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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerVor einigen Monaten ist der holländische Theologe und Religionsphilosoph Gerhard van der Leeuw, Professor an der Universität Groningen, der im Frühjahr vorigen Jahres sein 60. Lebensjahr vollendet hatte, gestorben. Wir haben guten Grund, dieses Mannes und seiner Arbeit dankbar zu gedenken. Van der Leeuw ist ein Theologe von hohem Rang und selbständiger Prägung gewesen; er war der Wortführer einer kleinen, aber wachsenden Gruppe innerhalb der holländischen reformierten Theologie, welche die innere Verbindung der dogmatischen Fragestellung mit liturgischem Leben nicht nur theoretisch bejahte, sondern praktisch pflegte. Die liturgische Bewegung innerhalb der reformierten Kirche in den Niederlanden und deren-Organ Kerk en Eredienst hat von ihm als ihrem Führer und Meister die entscheidenden Anregungen empfangen; daß es seit vielen Jahren in Holland eine kirchliche -Ordnung der Bibellesung gibt, welche in ihrem Anschluß an das Kirchenjahr unserer „Lesung für das Jahr der Kirche” sehr verwandt ist, ist wesentlich das Verdienst von Professor van der Leeuw. Zwei Dinge aus seiner theologischen Arbeit sind für uns von besonderer Bedeutung. Da ist zunächst die (bei uns so sehr fehlende oder beargwöhnte) enge Verbindung der theologischen Arbeit mit einer umfassenden Allgemeinbildung und mit Fragen der kulturellen Gestaltung zu nennen. Die Liste der Veröffentlichungen, die in der zu seinem 60. Geburtstag erschienenen Festschrift enthalten ist, zeigt eine erstaunliche Breite und Weitschaft seiner Arbeit; es wäre bedenklich, wenn wir meinten, einen Humanismus, wie ihn v. d. Leeuw vertreten hat, und der sich selbst als entschieden christlich versteht, nur als eine Größe der Vergangenheit, und die theologische Enge und Einseitigkeit, die meint, darauf herunterschauen zu können, nur als eine Tugend ansehen zu können. - Das andere aber, vielleicht noch wichtigere, ist seine intensive Beschäftigung mit den verschiedenen Formen des menschlichen Denkens. In seiner Phänomenologie der Religion, in seinem Buch „L'homme primitif et la religion” stellt er mit Nachdruck das mythisch-symbolische Denken, das sich in Bildern bewegt und das sich kultisch verwirklicht, als das ‚ursprüngliche’ („primitive”) Denken dem „modernen”, wissenschaftlichen Denken gegenüber. Es ist kein Zufall, daß der verstorbene P. Odo Casel OSB in seiner Schrift „Glaube, Gnosis, Mysterium” weithin jene Gedanken des reformierten Theologen übernommen und sie als Hilfe zum Verständnis der altchristlichen Mysterientheologie gewertet hat. Wer an diesen Arbeiten von van der Leeuw vorbeigeht, läßt sich eine entscheidende Hilfe für die Durchleuchtung der mit dem Schlagwort „Entmythologisierung” aufgeworfenen Fragen, aber auch für das Gespräch mit der Anthroposophie entgehen. Wir hoffen sehr, daß es unserem Verlag gelingen wird, das Andenken des verstorbenen Gelehrten durch eine deutsche Ausgabe seines letzten Buches „Sakramentstheologie” zu ehren und damit zugleich seine Gedankenwelt für unsere Theologie fruchtbar zu machen.

