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„Dies sind die Heilgen zehn Gebot'..”
Teil 1
von Wilhelm Stählin

LeerWir geraten nicht in die Gefahr, die „heiligen zehn Gebote” umzudeuten oder zu mißbrauchen, wenn wir in dem Jahr, in welchem unsere Jahresbriefe sich den großen Fragen des öffentlichen und politischen Lebens zuwenden, die einzelnen Hefte jeweils mit einer Betrachtung dieser Gebote beginnen, wenn wir also, um es umgekehrt auszudrücken, diese Gebote in ihrer Bedeutung und Tragweite für die Fragen des öffentlichen Lebens zu erkennen suchen. Denn gerade indem wir das tun und die Gebote nicht nur als Norm des individuellen Verhaltens gebrauchen, geben wir der geschichtlichen Erkenntnis ihr gebührendes Recht, daß Mose - oder vielmehr Gott durch seinen „Knecht” Mose - diese Gebote als die Grundordnung des gemeinsamen, nationalen und politischen Lebens seinem Volk aus dem Weg aus der Knechtschaft in die Freiheit gegeben hat.

LeerDie biblische Erzählung, wonach Gott diese Gebote als das von Ihm selbst gestiftete unverbrüchliche Gesetz mit seinem Finger auf zwei steinerne Tafeln geschrieben habe, hat dazu verführt, innerhalb der zehn Gebote zwei „Tafeln” zu unterscheiden, von denen die erste die Pflichten gegen Gott, die zweite die Pflichten gegen den Mitmenschen enthielte. Demgemäß stehen dann, um diesen Unterschied anzudeuten, auf unzähligen Darstellungen auf der einen Tafel die Ziffern I - III, auf der anderen aber die Ziffern IV - X. Indes ist eine solche mechanische Zweiteilung geeignet, den unauflösbaren inneren Zusammenhang des ganzen Dekalogs zu verdunkeln, auf den Luther mit großem Recht hinweisen wollte, indem er die Auslegung aller Gebote, auch derer der „zweiten Tafel”, mit den Worten einleitete „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir. . . ” und dadurch jedes Gebot als einen notwendigen Ausfluß des ersten Gebotes verstehen lehrte. Es gilt im Leben der Völker das gleiche unerbittliche Gesetz wie im Leben der einzelnen Menschen, daß die von ihrem religiösen Grunde losgelöste Moral gleich einer von ihrem Wurzelboden losgerissenen Pflanze nur noch eine begrenzte Zeit lang erhalten werden kann, daß aber die „Ordnungen” unaufhaltsam verfallen, wenn die Verehrung Gottes verfallen ist und die „Götter” wieder ihren Herrschaftsanspruch über die Menschen geltend machen.

LeerIch entsinne mich sehr genau, daß wir als Kinder das erste Gebot für eine zwar feierliche, aber im Grunde überflüssige und unwesentliche Einleitungsformel hielten. Die monotheistische Verehrung des einen und allein wahren Gottes schien uns selbstverständlich zu sein, und die „Götzenbilder”, die wir als Anschauungsmaterial für jenes Heidentum, welches zu überwinden die Missionare auszogen, zu sehen bekamen, erweckten eher den Eindruck von etwas Komischem, Seltsamem und Unbegreiflichem, als daß man uns hätte einschärfen müssen, man dürfe solche Götzen nicht verehren und ihnen nicht dienen. Es bedurfte einer besonderen Anleitung (die Gott selber dann mit erschütternder Eindringlichkeit vollzog), um die Gefahr des Abfalls von dem wahren Gott zu den Göttern, jene Gefahr, die die ganze Geschichte des alten Israel durchzieht, in ihren modernen Gestalten wiederzuerkennen.

