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„Dies sind die Heilgen zehn Gebot'..”
Teil 4
von Wilhelm Stählin

LeerDie Versuchung, die 10 Gebote als die unaufhebbaren ethischen Grundregeln des persönlichen Verhaltens aufzufassen, ist nirgends größer, dieser Versuchung nachzugeben zugleich nirgends gefährlicher als beim 6. Gebot. Damit soll gewiß nicht geleugnet oder vergessen werden, daß das Verhältnis zum anderen Geschlecht sich immer wieder als Prüfstein der persönlichen „Sittlichkeit” erweist, und nirgends so sehr und so oft wie „in puncto sexi” die Brüchigkeit des Charakters zu Tage tritt. Aber man wird dem tiefsten Sinn dieses Gebotes und der dadurch geschützten -Ordnung nicht gerecht, wenn man darin nur die Grenze sucht und findet, die hier der Freiheit oder Willkür des einzelnen Menschen gezogen ist. Vielmehr geht es um die Ordnung des menschlichen Miteinander schlechthin, und der dem 4. Gebot beigegebene Hinweis, daß von der Ordnung in dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern Bestand und Gesundheit des Volkes abhänge, gilt von dem rechten Verhältnis der Geschlechter mindestens im gleichen Maß.

LeerViele der heutigen Trau-Ordnungen haben ein Gebet übernommen, das in Luthers „Traubüchlein” (ursprünglich seinem kleinen Katechismus beigegeben) enthalten war, und das dort folgenden Wortlaut hat: „Herr Gott, der Du Mann und Weib geschaffen und zum Ehestand verordnet hast, dazu auch mit Frucht des Leibes gesegnet und das Sakrament Deines lieben Sohnes Jesu Christi und der Kirche, Seiner Braut, darin bezeichnet, wir bitten Deine grundlose Güte, Du wollest solches Dein Werk (lateinisch
opus), Ordnung und Segen nicht lassen verrücken noch verderben, sondern gnädiglich in uns bewahren...” Es fällt auf und ist oft als ein Mangel empfunden worden, daß in diesem Gebet gar nicht von der Liebesgemeinschaft dieser beiden Menschen oder von den Wegen die Rede ist, auf denen diese beiden zueinander geführt worden sind, sondern allein von einer göttlichen Ordnung, die ebenso dem Schöpfungswerk wie dem Erlösungsratschluß zugehört, und daß, hier jedenfalls, nicht um das Lebensglück dieser beiden Menschen, sondern um die Erhaltung und Wahrung dieser überpersönlichen Ordnung gebeten wird. Über den Bereich persönlicher Seelsorge und Lebenshilfe hinaus erfüllt die Kirche ein öffentliches Amt, indem sie diese ursprüngliche Ordnung selbst ins Licht stellt und also nicht nur das sittliche Urteil gegenüber der persönlichen und aktuellen Verletzung dieser Ordnung (also gegenüber dem Ehebruch im engeren und eigentlichen Sinn) schärft, sondern die Lebensbedeutung dieser Ordnung gegenüber allen Tendenzen verteidigt, die geeignet (und vielleicht gewillt) sind, diese Ordnung selbst in Frage zu stellen und aufzulösen.

LeerDie biblische Erzählung von der Erschaffung des Menschen kann nicht ohne Gewaltsamkeit so verstanden werden, als ob der Mensch ursprünglich zweigeschlechtlich, männlich und weiblich zugleich, .androgyn” gewesen sei und erst später sich zu der Verschiedenheit und dem Gegenüber der beiden Geschlechter entzweit habe. Vielmehr sieht die Bibel die Tatsache, daß der Mensch als Mann oder als Frau existiert, als eine jener Urgegebenheiten an, ohne welche wir uns die Kreatur Mensch nicht vorstellen können. Das heißt aber, daß der Mensch als solcher, nicht kraft irgendeiner sozialen Entwicklung, sondern kraft einer ursprünglichen Stiftung Gottes, in Beziehung zu dem anderen Menschen steht, dem er zugeordnet und von dem er doch gleichzeitig durch eine unüberbrückbare und nicht aufhebbare Verschiedenheit getrennt ist. Dieses dem Menschen von Anbeginn innewohnende Mit-einander und Zu-einander und Für-einander macht ihn zum Bilde Gottes, der in sich selber in der Verbindung zwischen dem Vater und dem Sohn „in der Einheit des Heiligen Geistes” die Bewegung der Liebe als Sein innerstes Wesen trägt. Die Verschiedenheit von Mann und Frau und der unendliche Drang, mit dem Mann und Frau einander begegnen und suchen, ist die allein ursprüngliche mit der Schöpfung gegebene Form dieses Menschseins, darin keiner noch so ehrwürdigen Gestalt des menschlichen Miteinander oder Gegeneinander vergleichbar. Diese polare Spannung der Geschlechter ist die nicht wegzudenkende Voraussetzung der Ehe.

