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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerFreunde sagen mir, ich dürfte in diesem „Brief” an der Frage der Aufrüstung nicht vorbeigehen. Aber was sollte dazu gesagt werden, was nicht hundertfach von berufeneren Männern schon gesagt worden wäre? Ist es nicht ehrlicher, bescheidener und sachgemäßer, zu schweigen, wenn doch das Dilemma entgegengesetzter Erwägungen auf seine Weise zu einem klaren und unantastbaren Entweder - Oder aufgelöst werden kann? Zwei Dinge allerdings sollten, wie ich meine, uns mit allen ihren Konsequenzen unablässig gegenwärtig sein: Es ist sicherlich eine Not, daß wir auf diese Frage keine eindeutige Antwort als die Antwort des christlichen Glaubens zu geben vermögen, und daß wir also, gewiß ohne Pathos und ohne Begeisterung, der Tatsache Rechnung tragen müssen, daß Männer, denen niemand wagt, ihre Verantwortung vor Gott abzusprechen, in dieser Frage auf Leben und Sterben verschiedene Antworten geben; das sollte uns sehr vorsichtig machen in unseren Urteilen, sehr bescheiden und sehr duldsam gegeneinander. Und das andere: Die Anziehungskraft, welche der Kommunismus für die Völker des asiatischen und afrikanischen Raumes hat, sollte uns davor warnen, diese geistig-politische Bewegung zu sehr mit dem russischen Imperialismus in eins zu sehen, welcher heute ihr wesentlicher Träger und Vollstrecker ist. Er ist viel- mehr der notwendige Ausdruck eines Zustandes der Menschheit, ein hitziges Fieber, in welchem die Krankheit des Menschen schlechthin in ein akutes Stadium getreten ist. Und weil wir alle mit unseren Völkern von dieser Krankheit angesteckt und ergriffen sind, hätte es keinen Sinn, vor einem Endstadium jenes Prozesses zu warnen, wenn man gleichzeitig den Prozeß selber harmlos gewähren läßt. Jeder militärische Schutz, wenn er möglich ist, ja jede militärische Überwindung, wenn sie möglich wäre (was niemand im Ernst für möglich hält), könnte doch der Menschheit nur eine Frist erkämpfen, in der sie noch einmal Raum hätte zur Umkehr und Wandlung. Wenn die Menschheit in dem fensterlosen Bunker der reinen Diesseitigkeit wohnen will, ohne die Erleuchtung durch das Licht der überirdischen und übervernünftigen Wahrheit, dann wird sie in diesem Bunker ersticken, einerlei, ob dieser Bunker Kommunismus oder irgendwie anders heißt. Wer so oder so von der Aufrüstung redet, ohne von dieser Frage zu reden, der redet an der eigentlichen Frage vorbei.

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LeerVor kurzem war ich eingeladen zur Eröffnung eines neuen Rundfunkhauses. Natürlich erwartete bei dieser Gelegenheit niemand von mir eine Rede. Aber auf dem Wege konnte ich doch die Frage in mir nicht unterdrücken, was ich wohl etwa zu sagen hätte, wenn ich, höchst unwahrscheinlicherweise, plötzlich dort eine Rede halten müßte. Ich meine, es wäre nicht gänzlich verkehrt gewesen, an jenem Ort, in der schönen Halle eines neuen Funkhauses, etwa dies zu sagen: Die Rundfunkgesellschaften stünden heute vor einer ähnlichen Aufgabe wie die Forscher und Techniker der Atomenergie; es sei ihnen eine großartige und wundersame Erfindung anvertraut, die sich aber bis jetzt fast nur als ein Werkzeug der schrecklichsten Bedrohung und Zerstörung des Menschen ausgewirkt hat. Denn niemand könne im Ernst bestreiten, daß der Rundfunk, wie er sich heute entwickelt hat, nicht durch menschliche Bosheit, sondern in einer tiefen Zwangsläufigkeit zwar nicht ausschließlich, aber doch in erschreckendem Maße zu einem Instrument der geistigen Zerspaltung und Zersetzung, der verantwortungslosen Unterhaltung und geistigen Vermassung geworden sei; ganz analog der Atomspaltung, nur daß hier der bedrohliche Charakter dieser Erfindung viel offener am Tage liege und zu dem großen Angsttraum der Menschheit geworden sei. Welche Aufgabe, die zerstörerische Kraft in eine Kraft der Hilfe und Lebensförderung zu verwandeln und eine so bewunderungswürdige Erfindung in den Dienst der bauenden und pflegenden statt der zerspaltenden und vernichtenden Kräfte zu stellen. Wobei - vielleicht - die Männer des Rundfunks noch in einer günstigeren und hoffnungsvolleren Lage seien als die Atomphysiker. Aber schließlich lasse sich diese Aufgabe gewiß nicht durch weitere technische Fortschritte lösen, sondern es sei doch in einer sehr unheimlichen Weise so, daß jede Erfindung in der Hand eines jeden Geschlechts zu einem Spiegelbild und Werkzeug dessen werde, was dieses Geschlecht in seinem eigenen Wesen sei, und so sei die Frage der Verwendung und Wirkung der Atomspaltung nicht mehr und nicht weniger als die Verwendung und Wirkung des Rundfunks eine Frage der Menschen selbst, ihrer Erziehung und Wandlung. - Es ist wahrscheinlich gut, daß ich keine Gelegenheit hatte, das zu sagen, weil es nicht festlich und nicht optimistisch genug geklungen hätte für eine solche Stunde. Aber wäre es deswegen falsch gewesen?

