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Überwindung seelischer Krisen (Anm. 1)
von Walter Uhsadel

Wenn die Lage eines Menschen so aussichtslos geworden ist, daß er nirgends mehr einen Ausweg findet und nichts Förderliches mehr zu unternehmen weiß, kommt er an einen entscheidenden Punkt: nämlich einzusehen, daß er verloren ist, wenn er sich selber verloren gibt, daß sich aber eine ernste Selbstprüfung und Neuordnung seines Wesens jedenfalls als Hilfe erweisen kann, einen noch nicht sichtbaren Ausweg zu finden oder Neubeginn wahrzunehmen. Es kann ihm klar werden, daß er als ein Zerrissener und Fassungsloser, der er ist, bestimmt keinen Weg finden wird, möchte sich auch einer bieten. Er kann dagegen ahnen, daß er als ein Gesammelter, Geordneter und Gewandelter einen Lebensweg finden würde, wo er im Augenblick seiner Verstörtheit nichts sieht.

LeerDies eben ist die Lage der abendländischen Menschheit. Darum ist das heutige Fragen nach psychologischen Einsichten und Hilfen weit davon entfernt, Mode zu sein. Es ist eine bitterernste Sache, kein Zeitvertreib gelangweilter Müßiggänger, auch kein Mittel unreifer Menschen, sich wichtig zu machen. Das schließt nicht aus, daß in unserer Zeitlage allerlei Gaukler in Zeitschriften und Broschüren versuchen, aus der Seelennot ihrer Mitmenschen Gewinn zu ziehen. Wer sachlich prüft, wird sich dadurch nicht veranlaßt sehen, den Wert der Seelenkunde und Seelenheilkunde für unsere Zeit zu bezweifeln.

LeerAuf der Seite der Seelenkundigen aber setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß sie der Mitwirkung des Seelsorgers bedürfen; denn erst von der religiösen Sicht aus läßt sich die Lage des heutigen Menschen richtig erfassen. Daß Psychologen und Seelsorger in der Sorge um den Menschen miteinander zu reden gelernt haben, ist der Entwicklung der Psychologie zu verdanken. Von der Psychologie her ist die Brücke gebaut worden, und erst merkwürdig spät hat man sich entschlossen, von der anderen Seite her dem Brückenschlag zu begegnen. Ist die Brücke auch noch nicht für alle Auf- gaben tragfähig, so hat sie sich doch schon in mancher Hinsicht bewährt.

LeerEin wichtiger Schritt zu diesem Brückenbau war getan, als Wilhelm Dilthey erkannte, daß d e r  M e n s c h  n u r  a l s  g  e s c h i c h t l i c h e s  W e s e n  z u  v e r s t e h e n ist. Während die experimentelle Psychologie, naturwissenschaftlich orientiert, den Menschen wie ein Naturobjekt behandelte, das man zu einem bestimmten Zeitpunkt erfassen und zergliedern kann, sieht die geisteswissenschaftliche ihn in seiner G a n z h e i t , versteht ihn in seinem W e r d e n und beschreibt ihn in seiner I n d i v i d u a l i t ä t . Das will sagen, ein Mensch ist in seinem Wesen nur zu begreifen, wenn man sich darüber klar ist, daß er erstens mehr ist als die Summe seiner Lebensäußerungen (daß diese vielmehr aus einer verborgenen Einheit hervorgehen), daß zweitens sein ganzes Wesen das Ergebnis seiner Lebensgeschichte ist (in der viele Faktoren am Werke waren) und drittens jeder Mensch seine ganz persönliche Eigenart hat, die ihn von andern unterscheidet (aber auch seinen Platz unter ihnen bestimmt).

LeerSeit die Psychologie den Menschen so sah, war ein Austausch mit der Theologie möglich; denn jene Grundeinsichten der Seelenkunde entsprechen in überraschender Weise dem biblischen Menschenbilde: Der Mensch ist ein freies Wesen, dessen Lebensäußerungen mehr als eine Summe von zufälligen Regungen sind, vielmehr aus seinem freien Willen hervorgehen.