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LeerSolches „Werk” und Ordnung Gottes wird also gebrochen durch jede Neigung, das Ich zu haben ohne das Du und das eigene Leben möglichst zu schützen und zu sichern gegen den Anspruch des auch-da-seienden Anderen; durch jeden Versuch also auch, das Menschsein nur vom Standort und Gesichtskreis des einen Geschlechts aus zu verstehen und dem anderen Geschlecht die volle Würde des Menschseins zu bestreiten (was ja in dem „Kampf der Geschlechter” in gröberer oder feinerer Weise unaufhörlich geschieht).

LeerNicht minder aber wird jenes „Werk und Ordnung Gottes” durch jede Gleichmacherei verderbt, die von dem trügerischen Ideal eines allgemeinen und undifferenzierten „Menschentums” aus mit anderen Unterschieden auch den Unterschied der Geschlechter, soviel es nur möglich ist, abschleifen und als unwesentlich hinstellen will. Wir alle wissen, wie sehr das in Kleidung und Lebensgewohnheiten, aber auch in Bildung und Beruf geschehen ist und geschieht, und die Ahnung läßt sich nicht unterdrücken, wie sehr dadurch in einer unheimlichen Tiefe, jenseits aller moralischen Fehltritte, die „Ehe” zerbrochen wird. Die Ehe ist das stärkste Bollwerk der Ungleichheit und der Gemeinschaft des Ungleichen in der menschlichen Gesellschaft; jede Verherrlichung der Gleichheit ist zugleich ein Angriff auf die Ehe, und es ist ernstlich zu prüfen, ob das nicht auch schon von der gesetzlichen Festlegung einer mechanisch verstandenen „Gleichberechtigung” von Mann und Frau gilt.

LeerDie besondere Stellung, die der Mensch inmitten der Kreaturen einnimmt, die ihm ebenso die Verflochtenheit in die materielle Wirklichkeit und das animalische Leben wie die unaufhebbare Beziehung auf Gott verleiht und auferlegt, jene Stellung „zwischen Tier und Engel”, die in dem aufrechten Gang ihr stärkstes körperliches Gleichnisbild hat, betrifft auch die Verbindung von Mann und Frau. Sie ist die einzige (darin völlig unvergleichbare) Form der Gemeinschaft zwischen Menschen, welche alle Bereiche des Menschseins von der körperlichen Triebhaftigkeit bis zu den tiefsten Geheimnissen des Ich und der Person umspannt. Weil es zum vollen und wahren Menschsein gehört, daß diese Bereiche nicht voneinander abgespalten und gegeneinander abgekapselt sind, und also das menschliche Leben sich nicht in voneinander ganz getrennten Sphären abspielt, darum ist die Gemeinschaft von Mann und Frau nur dann zur „Ehe” erfüllt, wenn die Vereinigung der „Leiber” (eben nicht nur der „Körper”) tief in das personhafte Sein und die Liebe von Person zu Person hineingenommen wird. Jede Abspaltung und Abwertung der geschlechtlichen Sphäre, als ob es sich hier um „rein naturhafte Vorgänge” handelte, die den Menschen in der Tiefe nicht „betreffen”, aber auch jede Flucht in den „reinen Geist”, der glaubt, sich über die Niederungen des Blutes und der Sinne erheben zu können, verläßt die Stelle, die dem Menschen zugewiesen ist, und verrät entweder den Himmel oder die Erde, und erst recht den Menschen zwischen Himmel und Erde. Jenes göttliche Werk und -Ordnung der Ehe, die unter uns „unverrückt” und unverletzt bewahrt werden soll, meint eben jene Körper, Seele und Geist umspannende Ganzheit in der personhaften Gemeinschaft von Mann und Frau; und jede Verherrlichung des sinnlichen Genusses ohne personhafte Liebe und nicht minder jede Übergeistigkeit, die sich schämt (oder geniert), ein Geschlechtswesen zu sein, ist ein Angriff auf die Ehe und damit auf die gottgewollte Urform der Beziehung von Mensch zu Mensch.