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LeerWenn ich, einer ausdrücklichen Bitte folgend, noch einmal ein Wort zu dem neuen Mariendogma der römischen Kirche zu sagen unternehme, so möchte ich damit freilich nicht so nebenbei in meinem „Brief” etwas beitragen zu den schwierigen und viel- schichtigen Fragen selbst, die damit angerührt werden. Sondern ich fühle mich nur gedrängt und verpflichtet, vor einer spezifisch protestantischen Reaktion auf dieses Dogma von der assumptio zu warnen. Schon kann man aus den Reihen evangelischer Christen Stimmen hören, die dieses Dogma in gewissem Sinn begrüßen, weil es als eine offenbare und unzweifelhafte Irrlehre dartue, daß jedes Gespräch mit römisch-katholischen Theologen aussichtslos und also jede Einbeziehung der römischen Kirche in die ökumenische Verantwortung ad absurdum geführt sei. Dies halte ich nun für eine grundverkehrte und verderbliche Reaktion. Solange wir uns zu der Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia und zu dem ökumenischen Sinn der Reformation bekennen, sind wir auch der römischen Kirche das ganze und unverfälschte Evangelium schuldig, und wenn wir überzeugt sind - und davon sind wir allerdings überzeugt -, daß jenes Dogma das Evangelium selbst bedroht und verbiegt, so müssen wir in unerbittlichem Gespräch mit unseren römischen Brüdern um das rechte Verständnis des Evangeliums ringen. Aber wir werden dieser ökumenischen Verantwortung dann sicher am wenigsten gerecht, wenn wir uns einfach distanzieren und bestimmte Fragen nicht sehen oder nicht ernst nehmen, die mit jenem Dogma falsch beantwortet werden. Es ist gut und heilsam, wenn unsere eigene Theologie in der Auseinandersetzung mit dem römischen Dogma genötigt wird, den Fragen einer wahrhaft evangelischen Marien-Verehrung in ihrer Bedeutung für die Gesamtgestalt christlicher Frömmigkeit gründlicher und umfassender nachzugehen als bisher. Mit einem bloßen Protest ist es hier so wenig wie sonst getan; nicht nur weil er dem an das Lehramt seiner Kirche gebundenen römisch-katholischen Christen keinen Eindruck macht, sondern, weil er geeignet ist, uns selber in der gleichen Selbstsicherheit und Unbußfertigkeit zu verhärten, die wir auf der anderen Seite bekämpfen. Wir stehen vor Fragen, auf die wir noch keine fertige Antwort haben.

