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Fahrt nach Oberammergau
von Karl Bernhard Ritter

LeerWährend uns der schnelle Wagen aus den Toren Augsburgs nach Süden trägt und sich über die weiten, grün leuchtenden Stufen des Lechfelds den Alpenvorbergen nähert, wächst in uns die Erwartung des außerordentlichen, festlichen Tages, der uns bevorsteht. Schon die Lage Oberammergaus am Nordrand der Alpenkette ist für einen Festspielort ungewöhnlich geeignet. Geborgen in dem von hohen Felsen und glänzenden Almen umschlossenen Ammertal, ist es doch nach Schwaben, Bayern und Tirol hin durch natürliche Zugänge der Ferne geöffnet. Langsam und stetig ist der Ort mit seinem Spiel gewachsen, die angestammte bäuerlich-kernige Art treu bewahrend und doch in geistigem Zusammenhang mit einer größeren Umwelt, zunächst wohl durch die Benediktiner von Ettal, dann vornehmlich durch seine Kunstwerkstätten, deren Erzeugnisse immer mehr, zumal seit der Entdeckung der Passionsspiele durch Thomas Cook, den Gründer des englischen Reisebüros, den Markt der Welt finden. So ist Oberammergau eine geschlossene Dorfgemeinde von stilbildender Kraft geblieben, zur Zeit der Passionsspiele sich fast zu einer geistlichen Bruderschaft erhöhend. Zugleich ist der Ort eigentümlich weltförmig, seine Schnitzstuben arbeiten für die ganze Welt, durch die staatliche Kunstschule haben sie Anteil an den Gegenwartsströmungen der großen Kunst, seine Läden sind „auf der Höhe”, wie man es sonst nur in den großen Straßen der Städte findet, vor allem aber fühlen sich die Tausende und Abertausende von Gästen in einer ebenso freien wie herzlichen Atmosphäre aufgenommen von Menschen, die der ungewöhnlichen Aufgabe, die ständig wechselnde Menge der Festgäste zu beherbergen, voll und ganz gewachsen sind. So ist der erste Eindruck: das ist alles echt, gesund, menschlich wohltuend, von einem Niveau, das man nicht erwartet hat.

LeerMan kommt am Abend in Oberammergau an, erfährt, daß die Vorstellung am nächsten Morgen um 8.30 Uhr beginnt und nach einer Mittagspause um 14 Uhr bis zur Vesperstunde fortgesetzt wird. Vorher werden in der großen Barockkirche von 5 Uhr ab Messen gelesen, an Sonn- und Feiertagen sowie an den Hauptspieltagen das traditionelle Passionsamt. In der schönen evangelischen Kirche dicht am Festspielhaus wird der Spieltag durch eine kurze Bibelandacht eingeleitet, in der Mittagspause werden Passionschoräle, nach dem nachmittäglichen Spielschluß Osterchoräle gespielt. Der Tag schließt mit der Feier des Heiligen Abendmahls. Diese Begleitung der Passionsspiele durch gottesdienstliche Feiern stellt keine äußerliche Anfügung, keine Anpassung an kirchliche Wünsche dar, sondern entspricht durchaus dem Sendungsbewußtsein der die Spiele verantwortlich tragenden, führenden Gruppe der Gemeinde. Man empfindet dort die Wiederholung des Gelübdespiels durchaus als eine Verkündigungsaufgabe, und die Gefahr, baß dem -Ort durch bie lange Unterbrechung der Spiele - seit 1934 -, durch die Erschütterungen und umwälzenden Katastrophen in den seither hinter uns liegenden Jahren die innere Kontinuität der geistlichen Verpflichtung verloren gehen könnte, ist wohl, vor allem durch den Einfluß der überragenden Persönlichkeit des Spielleiters Johann Georg Lang, gebannt worden. Ihm ist es auch zu danken, daß das Bühnenhaus mit allem Zubehör, den Kulissen und Kostümen, eine einwandfreie Gestaltung gefunden hat. Aber damit ist die Leistung dieses Mannes nur sehr unzulänglich angedeutet. Man mache sich klar, was es bedeutet, eine Laienspielschar von 1600 Mitgliedern auf unendlichen Proben zu einer geschlossenen künstlerischen, innerlich erfüllten Leistung zusammenzuschweißen und die Hingabefähigkeit, die Spielfreudigkeit nicht nur bei den Hauptdarstellern, sondern auch im Chor, im Orchester, in der Volksmenge und hinter den Kulissen zu erhalten. Das alles übersteigt freilich auch bei weitem die Möglichkeiten eines Einzelnen und ist nur verständlich als Gemeinschaftsleistung einer Gemeinde, in der seit vielen Generationen für jeden einzelnen die Spielaufgabe den Lebenssinn, die Lebensfreude und die Quelle der Kraft bedeutet. Nur so wird die erstaunliche Tatsache glaubhaft, daß in diesem kleinen Ort Oberammergau immer wieder die erforderlichen Kräfte für die Fülle der Spielaufgaben aufwachsen und für die Hauptrollen hervorragende, charaktervolle Gestalten nicht fehlen.