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LeerUm dieser den ganzen Menschen betreffenden Gemeinschaft willen bedeutet auch die Fortpflanzung im menschlichen Bereich trotz aller physiologischen Parallelen etwas anderes als im Bereich des Tieres oder gar der Pflanze. Es entspringt einem sehr liefen Wissen um diese Geheimnisse, daß in unserer Sprache für Geburt, Nahrungsaufnahme und Sterben bei Mensch und Tier verschiedene Worte gebraucht werden. Kein Tier kommt in einem Zustand so völliger Hilflosigkeit zur Welt wie das Menschenkind. Weil der Mensch auf personhafte Hingabe und Gemeinschaft angelegt ist, darum ist sein Kind in einer unvergleichbaren Weise auf Pflege und Fürsorge angewiesen und kann in vollem Sinn nur gedeihen und reifen in einem Lebensraum, der durch die liebende Verbundenheit von Vater und Mutter geschaffen und erfüllt ist. Darum kann in jenem Gebet, in dem um die Erhaltung der von Gott gewollten Ordnung gebeten wird, der Satz nicht fehlen, daß der Ehestand „mit Frucht des Leibes gesegnet” ist, und ebenso wenig hernach das göttliche Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch”; es ist nicht echte Schamhaftigkeit, sondern vielmehr das Symptom einer schon zerbrochenen Ordnung, wenn man sagt, es sei „peinlich”, in dem „feierlichen” Augenblick diese Worte zu sprechen. Ebenso wenig freilich kann dieses Wort nur als Aufforderung verstanden werden, die natürliche Fruchtbarkeit der Ehe nicht willkürlich zu unterbinden; sondern es schließt die ganze Verantwortung der Ehegatten für ihre Kinder ein, da ja diese Kinder nicht nur für ihr physisches Dasein, sondern erst recht für ihr Gedeihen und Reifen der Ehe der Eltern bedürfen. Wer diesen Zusammenhang zerbricht, wer grundsätzlich das Recht verkündigt, zu blühen, ohne fruchtbar zu werden, wer Kinder „in die Welt setzt” ohne den verantwortlichen Willen, sie in seiner eigenen personhaften Welt zu bergen, vollends, wer den Eltern nicht etwa nur die Verantwortung abnehmen, sondern das Recht bestreiten will, ihre Kinder zu erziehen, und den verruchten Gedanken einer kollektiven Erziehung der Kinder unter der Tyrannis einer befohlenen Weltanschauung propagiert, der ist ein grundsätzlicher Brecher der Ehe. Die einzelnen Ehebrüche sind dann nur Folgen und Symptome des allgemein geduldeten und öffentlich befohlenen Bruches der Ehe.

