechetisieren, Vorträge halten zu lassen, ohne im Konkreten und Sichtbaren das zu  l e b e n , von dem sie andauernd  s p r i c h t : das neue Leben, das in denen  r e a l  lebendig ist, welche mit Jesus Christus verbunden sind und den „Leib des Herrn” in der Welt darstellen. Sie kann es sich nicht leisten, angesichts  d i e s e s  Menschen, der unfähig ist zu erfassen, was nicht konkrete Wirklichkeit ist.

LeerWenn diese Töne merkwürdige Variationen zum Thema des Buches von Bischof Stählin „Bruderschaft” darstellen: Kirche ist Bruderschaft oder sie ist nicht, so ist doch eine Zwischenbemerkung hier am Platz. Wir können doch nicht ganz so unbeschwert von dem Hohen und Großen sprechen, das seit der Renaissance geschehen ist, sondern müßten mit größerem Nachdruck darauf verweisen, daß der abendländische Mensch in dieser Epoche mehr und mehr den platonischen und zugleich  b i b l i s c h e n  Geistbegriff verloren hat, daß Geist mehr und mehr „Intellekt”, Klugheit und nicht  d e r  Geist ist, der sich verleiblichen  m u ß . Es ist ein schlechter Ersatz, wenn dieser Intellekt sich dafür der Dinge  b e m ä c h t i g e n  will. Diesem Intellektualismus entspricht notwendigerweise der Materialismus.

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LeerEin anderes ist nicht minder wichtig. Der Intellekt kennt die „richtige” Wahrheit, er weiß immer weniger von verpflichtender Wahrheit. Er beherrscht die Sprache und die Dinge, er beutet hemmungslos die Schätze der Erde aus. Man beachte, wie die Gestalt der Erdoberfläche heute von der menschlichen Willkür her und nicht mehr durch die elementaren Mächte, nicht mehr kausal, sondern final verändert wird. Kehren wir nun aber zurück zu den Ausführungen Max Thurians!

LeerAus den bereits ausgeführten Überlegungen, besser aus den konkreten Tatsachen, denen er und seine Freunde sich gegenüber sahen, vernahmen sie den Ruf zur Bruderschaft. Was dem heutigen Menschen so überaus wichtig ist: Gemeinschaft und damit Freiheit für alle, Wohlstand für alle, neues Verhältnis zu den Dingen, den Gütern der Erde: das alles kann nicht organisatorisch verwirklicht, „gemacht” werden, aber es will als die Frucht des Wortes Gottes  w e r d e n . Gläubige Christen können es nur werden  l a s s e n .

LeerSo  w a g t e n  sie das Leben in der Gemeinschaft unter Verzicht auf Eigenbesitz, ja auf Ehe und im schlichten Gehorsam. So traten sie zur „Communauté Clunisienne” zusammen. Und so leben sie heute und tun ihr Werk. „Als die, welche mit der Kirche unserer Tage leiden, dieser Kirche, die zwar Volkskirche sein will, der wahren Gemeinschaft aber entbehrt, die viel zu viel redet im Verhältnis zu dem, was sie verwirklicht, und in der Welt, welche nach Gemeinschaft hungert und nach konkreten Wirklichkeiten, haben wir unsere Berufung empfangen.”

LeerZwar könnte an die Stelle der Volkskirche die Bekenntniskirche mit klar umschriebenem Bekenntnis und strenger Zucht treten. Aber sie stünde in der Gefahr, zur Sekte zu werden. Richtiger erschien die andere Lösung, daß nämlich innerhalb der Kirche und innerhalb ihrer Gemeinden - ganz im Sinne Luthers - lebendige Zellen entstehen, von denen das Leben in die Umwelt ausstrahlt. Sie stehen allen Getauften offen und stellen gleichnishaft dar, was Kirche  i s t .

LeerDer Verfasser weist darauf hin, daß seit der Urkirche alles Leben sich in konzentrischen Kreisen aufbaute. So hat die Kirche auch heute die „dramatischen Zeichen” nötig, in denen sich darstellt, wie Kirche Gemeinschaft des Gebetes und der brüderlichen Liebe ist. Die Kirche ist erst dann in Wahrheit universal, wenn sich in ihr alle Gaben des Heiligen Geistes kundtun gemäß 1. Kor. 12. Heute ist das vornehmste aller prophetischen Zeichen die lebendige Bruderschaft.

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LeerMax Thurian legt Wert darauf zu betonen, daß seine Bruderschaft nichts außergewöhnliches darstellt, sondern in der biblischen und kirchengeschichtlichen Linie ihren Ort hat. Allerdings hat Luther und noch eindeutiger Calvin die mönchische Gemeinschaft abgelehnt, es war daher für diese vom Neo-Calvinismus geprägten Theologen eine Gewissensfrage, ob sie als Reformierte diesen Schritt wagen dürften. Auch sie hörten auf die Wittenberger Artikel, insonderheit Art. XV., und gewannen von daher die Zuversicht zu ihrem entscheidenden Schritt. Zuerst kam es zur Stiftung einer Art Tertiarier-Gemeinschaft. Sie trat ins Leben innerhalb einer Gruppe von Studenten der Universität Lausanne. Das war die „Grande Communauté”, welche alle zwei Monate zusamentrat zu Freizeiten und „Retreats”. 1942 bezog Roger Schütz ein der Gemeinschaft geschenktes Schloß in Burgund mit zwei anderen Brüdern. Der Krieg und die Invasion nötigte die kleine Schar in Genf eine Zuflucht zu suchen.