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LeerAlles in allem kann man nur urteilen: diese Passionsspiele sind eine große, eine erstaunliche, von echter Begeisterung und Frömmigkeit getragene Anstrengung, bei der alles, aber auch alles geschehen ist, um äußerlich und innerlich der gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Um so schwerer fällt es mir, nun aussprechen zu müssen, daß nach meinem unabweislichen Eindruck das Ziel der Passionsspiele nicht erreicht wird, daß diese gewaltige Anstrengung zuletzt ins Leere geht. Ich habe mich wieder und wieder gefragt, warum die Stunden, die ich unter den Tausenden in der gewaltigen Halle des Festspielhauses saß, hörte und schaute, je länger je mehr zur seelischen Qual wurden. Lag es an dem Verhalten der Zuschauer, die eben doch auch Masse sind, leicht bis zu Tränen gerührt, aber bei aller Rührung neugierig, so daß, wenn das Kreuz mit dem Leib des Herrn hoch aufgerichtet wird, sofort Hunderte von Ferngläsern hochgehen? Damit ist schon an die entscheidende Frage gerührt: ist es erträglich, daß das heilige Opfer Christi, das innerste Mysterium der Menschheitsgeschichte, zum Schauspiel auf einer Bühne wird? Als sich der Vorhang über dem letzten Bild, dem erhöhten Herrn in der Mitte der Engel und Heiligen, schloß, ging ein, freilich bald verschämt abklingendes Beifallsklatschen durch die Menge. Wem klatschte man da eigentlich Beifall, dem Bühnenbildner und Regisseur für seine gelungene ästhetische Leistung oder dem Herrgott für seine Wunder? Aber der Hinweis auf das Verhalten der Menge wäre doch nicht ausreichend, um den tiefen Widerspruch zu erklären, zu dem mich dieses Spiel zwingt. Es gibt auch in gottesdienstlichen Versammlungen ein Versagen der Menge, ein dem Ort und der Sache gänzlich unangemessenes Verhalten. Hier aber ist die Masse zuletzt doch unschuldig, weil ihr Absinken in die bloße Zuschauerhaltung zutiefst begründet ist durch die Art, wie diese Spiele die Passion Christi zum Schauspiel, zu einer Historie machen, die man aus die Bretter einer Bühne bringen kann.

LeerEs ist hier nicht der Ort, nachzuweisen, daß diese Art der Oberammergauer Passion begründet ist in der Zeit ihrer Entstehung und in den Einflüssen, die in den letzten Jahrhunderten das bäuerliche geistliche Spiel immer weiter von dem mittelalterlichen Mysterienspiel mit seiner Verwurzelung in der Liturgie der Kirche entfernen mußten. Ein Vergleich von Oberammergau mit dem Paradeisspiel oder dem Christgeburtsspiel der Oberuferer Bauern, die die ursprüngliche liturgische Form durch alle Jahrhunderte streng und unverändert festgehalten haben, zeigt, daß es sich da wirklich um zwei Welten handelt. Vielleicht wird deutlich, was ich mit diesem Hinweis meine, wenn ich davon berichte, daß die Gemeinde Oberammergau zu diesem Festspieljahr eine sehr ansehnliche Sammlung von Kunstwerken aus allen Jahrhunderten, die sich mit der Passion Christi auseinandersetzen, hauptsächlich aus Kirchen, Klöstern und Museen Bayerns zusammengebracht hat. In dieser Sammlung versank eigentlich alles andere vor dem schlechthin überwältigenden Eindruck des „großen Gottes von Altendorf”, eines mächtigen, romanischen Kruzifixus, der mit einer einzigen Gebärde mehr aussagt über das Geheimnis des göttlichen Leidens als all die Schilderungen der Altäre aus der Renaissance-, Barock- und Rokokozeit, die das Mysterium in ein bloßes Diesseits herunter holen. In diesem „Diesseits” bleibt eben auch das Passionsspiel, was am deutlichsten wird überall dort, wo das Wunder eintritt. Dieser Engel in Gethsemane ist eben kein Engel, sondern ein Oberammergauer Mädchen in langem weißem Kleid, und die Osterszenen sind eine einzige, peinliche Verlegenheit. Und dann erinnert man sich daran, mit welcher Sicherheit, mit welcher schlechthin überwältigenden Selbstverständlichkeit Gottvater selbst im Oberuferer Paradeisspiel auftreten darf, weil das Spiel in der liturgischen Form die Kraft, besitzt, alle Gestalten zu transzendieren, sie durchsichtig zu machen für die Dimensionen der Überwelt. Es ist eben doch kein „Zufall”, sondern tiefe Notwendigkeit, daß die Kirche zum Gedächtnis des Opfers Christi, zu seiner Vergegenwärtigung, die Liturgie feiert. Sie ist zuletzt die einzige gemäße Form der „Wiederholung” des göttlichen Dramas.

LeerDie Entfernung, in die das Leiden Christi in diesem Passionsspiel gerückt wird, eine ästhetische und eine zeitliche Entfernung, wurde von mir zuweilen so stark empfunden, daß ich mir unwillkürlich als Gegenmittel etwa an Stelle der aus einer gotischen Tafel entsprungenen, höchst malerisch gekleideten Henkersknechte einen Haufen Geheimpolizisten mit Maschinenpistolen am Gürtel und Zigaretten rauchend auf die Bühne wünschte, um die versammelte Menge in heilsamem Erschrecken spüren zu lassen, daß dies alles eben nicht in einer Entfernung geschieht, die mir den Gebrauch des Opernglases gestattet, daß es vielmehr heute und jetzt und alle Tage mitten unter uns erschütternde Wirklichkeit ist. Schreibt es nicht Pascal in seinen Bekenntnissen nieder: „
Jesus Christ est en agonie jusquà la fln du siècle?” Sollte nicht alle Verkündigung eben dies überzeugend machen, und wird nicht immer da die Gefahr übergroß, die Wahrheit zu zerstören, sie aufzulösen, wo eine solche Vergegenwärtigung nicht gelingt?

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 36-38

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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