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LeerWenn wir von Säkularisation reden, dann denken wir zunächst an jenen Prozeß im Beginn des 19. Jahrhunderts, durch welchen unzählige Besitztümer der Kirche, Klöster und andere kirchliche Gebäude, nicht nur in den Besitz des Staates übergingen, sondern auch ihrem bisherigen kirchlichen Gebrauch entzogen und irgendeiner „nützlicheren” Verwendung, als Finanzämter und als Irrenanstalten etwa, zugeführt wurden, Aber jene Entwicklung, welche damals von ungezählten Zeitgenossen als ein „Fortschritt”, als eine höchst vernünftige Maßnahme gegen die „tote Hand” begrüßt wurde, war nur die besonders sichtbare Erscheinungsform eines viel umfassenderen Prozesses, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Während bestimmte Einrichtungen, Lebensformen und Wörter im Raum der Kirche selbst immer blasser, leerer, bedeutungsloser werden und also in gewissem Sinn wirklich ein Besitz der „toten Hand” werden, tauchen die gleichen Lebensformen und Wörter in einem gänzlich außerkirchlichen, rein „weltlichen” Raum und Sinn wieder auf und gewinnen dort eine erstaunliche Macht. Daß der Nationalsozialismus seine Propheten und seine Priester, seine Kulthandlungen, seine Sakramente und seine Orden hatte, ist oft ausgesprochen und beschrieben worden. Aber dieses ist nicht eine Eigentümlichkeit oder eine besondere Weisheit des Nationalsozialismus gewesen, sondern es ist sehr tief im Wesen des totalen Staates begründet, daß er die religiösen Formen, Vokabeln und Einrichtungen an sich reißt, ihren Sinn ins Gegenteil verkehrt und sie in den Dienst einer radikalen Diesseitigkeit und eines ebenso radikalen politischen Machtwillens stellt Der Unfug der Entnazifizierung war nur als eine Art Inquisitionsverfahren im Dienst einer haßerfüllten politischen Weltanschauung zu begreifen (sofern es nicht einfach der Ausfluß eines politisch getarnten Brotneides war: „Jetzt wollen wir einmal dran kommen”). Aber auch die Generalbeichte oder Lebensbeichte, wie sie auf dem Boden der Kirche wenigstens vor der Aufnahme in eine streng gefügte Ordensgemeinschaft üblich war (und es wohl auch noch ist), feierte ihre Auserstehung zunächst in dem „Fragebogen” (nur mit dem Unterschied, daß ein wirkliches Beichtgespräch sehr viel mehr und sehr viel Wahreres zu Tage fördert als die 132 inquisitorischen Fragen, und daß die wirkliche Beichte durch die streng gewahrte Verschwiegenheit den Beichtenden schützt, während der Fragebogen die umgekehrte Tendenz hat, ihm, wenn es irgend möglich ist, zu schaden); aber die politische Ausfragerei von der die Aufnahme in bestimmte herrschende politische „Parteien” oder der Verbleib m ihnen abhängt, kommt dem Ideal einer erzwungenen Beichte, bei welcher nichts verborgen bleiben kann schon sehr viel näher. Hier tritt die politisch korrekte Gesinnung unverhüllt an die Stelle des Glaubens an die religiöse Wahrheit, und die radikale Diesseitigkeit fordert für sich alle jene das ganze Leben durchwaltende Autorität, welche nur je ein Kirchenstaat für seine jenseitigen Dogmen verlangt und ausgeübt hätte. Was ist jener grandiose Raubzug des Staates gegen den Gebäudebesitz der Kirchen gegen diese unheimliche Gewalttat, die für den omnipotenten Staat an sich reißt, was Gott und der Seele allein gehört! Und das Erschütterndste ist dies, daß die meisten Menschen dieses ungeheuren Frevels gar nicht inne werden, sondern schon so weit von aller religiösen Bindung (und der darin allein begründeten Freiheit) abgefallen sind, daß sie sich wie eine Herde blöder Tiere im Pferch dieser Ersatzreligion wohlfühlen. Gott hat sie „dahingegeben”.

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LeerIn den Schaufenstern unserer Buchhandlungen zieht das Buch des Amerikaners Henry Morton Robinson „Der Kardinal” ebenso durch seinen Titel wie durch seinen wirksamen Schutzumschlag die Aufmerksamkeit auf sich und wird wohl entsprechend viel gekauft und gelesen. Es scheint mir nützlich zu sein, ein offenes Wort über dieses Buch zu sagen.