LeerDer Mensch ist dennoch gebunden, nämlich an die Ergebnisse seiner Willensentscheidungen, die seinen Lebenslauf bestimmen.

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LeerDer Mensch ist an jedem Zeitpunkt seines Lebens persönlich verantwortlich, und niemand kann ihm seine Verantwortung abnehmen.

LeerDaher ist er mehr als ein Tier. Er hat Freiheit. Aber er ist auch stärker bedroht als ein Tier, nämlich durch sich selbst. Und er ist der Welt anders eingeordnet als ein Tier, weil er Verantwortung trägt.

LeerDas also ist gemeint, wenn wir sagen, der Mensch sei nur als geschichtliches Wesen zu begreifen. Nicht nur, daß er in die Geschichte seiner engeren und weiteren Umgebung hineinverflochten ist, er hat seine eigene innere Lebensgeschichte, die aus persönlicher Freiheit hervorgeht, ihn im Guten und Bösen bestimmt und für die er verantwortlich ist, Gerät er in eine seelische Krise, so heißt das also nichts anderes, als daß er an seiner 'Vergangenheit leidet, und es ist zu fragen, wie er diese seine Vergangenheit überwinden kann. (Anm. 2)

LeerDie Antwort auf diese Frage versuchen wir aus einer Betrachtung des Gleichnisses vom V e r l o r e n e n  S o h n zu gewinnen. Der jüngere Sohn, von dem es handelt, steht in einem Mißverhältnis zu seinem Vater. Es wird nicht gesagt, worin dieses besteht Aber die Forderung des Sohnes und sein weiteres Handeln sind ausschlußreich genug: Er sucht Selbständigkeit gegenüber dem Vater. Offensichtlich also meint das Gleichnis, daß er in der Nähe des Vaters an gebrochenem Selbstbewußtsein leidet. Das Selbstbewußtsein aber nährt sich aus der Erinnerung. Es ist um so sicherer und gesünder, je klarer der Mensch sieht, was er kann, und somit sich kennt. Es wird jedoch verletzt und erkrankt, wenn die Erinnerung den Menschen seines Versagens und seiner Unzulänglichkeit eingedenk macht und ihm Grenzen zeigt, die er nicht bejahen will. (Anm. 3)

LeerDer Sohn sieht sich im Schatten des Vaters. Der väterliche Wille lastet wie eine ständige Kritik auf ihm. Darunter eben leidet sein Selbstbewußtsein und treibt ihn in die Krisis. Er sieht nicht mehr die Möglichkeit eines gedeihlichen Verhältnisses zum Vater. Das ist die Lage des Menschen unter Gott, wie sie in der Geschichte vom Sündenfall anschaulich wird. Das Selbstbewußtsein des Menschen verwandelt sich in sein krankhaftes Gegenspiel: die Ichhaftigkeit. Der Mensch will dem „Ich bin” Gottes selbstherrlich gegenübertreten.

LeerIm Gebetsleben des Christen äußert sich solch eine seelische Krisis als G e b e t s m ü d i g k e i t . Es erscheint ihm zwecklos zu beten. Sooft er es auch - von der Gewöhnung gedrängt - versucht, jeder Versuch reibt die Seele wund, bis er es schließlich aufgibt. Er tut alsdann das Gleiche, was vom Verlorenen Sohne gesagt wird, dessen Selbstbewußtsein unter dem übermächtigen Schatten des Vaters erkrankt ist. Er wirft seinen Schatten auf den Vater, er befördert ihn ins Schattenreich. Indem der Sohn das Erbe fordert, erklärt er den Vater für tot. Dann wendet er sich der Welt, dem Leben zu, in dem er seine Freiheit ungehemmt gebrauchen kann. Er will ein - Lebe-Mann werden. Dabei verschließt er sich unbewußt der Tatsache, daß er diese Freiheit ohne das Erbe des Vaters gar nicht hätte. Er schickt sich an, das, was der „getötete” Vater ihm „hinterlassen” hat, ohne Rücksicht auf ihn zu genießen. Vielleicht darf man diesen Sachverhalt auch so sehen: Er weicht dem Vater als g e i s t i g e r Macht aus, um sich der Mutter E r d e um so mehr zu vergewissern oder sich der Frau W e l t genießerisch in die Arme zu werfen. Unter diesem Gesichtswinkel kann uns die johanneische Warnung (1.Ioh.2,15) aufgehen: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. So jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters”.