LeerDie Götter, zu denen das Volk des Alten Bundes sofort nach der Gesetzgebung selbst abfiel und denen es dann durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder zuneigte waren die personale Verkörperung der kosmischen Mächte, der erdhaften und animalischen Kräfte, Sonnen- und Sterngottheiten, Götter der Zeugungskraft und der Fruchtbarkeit. Um das goldene Bild des jungen Stiers zu tanzen, ist bequemer (selbst wenn man dabei seine Ohrringe hat opfern müssen), als einer sittlichen Ordnung unbedingten Gehorsam zu leisten. Nicht ohne ein tiefes Erschrecken erkennen wir den Baalskultus, den wir als junge Menschen „religionsgeschichtlich” zu verstehen suchten, wieder in der Verehrung aller chthonischen Mächte, in der Verherrlichung von „Blut und Boden”, in der Überschätzung oder Alleinschätzung der biologischen Werte, in der ganzen rein dem Diesseits und den materiellen Gütern zugewendeten Denkweise. Die eitle und fanatische Betonung der eigenen „Gottlosigkeit” ändert ja keineswegs etwas daran daß der eingeschworene Materialist als Priester ganz bestimmten Göttern dient, deren furchtbare Grausamkeit in den abschreckend häßlichen Götzenbildern weniger verhüllt ist als in der verführerischen Propaganda eines „wissenschaftlichen Materialismus”. Diese vollendete Diesseitigkeit, die betonte Ausschließlichkeit physischer und wirtschaftlicher Interessen ist darum eine schlechthin tödliche Gefahr, weil darin der Mensch aus seiner Gottesbeziehung gelöst und dadurch als Mensch zum Verschwinden gebracht wird. Der Ruf „Rettet den Menschen!” zielt, wenn er sich selbst in der Tiefe versteht, genau auf den Punkt, wo das Wort steht „Ich bin der Herr, dein Gott”, und wo dieses Wort gehört wird.

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LeerNoch schwerer freilich sind die falschen Götter zu erkennen m der Maske der großen und erhabenen „Ideen”, die sich gerade dessen rühmen, daß sie die Menschen über die Niederungen ihrer sinnlichen und grob-stofflichen Natur in die reinen (oder doch reineren) Höhen des Geistes erheben. Wir haben keinen Anlaß, uns dessen zu rühmen, daß wir selbstverständlich nicht mehr an Zeus oder Athena, Dionysos oder Aphrodite glauben, da wir ja doch um so williger jenen Göttern hörig werden, deren Namen auf „ismus” enden. Jene Zwistigkeiten, welche die Götter Homers auf Kosten ihrer Lieblinge ausfechten, sind wirklich ein harmloses Kinderspiel gegen die Gigantenkämpfe, in denen die weltbeherrschenden Ismen miteinander ringen und in ihrem Krieg die Menschheit zerfleischen. Die Herrschaft dieser Götter steht und fällt damit, daß in ihnen ein gedanklicher Überbau, eine Welt von Abstraktionen sich zwischen den Menschen und die wirkliche Welt schiebt, und auf dieser Flucht vor der Wirklichkeit kommt der Mensch um. Die Gebüsche, hinter denen sich Adam vor dem Anruf Gottes versteckt, sind nicht in Botanischen Gärten zu finden, sondern in den Systemen de (angeblichen) Weltanschauung. Die Neigung der meisten politischen Machthaber und Parteien, statt dem wirklichen Leben zu dienen, vielmehr Prinzipien durchzuführen, ist eine spezifische Form des Götzendienstes. Die Vertauschung der Wahrheit mit „Ideen” ist das innerste Prinzip der schlechten Politik, und das Verderben, das die Völker unter dem Bann dieser Ideologien bedroht, ist die notwendige Folge ihres Abfalls von dem einen und wahren Gott.

LeerDenn auch der Polytheismus, die Vielgötterei, ist aus den Lehrbüchern und Sammlungen der Religionsgeschichte in den Bereich des heutigen politischen Lebens ausgewandert. Die Verehrung der vielen Götter ist der Ausdruck der Tatsache, daß die Menschen nicht mehr imstande waren, die Mannigfaltigkeit und die inneren Widersprüche ihrer Welterfahrung in einer höheren Einheit zusammenzuschauen, und diese mangelnde Kraft der Zusammenschau, diese Diskontinuität hat uns Max Picard mit einem tiefen Recht als die eigentlich charakteristische Krankheit des heutigen Menschen beschrieben. Die Schizophrenie (Spaltung des geistigen Vermögens) ist jener Grenzfall, in dem sich die Zerspaltenheit des menschlichen Seins nicht mehr verbergen läßt. Der bürokratische Kampf der verschiedenen „Ressorts” ist die lächerliche, die widereinander stehenden (oder marschierenden!) Souveränitäten der nationalen Staaten sind die unheimlich zerstörerische Erscheinungsform des Polytheismus. Die von keiner übergeordneten Instanz, ja auch von keinem übergeordneten Rechtsgefüge, selbst von keiner übergeordneten Verantwortung begrenzte Selbstherrlichkeit jeder einzelnen staatlichen Macht ist die dämonische Karikatur der Volksgottheiten. Weil wir unmittelbar von der Gefahr bedroht sind, in diesem Kampf der vielen Götter zu Grunde zu gehen, darum ist „die Überwindung des Polytheismus als politisches Problem” (E. Peterson) bitter ernst zu nehmen. Der totale Staat, der keine Begrenzung seiner Macht über die Leiber und die Seelen duldet, ist die Gestalt des Gegengottes, der Aufstand gegen Gott und die radikale Zerstörung des Menschen, der Überbaal, der Moloch, in dessen glühendem Ofen die von Gott abgefallenen Menschen verbrennen.