LeerEs hat zweifellos große Schönheiten; der Verfasser verfügt über eine ausgebreitete Bildung auf verschiedenen Gebieten, und er hat Humor; so gibt sein Buch interessante Einblicke in amerikanisches Leben, in das äußere und innere Leben eines römisch-katholischen Priesters und in das Gefüge der römisch-katholischen Küche. Aber die Freude an all diesen Vorzügen wird gedämpft durch die gar nicht verhüllte, sondern offen zur Schau getragene Tendenz. Es ist natürlich und berechtigt, daß ein Amerikaner stolz ist auf die in seinem Lande schlummernden Möglichkeiten, und daß er den Wunsch hat, uns Europäern klar zu machen, wieviel unbeschwerter, praktischer und tüchtiger seine Landsleute alles machen. Aber wenn man die nationale Selbstverherrlichung allzu dick aufträgt (so als ob dort drüben alles nur lobenswert und nachahmenswert wäre), dann bewirkt solche Reklame eher das Gegenteil. Es ist ebenso selbstverständlich, daß ein gläubiger Katholik von der Vortrefflichkeit seiner römisch- katholischen Kirche überzeugt ist und den Wunsch hat, anderen etwas von dieser seiner Begeisterung mitzuteilen. Aber die Selbstbeweihrauchung der römisch-katholischen Kirche in diesem Buche überschreitet jedes erlaubte Maß. Der Held des Romans, Stephan Fermoyle, der Sohn eines Straßenbahnschaffners in Boston, der vom einfachen Kaplan zur Würde des Kardinals aufsteigt, zeugt von soviel Vortrefflichkeit sagt so viel lobenswerte und weise Dinge (über Wirtschaftsfragen, Seelsorge, Geburtenkontrolle, und was es sonst an Problemen geben mag), meistert alle Schwierigkeiten, und geht aus allen Versuchungen mit einer solchen überlegenen Sicherheit als siegreicher Held hervor, daß man umsonst nach jenen Flecken sucht, die das Gewebe des Stoffes erst als echtes beglaubigen würden. Es ist Sache der römisch-katholischen Kirche, wenn sie in Form eines Romans dafür Stimmung zu machen für gut hält, daß bei der nächsten Gelegenheit ein Amerikaner als Papst gewählt wird; aber wenn wir in Deutschland dieses Buch in die Hand nehmen, sollten wir wenigstens wissen, woran wir sind: Lohnt es sich wirklich, so viel Geld und Zeit daranzuwenden, um eine Propagandafigur des römischen Katholizismus in Amerika zu betrachten? Ich persönlich hatte bisher dem Verlag der Frankfurter Hefte einen besseren Geschmack und mehr Takt zugetraut.

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LeerIm Verlag unserer Jahresbriefe, dem Johannes Stauda-Verlag in Kassel, ist jetzt rechtzeitig zu Ostern unter dem Titel „Die Heilige Woche” die vollständige Ordnung für die Gottesdienste der Karwoche und die Feier der Osternacht erschienen. (Für die Einzelheiten vgl. die Anzeige an anderer Stelle!) Damit wird zum ersten Mal innerhalb der evangelischen Kirche eine vollständige Ordnung für die gottesdienstliche Begehung der heiligen Woche und für die Feier der Auferstehung in der frühen Morgenstunde des Osterfestes angeboten. Die allerwenigsten, wenn sie dieses Buch in der Hand halten und daraus singen und beten, können eine Vorstellung davon haben, welche nicht abreißende Kette von Versuchen, Überlegungen, Erfahrungen, Beratungen hinter fast jeder einzelnen Seite dieser Ordnungen steckt, die hier zunächst einmal in einer „vorläufig endgültigen” Gestalt vorgelegt werden. Mir steht etwas anderes noch lebendiger vor der Seele: alle die Orte, an denen wir, seit dem Jahre 1933 regelmäßig mit Ausnahme eines Kriegsjahres, diese Feiern gehalten haben, überall nur „Gäste und Fremdlinge” und doch mit einem wachsenden Heimatgefühl in dem unerhörten Reichtum dieser Tage und ihrer gottesdienstlichen Begehung: Bremke bei Göttingen war der Anfang, dann hatte uns mehrere Jahre hindurch die herrliche Michaels-Kirche in Schwäbisch-Hall aufgenommen, der Kreuzgang des Predigerseminars und die Thomä-Kirche in Soest, die Schloßkapelle in Bundorf, Kreuzkapelle und Universitätskirche in Marburg, eine mehr als bescheidene Hauskapelle in