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LeerDer Mensch löst sich also von Gott, dessen Liebe ihm zweifelhaft geworden ist. Der Umgang mit ihm, das Gebet, engt ihn ein. Er zieht es vor, sich unbekümmert dem Leben hinzugeben, in dem er sein Selbstbewußtsein frei entfalten zu können hofft. Was aber ist der Erfolg dieses Versuches, das Selbstbewußtsein wieder herzustellen? Ein restloser Abbau. Das Selbstbewußtsein, das der Sohn dem Vater gegenüber nicht zu behaupten vermochte, wird ihm von der Welt völlig zerschlagen. Der Versuch, „das Leben aus eigener Verantwortung und Freiheit zu gestalten”, scheitert kläglich. Die Wirklichkeit der Welt, der er sich so hoffnungsfroh hingab, hat sich als gefährlich erwiesen. Es bewahrheitet sich, was die warnende Stimme des Johannes meint, wenn er fortfährt: „Die Welt vergeht mit ihrer Lust” (1.Ioh. 2.17). Das Wort epithymia, das Johannes für Lust gebraucht, erinnert an Platos Bild der menschlichen Seele, das er im 9. Buch vom „Staat” (588) entwirft.

LeerEr unterscheidet darin eine unterste Seelenschicht, dargestellt durch ein vielköpfiges Ungeheuer, die Triebschicht, eine obere, versinnbildlicht durch einen Löwen, den thymos, den hochgemuten Lebenswillen, und eine höchste Schicht, die des Geistes durch einen Engel abgebildet. Bemächtigt sich das Ungeheuer der Tiefe des stolzen thymos, so wird der Engel von beiden ausgehungert, aber auch der Löwe gerät in Verfall und wird zum Affen.

LeerDies eben ist die Lage des Verlorenen Sohnes: Der Engel ist verkümmert, der Löwe, der so stolz auszog, das Leben zu gewinnen, ist zum Affen geworden, und der Affe sitzt bei den Schweinen. Das ist das Ende eines Lebemannes, wie denn auch der Volksmund einen Lebemann mit vollem Recht als einen Affen bezeichnet. Es sollte niemand meinen, daß er gegen eine solche Entwicklung gefeit sei. Man braucht an dieses Ende keineswegs nur im Nachtklub zu geraten. Man kann es auch im Hörsaal oder am Konferenztisch erreichen, ja selbst die ehrwürdigsten Stätten schützen davor nicht.

LeerPaulus faßt den gleichen Vorgang ins Auge, wenn er sagt: „Als wir unmündig waren, waren wir versklavt unter die Elementarmächte der Welt” (Gal.4 3). Unmündig ist der verantwortungslose Mensch, der sich selber Autorität sein will. Er wird ahnungslos zum Spielball der Elemente der Welt. Ohne den Geist des Vaters der das Chaos zur Schöpfung gestaltet, zerfällt jeder Lebensbereich in sinnlose Bruchstucke. Wie der Geist des Menschen Buchstaben (lateinisch „
elementa”) zu sinnvollen Wortgefügen zusammenfaßt, so ordnet und erhält der Geist Gottes die Schöpfung.

LeerDaher liegt aber auch im Zusammenbruch des selbstherrlichen Versuches, den der Sohn unternommen hat, eine Hoffnung; denn nun kann der Vater wieder sein Werk an ihm tun. Die Krisis hat ihren Höhepunkt erreicht und eröffnet den Weg zur Neuschöpfung. Der weitere Gang des Gleichnisses zeigt die B e d e u t u n g  d e s  G e b e t e s  f ü r  d e n  W e g  a u s  d e r  K r i s i sv.