LeerIn jenem Gebet aus Luthers Traubüchlein, von dem unsere Erwägungen ausgingen, ist auch der Satz enthalten, daß Gott in der Ehe das „Sakrament” (das Geheimnis) unseres Herrn Jesu Christi und der Kirche, Seiner Braut, „bezeichnet” (das heißt: abgebildet) habe. Damit rührt Luther an jenes tiefste Geheimnis der Ehe, auf welches der Apostel im 5. Kapitel des Epheserbriefes hindeutet. Kein anderer „Stand”, keine andere Form menschlicher Beziehung, ist so sehr wie die Ehe darauf angelegt und dazu bestimmt, daß darin die in Christus erschienene Gottesliebe abgebildet und im menschlichen Bereich und in der Grenze menschlicher Möglichkeiten verwirklicht wird. Diese Liebe ist ihrem innersten Wesen nach nicht begehrende, sondern tragende, vergebende und erlösende Liebe. Das heißt ganz praktisch: In der Ehe wird es so offenbar wie sonst nirgends unter Menschen, daß man nicht wahrhaft und dauernd miteinander leben kann, ohne einander zu verzeihen und ohne also einander in einer höchst persönlichen Weise den Gottestrost der Vergebung zu gewähren. Es ist hier nicht der Ort, um die ganze Tiefe jenes Pauluswortes von dem Christusmysterium in der Ehe auszuschöpfen und dabei auch zu begründen, warum wir es nicht als einen zeitbedingten Mangel anzusehen vermögen, daß der Apostel die Rolle von Mann und Frau in diesem Geschehen in nicht umkehrbarer Einseitigkeit dargestellt hat. Aber dieses muß auch in unserem Zusammenhang gesagt werden, daß die Ehe also in einer besonderen und wiederum unvergleichbaren Weife nicht nur der Ordnung der Schöpfung, sondern auch der Ordnung der Erlösung zugehört, und daß die tragende und vergebende Liebe in einer wahren Ehe einer der kostbaren Punkte ist, wo Menschen im irdischen Bereich zugleich „den Anbruch der neuen Schöpfung erfahren und preisen” dürfen. Wer davon nicht reden will, der will nicht wirklich von der Ehe reden. Wer grundsätzlich das menschliche Miteinander auf Recht, Macht oder Tugend gründen will, wer meint, es durch Organisation auf die Dauer binden zu können, wer Schuld leugnet und Vergebung verschmäht oder verweigert, der greift die Ehe an und zerbricht sie in ihrer feinsten Struktur. Wer will hindern, daß die Ehen in Ehebrüchen zerbrechen, wenn die natürliche Liebe sich nicht wandeln kann oder nicht wandeln will in die vergebende Liebe um Christi willen?

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LeerEin Letztes muß noch gesagt werden. Dag Wort „Ehe” ist der letzte Rest, in dem uns im Deutschen der Stamm ewe (aevum, aion) erhalten geblieben ist, den wir im übrigen nur noch in der Adjektivform „ewig” (und dem davon abgeleiteten Abstraktum „Ewigkeit”) haben. Dieses Wort „Ehe” deutet also an, daß die so bezeichnete Verbindung eine ewe lang, das heißt in diesem Fall ein Menschenleben lang währt. Sie ist auf die Dauer angelegt und kann sich nur in der Bereitschaft und dem entschlossenen Willen zur Dauer erfüllen. Dieses ist nicht etwa nur in der Rücksicht auf die Kinder, sondern in dem eigensten Wesen dieser Gemeinschaft begründet. Denn nur die Dauer gibt jene Geborgenheit, deren nicht nur das Kind, sondern ebenso Mann und Frau bedürfen, und die Liebe, die vergeben kann, überwindet die entscheidende Versuchung dazu, die ewe der lebenslänglichen Ehe zu zerbrechen. Darum ist der Mensch, der von der allgemeinen Diskontinuität angesteckt ist, der Mensch der zusammenhangslosen Augenblicke und immer neuen Erlebnisse, unfähig zur Ehe, weil er unfähig und unlustig ist zur Dauer und zur Treue. Wer dazu beiträgt, den Menschen in lauter zusammenhangslose Eindrücke aufzuspalten, die wie die Bild- und Gesprächsfetzen eines Filmes an ihm vorbei- und durch ihn hindurchjagen, wer selbst nur von Augenblick zu Augenblick leben kann und will, der wirkt mit an der fortschreitenden Zerstörung des Menschen, weil er zugleich grundsätzlich die Ehe, die ewe eines heilen Menschenlebens, bricht. -

LeerEs ist gewiß auch nötig und hilfreich, zu den vielen ganz praktischen Nöten und Fragen der Ehe ein klärendes und verpflichtendes Wort zu sagen, wie es vor kurzem die schwedischen Bischöfe getan und dadurch ein leidenschaftliches Für und Wider im ganzen Land hervorgerufen haben. Aber ist es nicht ebenso nötig, das Bild der Ehe selbst in den Herzen aufzurichten? Ethische Medikamente können bedenklichen Symptomen entgegenwirken; aber sie können nicht das verdorbene Blut gesund machen. Daß Gebote übertreten werden, und daß Ehen zerbrechen, das hat es zu allen Zeiten gegeben, und es ist wahrscheinlich ein romantischer Irrtum, daß die Menschen früherer Zeiten sehr viel anständiger gelebt hätten. Aber wenn da kein Weg mehr ist, von dem man abirren kann, keine Ordnung, die man verletzen kann, kein gültiges Bild, das man zerstören kann, dann ist mit der Ehe das menschliche Miteinander, das in der Ehe seine Keimzelle und seine höchste Ausprägung zugleich findet, in der Tiefe bedroht. Wer dies erkannt hat, wird es nicht mehr für möglich halten, Ehebrüche zum beliebten Thema der Unterhaltung zu machen; aber es hat auch keinen Sinn, sich über Ehebrüche zu entrüsten, wenn man nicht erkennt, in welcher Tiefe die Ehe und damit das Leben selbst in seiner ehrwürdigsten Form zerbrochen wird.