Münster, die Kapelle unseres Ordenshauses in Assenheim und die Dreifaltigkeitskirche in Oldenburg-Osternburg, und wo sonst in diesen 18 Jahren solche Feiern einen äußeren Rahmen gefunden haben mögen. Alle diese Versuche haben in diesen Jahren mehr die Verborgenheit kleiner Kreise als die Öffentlichkeit großer Gemeinden gesucht, um in der Stille zur rechten Gestalt reifen zu können. Nun gehen diese Ordnungen zum ersten Mal hinaus, so daß alle, die daran teilhaben wollen, diese Feiern begehen, und auch diejenigen, die keine Möglichkeit dazu haben, im Geist mitdenken, mitfeiern, mitbeten können. Es werden vielleicht auch in den kommenden Jahren nur wenige Orte und nur kleine Kreise sein, die die heilige Woche in der hier dargebotenen Fülle begehen; und es wird an Stimmen der Kritik nicht fehlen, die an dem oder jenem,. an einem Satz, einem Gebet, einer Gebärde Anstoß nehmen. Wenn ihr Kritiker fragt (wie ihr so oft gefragt habt): Habt ihr denn nichts Wichtigeres zu tun? Meint ihr dadurch den vielen Menschen am Rande einen neuen Zugang zu Christus zu eröffnen? Ist nicht eine „schlichte” Predigt besser als solche komplizierte Feiern, die mit reichen Zeremonien beladen sind? - wenn ihr das alles fragt, so werden wir gar keinen Versuch machen, euch zu widerlegen. Nein, wir „wollen” wirklich nichts, wir erhoffen uns keine großen „Wirkungen”; aber es muß einen Ort geben und eine Stunde im Jahr, wo das große Geheimnis des Todes und der Auferstehung alle Dämme verstandesmäßiger Überlegungen und pädagogischer Absicht überflutet und der Überschwang der Dankbarkeit und der Liebe gerne einmündet in die Formen, die unsere Väter geprägt haben. Gerne würden wir das, was uns in jahrelanger Übung als ein sonderliches Stück geistlicher Heimat ans Herz gewachsen ist, vor den Blicken und Reden derer bewahren, die alles immer besser wissen; aber es kann nicht anders sein, als daß alle Weitergabe immer zugleich eine gefährliche Preisgabe ist (wer griechisch kann, möge auf die Doppelfunktion des Wortes paradidonai 1. Kor. 11, 23 achten); aber sie ist zugleich eine Einladung an die, die nach solcher Begehung der heiligen Woche verlangen: So feiern wir diese Tage; wenn ihr wollt, nehmt daran teil.

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LeerWährend noch der Fastenbrief den ausführlichen Plan für alle Freizeiten enthielt, die wir im Laufe des Jahres in unserem Ordenshaus Assenheim veranstalten wollten, müssen wir nun einige Wochen später unseren Freunden mitteilen, daß es uns nicht möglich ist, diese Stätte unseres gemeinsamen Lebens weiterhin offenzuhalten, und daß damit auch unsere Freizeitenarbeit ihren örtlichen Mittelpunkt verloren hat. Die allgemeine Wirtschaftslage, unter der gerade die uns nahestehenden Kreise in einer besonderen Weife leiden, erlaubt es den Wenigsten, die Kosten der Reise zu einer solchen Freizeit aufzubringen. Mit der dadurch bedingten Abnahme der Besucherzahl unserer geistlichen Wochen verlor unser Haus die Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz. Unsere Freunde sollen aber wissen, daß dieser schmerzliche Entschluß keineswegs bedeutet, daß wir unsere Freizeitenarbeit aufgeben oder auch nur einschränken wollten. Im Gegenteil hoffen wir durch eine bewußte Dezentralisierung unserer Arbeit einer größeren Zahl von Freunden unserer Arbeit die Teilnahme an unseren geistlichen Wochen zu ermöglichen. Wer über unsere Pläne auf dem Laufenden gehalten werden will, wende sich an das Sekretariat des Berneuchener Dienstes, Hamburg 36, St. Anscharplatz 13, und wird von dort alle Nachrichten erhalten. Ich selbst freue mich, in der zweiten Augustwoche in Urspring bei Ulm wieder eine geistliche Woche halten zu können, diesmal über das Thema „Von den Tugenden des Christen”.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 111-115

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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