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LeerAm ersten Gebot scheiden sich die Wege und die Irrwege der Politik.

LeerWer der Meinung wäre, der „Name Gottes”, dessen Heiligung uns im zweiten Gebot eingeschärft wird, habe mit dem Bereich des öffentlichen Lebens nichts zu tun, hätte offenbar noch nicht verstanden, was für eine Bewandtnis es mit dem Namen Gottes hat. Denn es handelt sich ja wahrhaftig nicht um eine an sich belanglose Reihe von Benennungen der Gottheit, die durch beliebige andere Vokabeln ersetzt werden könnten. Die Sprache ganz allgemein steht in einer geheimnisvollen Verbindung mit ihrem Bedeutungsgehalt, und indem wir von Gott reden, rühren wir an Seine Majestät selber. Nichts ist für die innere Gesundheit eines Volkes gefährlicher, als wenn sich seine Begriffe, seine Wörter, mit denen es das Heilige bezeichnet, von der Wirklichkeit loslösen, als eine „religiöse Vorstellungswelt” ohne Wirklichkeitsgehalt ein gespenstiges Eigendasein führen. Bald hören auch die zu leeren Begriffshülsen gewordenen. Wörter der heiligen Sprache auf, ehrwürdig zu sein; jeder freche Schmierfink jongliert mit ihnen auf dem großen Jahrmarkt des allgemeinen Geredes; „Fragbar ward alles, sagbar ward alles, Drusch auf leeres Stroh”. Die mit Andacht und Inbrunst vollzogene Liturgie, die aus eigenem Hören der Sache gespeiste Predigt ist eine letzte Zuflucht der tödlich bedrohten Sprache; hier wird noch wirklich das gemeint und ernst genommen, was die Worte besagen. (Wollte Gott, so stände es wirklich um unsere Liturgie und um unsere Predigt!) Nur von hier aus, wenn überhaupt, kann dem grauenhaften Verfall gewehrt werben, der sich in unserer Mitte und nicht ohne unsere Mitschuld an unserer Sprache vollzieht. Der eigentliche und gefährlichste Mißbrauch des göttlichen Namens ist die fast allenthalben herrschende Gewohnheit und Neigung, von Gott und von den Mysterien des Heils zu reden, wie man von irgendeinem Gegenstand redet, den man sehen, beobachten, analysieren und beurteilen kann. So wie eine bestimmte Art, in ehrfurchtsloser Sachlichkeit von den Geheimnissen des Geschlechtes zu reden, das Leben in der Tiefe bedroht, und wie mit der Verletzung der Scham zugleich das Leben selbst verletzt wird, so raubt jene Art der auf der Zuschauertribüne des Lebens geführten religiösen Diskussionen den Heiligtümern ihre Heiligkeit. So wie man eine tödliche Bedrohung unseres Gemeinschaftslebens darin entdecken muß, daß wir viel zu viel übereinander, viel zu wenig miteinander reden, so zerstören wir das Gottesverhältnis des Menschen und damit den Menschen selber in der Mitte seiner Existenz, wenn wir ihm erlauben, über Gott zu reden, ohne mit Ihm zu reden über alles und jedes mitzureden, ohne irgendwo und irgendwann still andächtig, demütig zu werden und zu beten. Mit der Entartung der Sprache, die nur in Verehrung, Liebe und Hingabe wahrhaft erfüllt werden kann, ist abet das gesamte geistige Leben, die gesamte Kultur von dieser gespenstigen Sinnentleerung bedroht, und es gelingt kaum mehr den stärksten Reizen, durch dieses „Wortgeräusch” (M. Picard) zur Wirklichkeit der Welt und zur Wirklichkeit des Herzens durchzustoßen.