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LeerAuf dem Höhepunkt der seelischen Krisis ergibt sich die Möglichkeit, die Vergangenheit zu überwinden. Als der Sohn noch im Vaterhause war, belastete ihn die Erinnerung an unbequeme Begegnungen mit dem Vater. Blickte er zurück, so sah er eine Reihe peinlicher Niederlagen. Darum wollte er selbständig werden, um als vermeintlich Mündiger sein Selbstbewußtsein gesunden zu sehen. Der Weg in die begehrte Freiheit aber legte ein neues Stück Vergangenheit hinter ihn. Je weiter er ging, desto gewichtiger wurde es und - belastete ihn. Aus dem Erleben der Vergangenheit wurde mehr und mehr das schmerzliche Bewußtsein der Vergänglichkeit. Das ganze Leben nahm die Gestalt eines fortschreitenden Verfallsprozesses an. Nun erscheint das einstige Leben im Vaterhause plötzlich begehrenswert, denn es hat Geborgenheit. Selbst in der Form des Tagelöhnerdaseins, also in noch viel stärkerer Beugung unter den Willen des Vaters, scheint es lohnend zu sein. Die äußerste Entsagung im Hause des Vaters erscheint als ein Geringes im Vergleich mit der Not einer zerstörerischen Vergangenheit.

LeerZwei Verhaltungsweisen stehen dem Menschen an diesem Punkte frei: die V e r s t o c k u n g, mit der er eigensinnig den Weg der Selbstvernichtung weitergeht, oder die B u ß e, die der Gebetsweg ist, der zu neuem Leben führt.

LeerNeues Leben entsteht nur aus dem Entschluß, V e r g a n g e n e s  v e r g a n g e n  s e i n  z u  l a s s e n . Es sei hier eingeschaltet, daß sich mir dieser Satz in der Seelsorge während der Jahre schmerzlicher Verluste vielfältig bewährt hat; denn er gilt selbstverständlich nicht nur von schuldhafter Vergangenheit, sondern ebenso von schicksalhafter Belastung, Trost in dem Leid um einen Menschen, den man verlor, findet man nur, wenn man sich entschließt, seine vergängliche Gestalt der Vergangenheit zu überlassen, in der sie unaufhaltsam entschwindet und verblaßt, aber seine innere Gestalt vor sich zu sehen; denn sie hat jenes Ziel erreicht, dem man selber noch entgegenschreitet. Darum wächst den der Zukunft Zugewandten neues Leben mit den Vollendeten zu, wie denn auch der Christ „auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi” lebt. Es war während des Krieges und ist noch heute die Not vieler Hinterbliebener, daß sie in einer dem Leben widerstrebenden Blickrichtung mit einem Erinnerungsbilde zu leben versuchen, das sich nicht festhalten läßt, und damit auf den inneren Reichtum einer echten Gemeinschaft mit den Entschlafenen verzichten, jener Gemeinschaft, die aus dem Glauben an die Auferstehung stammt. Ebenso geht es mit dem Verlust an Hab und Gut oder der Heimat. Wer zurückgewandt zu leben versucht, den Blick vom Verlorenen gebannt, findet keinen neuen Weg, Er gibt sich dem Vergangenen preis und wird unfähig, Neues zu bauen oder neue Heimat zu finden. Nur dem unbedingten Entschluß, das Dahinterliegende zwar als mein Leben, aber mein gewesenes zu bejahen, öffnet sich die Fülle neuen Lebens. Zu diesem Entschluß fordert das Wort der Bergpredigt auf: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen” (Matth.6,33). Schließlich aber gilt jener Grundsatz auch vom Gesamtverständnis unseres Lebens rind der Bewertung unserer eigenen Lebensleistung. Von den Pharisäern wird uns gesagt: „Sie haben ihren Lohn dahin” (Matth. 6,5). Auch sie leben nämlich mit rückwärts gewandtem Blick, indem sie ihre guten Werke betrachten, statt sie getan sein zu lassen und für den Ruf der kommenden Stunde anspruchslos offen zu sein. Der Volksmund weiß, daß das Ausruhen auf den Lorbeeren uns um das wahre Leben betrügt.