LeerHatte man sich bisher eher an das Vorbild der „Messieurs de Port-Royal”, der Jansenisten also (17. Jhdt.) gehalten, so wirkte nun das franziskanische Ideal der Bruderschaft immer stärker. Man wohnte nahe bei der alten Kathedrale, hielt geistliche Wochen und Tagungen und nahm sich der arbeitenden Massen an, die man in der biblischen Wahrheit unterwies. Im nahem Münster hielt man täglich Gottesdienst nach dem Vorbilde des anglikanischen Prayer-Book. Nach dem Kriege konnte das Haus in Burgund wieder bezogen werden, wo ein Kriegswaisenhaus entstand und nach dem alten Spruch Ora et labora körperliche und geistige Arbeit getan wurde. So wird hier inmitten in der Not der Zeit der Welt Kirche vorgelebt in ihrem geistlichen und liturgischen, brüderlichen und tätigen Leben, in Armut, Gehorsam, Bekenntnis. Im Leben der Gemeinschaft steht voran das gesammelte Hören auf das Wort des Herrn, Contemplation und Meditation, Selbstverleugnung. Dann aber wollen die Brüder Suchende aller Art teilnehmen lassen an ihren Übungen. In Taizé treffen sich die Liebhaber der Einen, Heiligen, Allgemeinen Kirche und erfahren im Gebet die Einheit des Leibes Christi. Es wird geistig gearbeitet in literarischer Arbeit, durch Vorträge, durch Predigt. Dazu gesellt sich Erziehungsarbeit an Waisen und Handarbeit in Küche, Garten und Feld.

LeerNach einem Noviziat (Probezeit) von wenigstens einem Jahr bindet sich der Bruder durch eine Verpflichtung; die Bruderschaft ist fortan seine Familie, sein Heim. Dieser Verzicht auf das eigene Wählen ist der Weg, auf dem er die Wahrheit des Evangeliums erfährt. Die apostolische Armut bedeutet Verzicht auf Eigenbesitz, öffnet aber die Tür zur Erfahrung der genügenden Fülle, die der Herr seiner Gemeinde schenkt. So ist auch die Ehelosigkeit nicht Zwang, sondern wird dem zugemutet, dem von dem Herrn die Gabe dazu verliehen wurde, und der durch seine eigene Ehelosigkeit dazu beiträgt, daß der Ehe wieder ihr Sinn und ihre Verheißung gegeben werde. Der Berufung zum Coelibat soll die Berufung zur Ehe entsprechen.

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LeerBrüderliche Liebe heißt, daß der Bruder für den Bruder „transparent” wird. D. h. nicht, daß er sich wegwirft, aber daß er sich öffnet. Die Beichte wird geschätzt und daher empfohlen, ja man spricht von einer wöchentlichen Beichte, welche dem Bruder die Wirklichkeit der Sünde bewußt machen soll, der er nur entgeht durch die Gnade des Herrn. Die Beichte wird vor einem Pfarrbruder abgelegt.

LeerDurch das Hören auf den Rat der Brüder und die Mahnung des „Superior” soll der Bruder sich im Gehorsam gegen Gott üben.

LeerDas Leben der Brüder, ihre Arbeit und ihr Gottesdienst ist geordnet. Der Tag beginnt mit dem Morgenlob um 3.30 Uhr! in der Kirche. Um 10 Uhr wird meditiert. Das Mittagessen wird schweigend eingenommen, doch übt man die Tischlektüre. Bis 2 Uhr ist Gelegenheit zum brüderlichen Gespräch, worauf die Arbeit wieder aufgenommen wird. Um 6 Uhr ist Abendmahlzeit, danach schließt das Abendgebet den Tag. An Sonntagen ist um 10.30 Uhr Messe (Service eucharistique).

LeerNoch gibt es keine endgültige Regel. Und das ist richtig: sie wird sich ergeben aus den Erfahrungen er nächsten Jahre. Immerhin kann gesagt werden, daß man sich vor allem an die Weisungen der Heiligen Schrift hält, ohne aber die Erfahrungen der Kirche zu übersehen. Wie man das vereinbaren will, läßt ein Wort Jacques Chevalier erkennen: „Nicht die von der Vergangenheit Besessenen, sondern die in der Tiefe Verwurzelten setzen die Tradition fort.”

LeerDaß sich eine derartige Gemeinschaft der Ökumene verpflichtet weiß, verwundert nicht. Sowohl die theologischen Studien wie die liturgischen Formen wie endlich das Gespräch mit Vertretern der verschiedensten christlichen Kirchen dienen diesem Ziel. Die Brüder wollen immer freier von Irrtum und Vorurteil und Unwissenheit werden, sie wollen treue Söhne der Reformation sein und nicht entwurzelte Propheten.

LeerWir wollen hier abbrechen.

LeerWir müßten uns doch wohl einmal in lebendige Verbindung mit dieser Bruderschaft setzen, welche wie das diese Übersicht zeigt, das reformierte Gegenstück zur Evangelischen Michaelsbruderschaft bildet. Ist sie nicht die Gestalt des Gemeinschaftslebens, welche den Reformierten in der Schweiz und in Holland, aber auch in Deutschland einen für sie gangbaren Weg weist? Zum mindesten dürfte die Tatsache, daß aus dem Neu-Calvinismus so etwas hervorwachsen konnte, dartun, daß wir in unserer Bruderschaft einen Weg beschritten haben, auf dem wir weder das Neue Testament und die Urkirche noch die Väter der Reformation verleugnen.

Evangelische Jahresbriefe 1950, S. 125-128

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-16
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