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LeerDie biblische Schöpfungsgeschichte begründet das Gebot des wöchentlichen Feiertages mit der Erzählung, daß Gott selber nach dem Sechstagewerk der Schöpfung am siebenten Tag „geruht” habe. Wir meinen heute klar zu sehen, daß es sich insofern umgekehrt verhält, als die biblische Schöpfungsgeschichte den Bestand der 7-Tage- Woche und die Feiet des Sabbaths schon voraussetzt; aber sie gibt andererseits der Erkenntnis einen bildhaften Ausdruck, daß diese Ordnung einer siebentägigen Woche keine willkürliche (und darum grundsätzlich auch veränderliche) menschliche Satzung ist, vielmehr der Schöpfung selbst von dem Schöpfer eingestiftet ist. Wir überschätzen die Meßbarkeit der Zeit nach Tagen, Stunden, Sekunden und haben im gleichen „Maß” (!) den lebendigen Rhythmus der Tage und Jahre, der Tageszeiten und Jahreszeiten verloren. Das Gebot, den Feiertag zu heiligen, bedeutet zunächst und vor allem die Erinnerung an die rhythmischen Ordnungen überhaupt und die Warnung davor, den Rhythmus dem „Takt”, die lebendige Gliederung der Zeit dem Terminkalender und dem Raubbau an der unwiederholbaren Zeit zu opfern. Es bedarf nicht vieler Worte, um die eminente Bedeutung dieser Ordnung und die Tragweite ihrer (tatsächlichen!) Zerstörung für den Gesamtbereich des Lebens in unser Bewußtsein zu heben.

LeerDoch ist damit das Entscheidende über den Sinn des 3. Gebotes noch nicht gesagt. Denn es will ja nicht nur eine rhythmische Gliederung der Tage in der Ordnung der 7-Tage-Woche sichern, sondern es mutet uns zu, in regelmäßiger Wiederkehr einen Tag gleichsam aus dem Dienst unserer praktischen Zwecke zu entlassen und ihn „für Gott auszusparen”. Etwas Analoges für den Raum ist zwar nicht ausdrücklich geboten, aber es gilt für Zeit und Raum das gleiche Gesetz: Es muß an einem bestimmten Tag, an einem bestimmten -Ort sichtbar werden und Gestalt gewinnen, daß alle Tage Gott gehören, und daß Gott an jedem Ort gegenwärtig sein und regieren will. Einerlei, ob man dabei von „kultischer Aussonderung”, von Stellvertretung oder Repräsentation reden oder wie man diese innere Notwendigkeit sonst, bezeichnen will, jedenfalls enthüllt sich hier eine Ordnung, die nicht ungestraft mißachtet und übertreten wird. Seit bald zwei Jahrhunderten trägt die abendländische Menschheit (und bald nicht nur sie) den Giftstoff der Idee der Gleichheit in sich: Unaufhaltsam wird alles nivelliert und werden alle Unterschiede von der großen Ideenwalze eingeebnet. Wer aber behauptet, weil „ein Tag wie der andere sei”, darum habe es keinen Sinn, einen „Tag des Herrn” auszusondern aus der langen Reihe der Tage, der wird unentrinnbar alle Tage zu der gleichen Leere und Öde verdammen, weil der eine Tag fehlt, an dem sich das Leben erneuert und an dem uns in der grauen Vergänglichkeit immer wieder die Gnade eines neuen Anfangs gegönnt wird; der begreift nicht, daß wir deswegen keine Zeit haben, weil wir keine Zeit „übrig” haben für Gott. Und wer behauptet, weil Gott „überall sei” und im „Waldesdom” oder in dem Getriebe der Geschäftsstraßen ebenso gut gefunden werden könnte wie in einem heiligen Raum, darum habe es überhaupt keinen Sinn, ein „Haus Gottes” zu bauen; wir hätten nichts nötig als Versammlungsräume und sollten im übrigen das Geld des Kirchenbaus sparen für den viel dringenderen Bau von Wohnungen, der verkennt auch hier jenes Gesetz der stellvertretenden Aussonderung, und er begreift nicht, daß wir deswegen keinen Platz haben und in einer lebenzerstörenden Weise zusammengedrängt sind, weil wir keinen Raum ausgespart haben für Gott, und den heiligen Raum ebenso wie den heiligen Tag für uns selber geraubt haben.

LeerEs gibt keine Frage des öffentlichen Lebens, die nicht ihre tiefste Wurzel in dem Verhältnis des Menschen zu Gott hätte, darum auch umgekehrt kein Stück der biblischen Wahrheit und keines der Gebote, das nicht seine Konsequenzen hätte bis in die scheinbar nur „praktischen” Bereiche der Wirtschaft und der Politik hinein. Immer aber ist das Verhältnis zu Gott, die Absage an die Götter und die Verehrung des einen und allein wahren Gottes, der liebende Umgang mit den Heiligtümern und die Wahrung der gottgestifteten Ordnung der Zeit der Angelpunkt, von dem aus alles sich bewegt; um diese Angel dreht sich die Tür, die sich nach der Seite des Lebens und nach der Seite des Todes sich öffnet.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 1-5

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-22
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