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LeerAber nehmen wir jenen Satz wieder auf: V e r g a n g e n e s  v e r g a n g e n  s e i n  z u  l a s s e n , ist die Möglichkeit, die dem Menschen gegeben ist. Zwar sieht er rückblickend sich festgelegt, seine Vergangenheit läßt sich nicht ändern, aber im Blick auf die Zukunft ist er dennoch frei, sofern er nur den Mut aufbringt, von seinem Menschentum Gebrauch zu machen und nicht gleich dem Tier nur Durchgangspunkt zeitlichen Geschehens zu sein. Was der Mensch immer noch kann, sagt uns das Gleichnis vom Verlorenen Sohn- umkehren, sich von der Vergangenheit abwenden, sich „aufmachen und zu seinem Vater gehen”.

LeerDazu gehört freilich Mut, - der Mut, auch den Zweifel dahinten zu lassen und das dem Zweifel Unwahrscheinliche zu wagen. Der Verlorene Sohn weiß nicht, ob er den Zugang zum Vater finden wird. Er hat auch nicht die geringste Möglichkeit, sich eine Aussicht auf Erfolg zu verschaffen. Sein Rückweg bleibt ein reines Wagnis. Seine Erinnerung zeigt ihm das Bild des Vaters bedrohlich genug. Dennoch geht er den Weg. Er unternimmt das Wagnis des Glaubens: d e n  W e g  d e r  B u ß e  z u  b e s c h r e i t e n.

LeerDer Anfang dieses Weges ist die R e u e , sein Ende die B e i c h t e . Nun aber ist es das Kennzeichen des heutigen Menschen, daß er die Reue nur noch als leere, geistlose Stimmung kennt. Seine falsche Reue hält ihn im qualvollen Blick auf eine verpfuschte Vergangenheit fest, sei es, daß er eine Schuld, einen politischen Irrtum oder auch nur einen falschen „Tip” beklagt. Die echte Reue aber steht vor Gott: „Vater, ich habe gesündigt... ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße”. Sie ist nicht bloße Stimmung, sondern enthält eine menschenwürdige Entscheidung. - Auch die Beichte ist entartet. Sie ist zu einer beschönigenden Selbstbespiegelung geworden, die in der gegenwärtigen Memoirenliteratur peinlich genug zu beobachten ist. Daher ist auch das Entsetzen des heutigen Durchschnittsprotestanten verständlich, wenn er erfährt, daß Luther die Ohrenbeichte keineswegs abgeschafft, sondern sich bemüht hat, sie von einer Fehlentwicklung zu befreien. Heute hätte er in der Kirche, die sich auf ihn beruft, genau die gleiche Aufgabe: vor einer verantwortungslosen „Selbstreinigung” zu warnen und den zur Verantwortung Bereiten zu zeigen, was es zu beichten gilt, nämlich nicht diesen oder jenen Defekt, sondern das Mißverhältnis „zum Vater”, das darin besteht, daß man „die Welt” mehr liebt als ihn. Die Liebe zur Welt ist eben jenes eigensinnige Festhalten am Vergangenen, an dem selbstgewählten Lebensplan, an vielfach enttäuschten Wunschbildern, oder die Unwilligkeit, einer schuldhaften Vergangenheit den Rücken zu kehren. S c h i c k s a l s v e r w e i g e r u n g  u n d  V e r a n t w o r t u n g s s c h e u sind der Inhalt der Beichte. Alles andere ist nur als Symptom zu nennen. Der Verlorene Sohn überwindet beide, indem er bekennt, daß er dem eigentlichen Lebenswert, der Sohnschaft, auswich, und seine Verantwortung dafür bejaht.

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LeerDie Bitte, mit der er das Wagnis des Glaubens abschließen will, wird nicht mehr ausgesprochen. Das Wagnis war nicht umsonst. In Erinnerung an jenen, von den Pharisäern gesagten Satz könnten wir sagen: E s  h a t  s i c h  g e l o h n t . Der Vater erweist sich ganz anders,. als er in der Erinnerung des Sohnes lebte. Er ist nicht tyrannische Gewalt, die das Selbstbewußtsein erdrückt. Seine echte Autorität stärkt es vielmehr. Wir wissen aus persönlicher Erfahrung gut, daß auch ein wirklicher Erzieher die Jugend nicht unterdrückt, weil er Sorge hätte, daß sie seine Autorität schmälert. Er sieht seine Aufgabe gerade darin, das Selbstbewußtsein junger Menschen ju heben, wie Jesus es mit den Verachteten, z. B. dem Zöllner Zachäus, macht (Luk. 19).