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LeerDie Synode der Evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg hat auf ihrer Tagung im November v.J. u. a. einen Beschluß gefaßt, der über den Bereich unserer kleinen Kirche hinaus Beachtung verdient. Die Synode spricht ihre dankbare Freude darüber aus, daß in diesen Jahren überraschend viele Gotteshäuser der Oldenburgischen Kirche unter großer opferbereiter Anteilnahme der Gemeinden erneuert und in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt worden sind. Die Synode muß es aber „in diesem Augenblick beklagen, daß in früheren Jahrzehnten viele dem frommen Gebrauch gewidmete Kunstwerke vernachlässigt und vielfach aus mangelndem Verständnis für ihre Bedeutung dem gottesdienstlichen Gebrauch entfremdet worden sind und nur noch als Kunstwerke und geschichtliche Denkmäler in Museen aufbewahrt werden”. Die Synode schließt daran die Erwartung, daß die Staatsbehörden und die Leitungen der Museen die Kirche in ihrem Bemühen unterstützen werden, die aus den Kirchen stammenden Kunstwerke nach Möglichkeit ihrer Bestimmung als Ausdruck und Hilfe des Glaubens zurückzugeben. - Nie werde ich das Erschrecken vergessen, das über mich kam, als ich zum erstenmal - es war während des 1. Weltkrieges in Brüssel - ein Museum als eine gespenstische Leichenkammer empfand: Hier sind Stühle, auf denen niemand mehr sitzt, Tische, die zu keinem Mahl mehr gedeckt werden, Stuben und Säle, in denen niemand mehr wohnt, Portraits, die nicht mehr als die Ahnen auf festliche Versammlungen der Nachfahren herabschauen, Altäre, an denen nicht mehr gebetet wird, und Kruzifixe, vor denen niemand mehr kniet: Formen und Hüllen, aus denen das Leben entwichen ist, und die nun nur noch als Zeugen eines vergangenen Lebenstages konserviert werden. Ich bin nicht so ungebildet oder wissenschaftlich uninteressiert, daß ich nicht wüßte, welchen Pietätswert es hat, dem lebenden Geschlecht auch die Spuren und Zeugnisse einer vergangenen Menschheitsperiode vor Augen zu stellen, sofern das lebende Geschlecht daraus die Wurzeln seines eigenen Seins ehrfürchtig und dankbar zu erkennen vermag. (Denn das bloße historische Interesse an dem was früher einmal gewesen ist, ist kein echtes Interesse des lebendigen Menschen.) Nur allzu oft und allzu lange haben wir unsere Gotteshäuser selbst als Museen behandelt und haben Altäre und andere Heiligtümer es sich gefallen lassen müssen, als kunstgeschichtliche Denkmäler, mit Interesse, aber ohne fromme Ehrfurcht „besichtigt” zu werden. Wir können nur an unsere Brust schlagen und bekennen: mea culpa, mea maxima culpa. Aber wenn nun der Strom des Lebens in das verlassene Flußbett zurückkehrt, wenn das Leben, das heute gelebte Leben, sich mit jenem Erbe glaubwürdig verbinden will, wenn ein Schloß, das als Museum eingerichtet wird, von lebendigen Menschen als Wohnung begehrt und gebraucht wird, wenn Kirchengemeinden ihre Altäre, ihre Kruzifixe, ihre heiligen Bilder zurückrufen, um an den Altären ihrer Väter zu beten, um die Geheimnisse des Glaubens an den frommen Werken ihrer gläubigen Väter anzuschauen, dann hat niemand das Recht und die Vollmacht, das, was zum Leben erweckt werden soll, im Totenreich des Museums festzuhalten. Mumien sind gespenstische Zeugnisse eines vergangenen Lebens; wir wollen aber Leben, nicht Leichenkammern, in denen Mumien aufbewahrt werden. Auch für die Heiligtümer, die der Unverstand vergangener Jahrzehnte aus den Gotteshäusern verloren hat, gilt das Wort: Laß die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!