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LeerDas Gebot „Du sollst nicht stehlen” würde aus dem Rahmen der großen und umfassenden Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens herausfallen, wenn es nichts anderes einschärfen wollte und keinen anderen Hintergrund hätte, als daß für jeden Einzelnen der formale Besitz des Anderen unantastbar ist. Aber was hier geschützt und mit dem Zaun der Unverletzlichkeit umgeben ist, ist nicht ein rechtlicher Besitzanspruch, sondern das Eigentum, das heißt das Stück der stofflichen und dinglichen Welt, das mit dem Leben eines Menschen als dessen „Eigenes” verbunden und verwachsen ist. Zu diesem „eigenen” Sein eines jeden von uns gehört nicht nur der physische Leib (von ihm kann man gerade nicht sagen, daß er uns „gehört”, weil er vielmehr die Form unseres eigenen Daseins ist), sondern auch der „erweiterte Leib” in der Kleidung (die ja in besonderem Sinn ein „Stück” von uns ist) und in dem Raum, den wir bewohnen, den Geräten unserer Arbeit und unseres Spiels (sofern wir „spielen” können). Die Lebendigkeit eines Menschen zeigt sich darin, daß er diesen seinen „Leib” und Lebensraum mit seinem eigenen Leben erfüllt und durchdringt und also auch die „toten” Dinge zu einem Teil und einer Erscheinungsform seines ganz persönlichen Lebens macht. Der Trieb, in diesem Sinne etwas zu eigen zu haben, ist allgemein menschlich, die Kraft, echtes „Eigentum” zu gestalten, der Aktionsradius des eigenen Seins in die Dingwelt hinein, ist außerordentlich verschieden. Dabei ist die formal-rechtliche Frage des Besitztitels nicht letztlich entscheidend; ein Raum, in dem ich zur Miete wohne, kann in höchst persönlicher Weise von mir und meinem Leben erfüllt und mir „.zugeeignet” sein, und es gibt einen juristisch nicht anzuzweifelnden toten Besitz, der von dem menschlichen Wesen des „Besitzers” gänzlich unberührt ist. Doch gewährt eben der formale Besitz das Recht und die Möglichkeit, den Dingen diesen Geschmack und Geruch des eigenen Seins zu verleihen, und darum ist andererseits der Wunsch nach „Eigentum” (in jenem ganz innerlichen Sinn) von dem Verlangen nach „Besitz” (in jenem formalen Sinn) nicht gänzlich zu lösen.

LeerWas aber heißt dann „stehlen”? Es kann, wie fast alle solche Vokabeln, in einem plumpen und in einem feineren Sinn verstanden werden. Das Stehlen in jenem groben Sinn soll nicht verharmlost werden. Die Angst vor dem Diebstahl schafft eine Atmosphäre des Mißtrauens und der feindseligen Abwehr; Schloß und Riegel (im weitesten, auch im übertragenen Sinn) sollen den Besitz vor dem Zugriff des Fremden schützen. Aber während der freie und wahrhaft gebildete Mensch immer so sehr in sich selber ruht, daß er auch seinen Besitz verlieren und fahren lassen kann, ohne sich selbst dabei zu verlieren, wird er doch in einem tieferen Sinn in seinem personhaften Sein getroffen, wenn der fremde Zugriff die feine und liebevoll gepflegte Verbindung der menschlichen Seele mit der Dingwelt zerreißt. Wir alle wissen von Menschen, die mit einer erstaunlichen Gelassenheit ihr Haus samt allem Besitz in Flammen aufgehen sahen, die aber in Tränen ausbrachen oder von ohnmächtigem Zorn übermannt wurden, wenn rohe Gewalt ihnen Dinge wegnahm, an denen kostbare Erinnerung haftete. Hier wurde mit dem „Eigentum” das Eigene und Eigenste verletzt, und kein Verlust äußerer „Habe” konnte so tief schmerzen wie die plötzliche Verengung und Verstümmelung des persönlichen Lebensraumes. Wer in der Roheit seines ungebildeten Herzens alle Dinge nur nach ihrem in Geld ausdrückbaren Werte mißt, hat einen heimlichen (und manchmal nicht einmal mehr heimlichen) Haß nicht sowohl gegen den Reichen, als vielmehr gegen den, der offenbar in einer für jenen ganz unbegreiflichen Weife ein ausgeweitetes, reicheres und schöneres Leben zu leben vermag. Und dieser Haß des Nicht-Habenden (der jedenfalls kein „Eigentum” hat) vergreift sich fortwährend, wenn nicht in der Tat, so doch in Gedanken, an dem Eigentum des anderen und damit zugleich an seinem persönlichen Sein.