LeerDer Sohn kann sich nun sagen: Wenn diese Autorität mich anerkennt, wer will mich dann noch verwerfen? Wenn der Gefürchtete mich umarmt, wer kann mich dann noch in meine Vergangenheit zurückstoßen? Paulus meint das mit den Worten: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein... ?” (Röm. 8,31). Für uns gesprochen: Wenn es mir möglich gemacht wird, meine gesamte Vergangenheit samt Schicksal und Schuld positiv auszuwerten, wie sollte es sich dann nicht auf alle Fälle lohnen, noch Zukunft zu haben und zu leben? Das unmöglich Scheinende wird auf dem Weg des Glaubens möglich. Daher kann Paulus, der einstige Lästerer und Verfolger Christi, mit fröhlicher Gewißheit sagen: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen” (Röm.8,26). Das gilt also, was für Dinge die Vergangenheit auch bergen mag. Die Beichte ist der Gebetsweg, auf dem der Mensch lernt, seine Schuld und sein Schicksal unter der Gnade als positiven Faktor in seinem Leben zu erkennen und anzuerkennen. Sie werden ihm zur Stufe zu einem neuen Leben, weil mehr Freude ist über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

LeerAm Gegenbilde des daheimgebliebenen Sohnes wird das vollends klar. Er hat den Weg durch die Krisis nicht gemacht. Daher ist sein Verhältnis zum Vater unlebendig. Wie ganz anders würde er zum Vater stehen, wenn er das hinter sich hätte, was sein Bruder nun überwunden hat! Nicht, als ob wir ihm wünschen sollten, daß auch er den Weg der Sünde geht! Schiller und Hegel haben den philosophischen Versuch gemacht, den Sündenfall als Verwirklichung der Freiheit und Beginn der Menschheitsgeschichte zu preisen. Die heutige Psychologie bewahrt uns vor solchem Fehlschluß; denn sie steht klar, daß die Freiheit so gerade nicht verwirklicht wird (weswegen auch das Gespräch zwischen Psychologie und Theologie beginnt, fruchtbar zu werden). Wenn aber das Evangelium selbst sagt, daß mehr Freude über einen bußfertigen Sünder ist, so kann uns nicht verwehrt werden, diesem Gedanken ein wenig nachzuhängen. In das richtige Gleis kommt er erst dann, wenn wir bedenken, daß es die neunundneunzig Gerechten gar nicht gibt, da wir allzumal Sünder sind. Also ist auch der Daheimgebliebene nur äußerlich beim Vater geblieben, innerlich steht er in dem gleichen Mißverhältnis zum Vater wie sein Bruder. Er hat nicht die Liebe zum Vater, und sein nachträgliches Begehren, Feste zu feiern, zeigt nur zu gut, daß man auch in traditioneller Frömmigkeit, in köstlichen Gottesdiensten und mit Bekennerpathos - ein verhinderter Lebemann sein kann.

LeerNun aber wird einer wie der andere zum wahren Gottesdienste, dem sakramentalen Mahle väterlicher Liebe geladen, bei dem alles Einstige dahinten bleibt.

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LeerWerfen wir schließlich noch einen Blick auf die Sinnbilder des neuen Lebens. Gewand, Ring, Schuhe, Festmahl, Gesang und Reigen. Sie alle miteinander sind Zeichen, daß das neue Leben ein Geschenk der G n a d e ist. Auf keines besteht auch nur der geringste Anspruch. Die Gnade ist es, die den Beichtenden aus der Gewalt der zerstörenden Mächte rettet. Sie vollbringt seine E r l ö s u n g aus der Vergangenheit, die ihn bis an die Schwelle des Vaterhauses umklammert hielt und zurückzuzerren bereit war. Die Gnade gewährt ihm nun eine W i e d e r g e b u r t in die Sohnschaft hinein. Der Vater macht kein Abzahlungsgeschäft mit einem Tagelöhner. Seine Liebe weckt neues Leben. Und solche Liebe empfängt man a l l e i n  i m  G l a u b e n , kein gutes Werk vermag d a n e b e n zu stehen und den Anschein zu erwecken, als habe man das neue Leben vielleicht doch ein wenig verdient.