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LeerEs fällt mir auf, wie oft sich Dramatiker heute eines antiken Stoffes bedienen, um daran die Urfragen und -nöte des Menschen in ihrer heutigen Gestalt darzustellen. Ich greife, zufällig und willkürlich, zwei Beispiele heraus, die mich in der letzten Zeit beschäftigt haben: das Schauspiel „Trauer muß EIektra tragen” von dem Engländer -O'Neill und den preisgekrönten französischen Film „Orpheus” (von Cocteau). Die beiden Beispiele haben dieses gemein, daß die staunende Ehrfurcht vor einem dunklen und unabwendbaren, aber doch mit einem verborgenen wenn auch unbegreiflichen Sinn erfüllten Schicksal, dieser Grundzug der antiken Tragödie ebenso wie des antiken Mythos, offenbar dem heutigen Menschen nicht mehr als eine mögliche Haltung gegenüber dem Gesamtgeschehen und dem persönlichen Schicksal zu Gebote steht. Aber zugleich bezeichnen die beiden Spiele, Schauspiel und Film, die entgegengesetzten Pole, nach denen sich der ratlos gewordene Mensch hin bewegt, wenn Mast, Segel und Ruder einer gläubigen Ehrfurcht, eines ehrfürchtigen Glaubens zerbrochen sind. O'Neill häuft ähnlich wie die antike Sage in einem verfluchten Geschlecht die Schuld: Ehebruch, Haß und Mord; und die absolute Verzweiflung dieses unentrinnbaren Fluches wird weder durch die tragische Größe der Schuld noch durch die leiseste Regung der Reue, der Vergebung oder der Barmherzigkeit erhellt over auch nur gemildert: Es ist die Welt ohne Reue und darum auch ohne Liebe, ohne Gnade; Dämonen behaupten das Feld und überlassen uns jenem Grauen, von dem keine reinigende Kraft ausgeht. - Demgegenüber umspielt Cocteau mit allem technischen Raffinement des Films die Grenze des Todes und die Frage des antiken Mythos, ob die Liebe dem Tod seine Beute zu entreißen vermag. Aber hier ist nichts mehr ernst genommen, alles wird zum fragwürdigen nervenkitzelnden Spiel, bis hin zu dem seltsamen Einfall, den Tod vor ein Gericht zu stellen, das doch keine dem Tod überlegene Macht verkörpert. So werden Tod und Liebe zu einer rührenden Sentimentalität, die im Grunde unbeschreiblich langweilig ist, weil es sich gar nicht lohnt, diesen Tod zu überwinden, und diese Liebe gewiß nicht „stark ist wie der Tod”. Es ist eine grausige Verwandlung, die EIektra und Orpheus oder wie die antiken Gestalten sonst heißen mögen, in der Hand des Menschen erleiden, der keine andere Größe kennt als den Abgrund der Verzweiflung und des Nichts.

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LeerEinem Aufsatz in der „Zeit” (9. Dezember 1943) entnehme ich folgenden erstaunlichen Satz des Russen Konstantin Leontjew (1821-1892; „Arzt, Soldat, Gutsbesitzer, Schriftsteller, Mönch”): „Die Ursache für den Verfall der Staaten und Kulturen liegt in dem Streben der Menschen zur Gleichheit und zum allgemeinen Wohle.” „Die Idee des Wohles der gesamten Menschheit, die Religion des allgemeinen Nutzens ist die kälteste, die prosaischste und darüber hinaus unbegründetste aller Religionen.” Ist gegen solche Sätze irgend etwas Wesentliches gesagt, wenn man daraus aufmerksam macht, daß ihr Verfasser ein Kind des 19. Jahrhunderts gewesen sei? War er wirklich ein Kind jenes Jahrhunderts? Und wenn uns solche Sätze nur den einen sehr nötigen Dienst täten, daß wir anfangen, ernsthaft nachzudenken über die Dinge, die „man” für selbstverständlich hält... .

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LeerIn dem Augenblick, in dem ich diesen „Brief” abschließe, lese ich im ökumenischen Pressedienst, was der (römisch-katholische) Abbé Paul Couturier in Lyon in einem Flugblatt zu der „Gebets-Oktav” 1951 geschrieben hat; ich zitiere nur einige Sätze: „Daß unser Glaubensstreit nur zu oft vom Geist der Ironie, der Engherzigkeit und der Übertreibung unseren nicht katholischen christlichen Brüdern gegenüber erfüllt ist, und daß wir ihnen mit Unversöhnlichkeit und hartem Urteil begegnen, vergib uns, Herr!. . . Herr, wir bitten Dich, Du wollest vergeben alle Gewalttätigkeit, deren wir Katholiken im Verlauf unserer Geschichte unseren protestantischen Brüdern gegenüber schuldig geworden sind, alle von Ehrgeiz und Selbstzufriedenheit bestimmte Haltung und den Mangel an Verständnis, den wir im Laufe der Jahrhunderte unseren orthodoxen Brüdern gegenüber an den Tag gelegt haben, die bösen Beispiele unseres Verhaltens, die die Auswirkung der Gnade in den Seelen aller christlichen Mitbrüder aufgehalten, vermindert oder zerstört haben . . . Vereinige die getrennte Christenheit, auf daß der Dünkel Satans und seiner Helfershelfer gebrochen werde; vereinige die getrennte Christenheit um der größeren Herzensfreude Deines Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi, willen.” Wie werden wir darauf antworten, ohne uns zu versündigen?

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 73-78

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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