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LeerDieser Angriff nimmt da seine gefährlichsten Formen an, wo die Masse der Menschen, die ihrem Wesen nach zwar Besitz, aber kein echtes Eigentum haben können (selbst wenn sie noch so viel Geld gewönnen), sich überhaupt dagegen auflehnt und es nach Kräften unmöglich macht, daß Menschen ein Stück Welt mit ihrem persönlichen Leben erfüllen und dieses ihr „Eigentum” vor dem neugierigen und neidischen Blick und dem frechen Anspruch des Anderen zu schützen versuchen. Hier wird ein verhängnisvoller Angriff auf die Ordnung des menschlichen Seins selbst geführt. Wer das Recht auf Eigentum in diesem ganz persönlichen Sinn bestreitet und antastet, ist seinsmäßig ein Dieb und Mörder; er zerstört, was ihm verschlossen ist, und vergreift sich an dem Leben, das von dem seinen in der Tiefe verschieden ist.

LeerDie Religion des Neides ist bemüht, ihre Diebesgesinnung mit sehr hochtönenden Worten von angeblich „sozialen” und politischen Idealen zu tarnen; und es gibt auch nicht wenige Christen, die von diesen hohen Worten getäuscht werden. Viele schöne Lebendigkeit, viel Schönheit und Anmut des Lebens wird auf dem Altar dieser falschen Götter geopfert.

LeerDas echte Eigentum, mit dem persönlichstes Leben zusammengehört, hat einen gefährlichen Feind, welcher der Religion des Neides immer neue Vorwände liefert: das ist der formale Besitz, der nicht vom Eigenen her und als das Eigene durchblutet ist. Es ist nicht möglich, mit dem 7. Gebot alle formalen Besitzansprüche und die Unverletzlichkeit aller bestehenden Besitzverhältnisse zu rechtfertigen. Das Märchen-Motiv, wonach einer so viel Ackerland gewinnen soll, als er an einem Tag umschreiten kann, ist ein sinnbildlicher Ausdruck für das, was gemeint ist: Nur das ist Eigentum, was ich als ein Stück meines eigenen Lebens zu verteidigen das Recht habe, was ich »och mit meinem eigenen Sein durchdringen kann. Der bloße Besitz, den Herz und Gedanken nicht mehr zu beleben und zu gestalten vermögen, wird für den Besitzenden zur Last und zur Fessel, an der die Bewegungs- und Gestaltungskraft der eigenen Seele lahm wird. Man kann nicht von Besitz und Eigentum reden, ohne der Angst zu gedenken, mit der Christus auf die ständige Gefahr hindeutete, daß der Besitz zum Mammon wird, von dem der Besitzende besessen wird; und der reiche Jüngling, der sich nicht entschließen konnte, seinen ganzen Besitz fahren zu lassen, gehört auch in den Umkreis dieses Gebotes.

LeerWenn das persönliche Sein, wie es uns vor allem in der Betrachtung des 6. Gebotes vor Augen trat, sich vollendet in der Liebe zum Anderen, dann ist die Gabe, das Geschenk, eine echte und edle Form des Eigentums. Es ist ganz mein Eigentum, ein Stück meiner selbst, erfüllt mit der Wärme meines liebenden Herzens, indem ich es hingebe an den Anderen. Darum ist die Gabe um so kostbarer, nicht je höher ihr Preis im Handel gewesen ist, sondern je mehr des Eigenen und Persönlichen darin von Einem zum Anderen geht, je vollkommener die Gabe ein Bote und Pfand der Liebe ist, weil ein Opfer des Eigenen damit gebracht worden ist.