LeerAus dem Wagnis solchen Glaubens wird Glaubenserfahrung. Und sie wächst mit jedem Tage, an dem der Erlöste sein Werk mit dankbarer Hingabe tut. Der Mensch, der die Vergangenheit hinter sich gelassen hat, sieht sich in einem fortschreitenden Heilungsprozeß.

LeerGreifen wir noch einmal auf Platos Bild zurück, so können wir sagen: Der Engel ist erstarkt, der Löwe hat seine Würde wieder und das Ungetüm der Tiefe ist in Zucht genommen. Der ganze Mensch ist in das rechte Verhältnis zum Geist und damit zur Erde gerückt. Unter dem Geist des Vaters ist sein Geist und ist seine Seele gesundet. (Anm. 4) Der Vater ist nicht mehr Tyrann und darum sind Mutter Erde oder Frau Welt ihm nicht mehr die Verführerinnen, mit denen er das Erbe des Vaters vergeudet. Jetzt kann der Mensch viel tun: er kann positiv leben.

LeerFür den Christen heißt dies alles, daß seine Lebenskrisen sich unmittelbar in seinem Gebetsleben, seinem Umgang mit Gott spiegeln. Er wird in seinem Geistesleben unruhig. Er versucht, sich in erhebende Stimmung hineinzusteigern. Es kommt zum Gebetskrampf. Dem Krampf folgt die Ermüdung. Die Gebetsmüdigkeit führt zur Unwilligkeit und unter Umständen Unfähigkeit zu beten. In solch einer Verfassung mag Nikodemus zu Jesus gekommen sein, dem Jesus sagte: „Laß dich's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müßt von neuem geboren werden” (Ioh. 3,7). Da hilft kein Grämen und Verzagen. Man sollte sich dankbar vergegenwärtigen, daß es eine große Lebenshilfe ist, daß an dem Wege unseres geistlichen Lebens solche Warnungszeichen aufstehen. Man sollte Geduld mit sich selber haben, Abstand von sich suchen und seine innere Lage überprüfen. Vielleicht braucht man dazu einen Seelsorger. Und man sollte auch durch die dunkelsten Stunden das Vertrauen tragen, daß es sich lohnt, auf die Stunde zu harren, in der die Lippen gelöst werden und das Tor zum neuen Leben sich auftut.

LeerFür den Christen stellt sich die Überwindung seelischer Krisen als eine (muß es gesagt werden?) ganz sachliche, unsentimentale Nachfolge Christi dar, in der man sein Schicksal und seine Schuld bejaht und sein eigenes Kreuz ihm nachträgt; denn er ist der Weg des Verlorenen Sohnes, er ist die W a h r h e i t , die ihm aufgeht, und das L e b e n , das sich ihm mitteilt, weil Christus die Liebe des Vaters in Person ist. Kein Verlorener kommt zum Vater ohne ihn, mit ihm aber jeder, der ihm folgt.

Anmerkungen
1: Nach einem Anfang Mai 1950 in der Schweiz gehaltenen und in verschiedenen Hörerkreisen wiederholten Vortrage
2: In seinem jüngst erschienenen Buche „Der Mensch und seine Vergangenheit” kommt Gerhart Pfahler von der Umweltlehre Jacob von Uexkuells und der Tiefenpsychologie her zu ganz verwandten Ausführungen. Siehe Buchbesprechung im vorigen Heft.
3: Ich verdanke diese Gedanken über den Begriff des Selbstbewußtseins einem Vortrage von Prof. Bohnenkamp, Celle.
4: Ludwig Klages Auffassung vom „Geist als Widersacher der Seele” ist also nur möglich, wenn man vom „Geist des Vaters” nichts weiß.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 47-51

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-24
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