LeerAn der Art, wie einer schenkt, wird sichtbar, ob er die Dinge, die ihm „gehören”, nur besitzt (um sie zu besitzen), oder ob er sich als der Herr seines Eigentums bewährt, indem er sein Eigenes zum Träger der Liebe und zum Bringer der Freude macht.

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LeerEs gibt einen noch weiteren Raum des persönlichen Lebens: nicht mehr „Dinge”, die man „hat”, kaufen oder auch schenken kann, sondern jene schwer greifbare und gänzlich unsichtbare Atmosphäre, die um einen Menschen her ist, sein guter Name, sein Ansehen (im guten oder im unguten), seine „Ehre” bei den anderen Menschen. (Denn es gibt auch eine Ehre, welche nicht „Ehre bei den Menschen” ist, eine Ehre bei Gott, welche niemand antasten kann als wir selber und unser Verkläger vor Gott; aber hier ist von der „Ehre bei den Menschen” die Rede.) Es ist ein dringendes öffentliches Interesse, daß die Ehre eines Menschen ebenso sehr vor fremdem Angriff und Zugriff geschützt bleibe, wie sein Eigentum oder seine Ehe. Aber wir haben manchmal Anlaß, uns verzweifelt zu fragen, ob nicht heute ein Einverständnis darüber bestehe, daß es erlaubt sei, die Ehre eines jeden Anderen ungestraft in den Staub und Schmutz zu treten. Es ist klar, daß auch dieses ein lebensgefährlicher Angriff auf den Menschen selbst und auf sein persönliches Sein ist. Es ist nur leichter und ungefährlicher, einem Menschen die Ehre abzuschneiden als ihm den Lebensfaden abzuschneiden. Die Wurzel ist die gleiche, nämlich die grundsätzliche Nicht-Achtung des fremden Lebens und Lebensraumes; und der Schritt von der Diffamierung bis zum politischen Mord ist nicht sehr groß.

LeerEs erweist sich als höchst schwierig, Beleidigung und Verleumdung strafrechtlich zu fassen (wenngleich in dieser Richtung gewiß etwas mehr geschehen könnte und geschehen müßte); denn man hat ja die feine Kunst gelernt, so zu lügen, daß es gerade noch nicht „gelogen” ist, und so zu beleidigen, daß es gerade noch keine „Beleidigung' ist, und das Gift der bösen Nachrede so geschickt zu verspritzen, daß man nachher nie sagen kann, wer es gewesen ist. Hier hilft nur strenge und unerbittliche Zucht, die jeder an sich selber und an seiner unmittelbaren Umgebung üben muß; hier hilft nur, daß es eine Anzahl anständiger Menschen gibt (sie sei klein oder groß), die dem Verleumder sofort widersprechen, den Gerüchtemacher zur Rechenschaft ziehen, der bösartigen und diffamierenden Polemik eine unbedingt saubere Art sachlicher Auseinandersetzung entgegenstellen. Es müßte zum unerbittlichen Grundsatz jener Anständigen werden, nicht anders über Abwesende zu reden, als man zu den Anwesenden sprechen könnte, und sich ritterlich schützend vor den wehrlos Angegriffenen zu stellen. Denn in allen bösen Worten, die dem Anderen seine Ehre rauben, wohnt ja etwas von jener feigen Hinterhältigkeit, die es niemals wagen würde, jenem Anderen ins Auge zu schauen und ihm ins Angesicht zu widerstehen. Wer hätte sich nicht anzuklagen, daß er anders über seine Feinde, selbst über seine Freunde redet, als er jemals zu ihnen und mit ihnen sprechen würde, ja daß er es vielleicht bewußt und willentlich unterläßt, mit jenem Anderen überhaupt zu reden, um desto ungehemmter über ihn reden zu können. (Das gilt schließlich nicht nur im persönlichen Bereich, bei Verwandten, Nachbarn, Mitarbeitern; es gilt im Verhältnis zu den politischen Gegnern, mit denen wir schließlich überhaupt nicht mehr reden können und wollen; es gilt auch für die Polemik der verschiedenen kirchlichen Gruppen und Kirchen widereinander, wo jedes ernsthafte Gespräch unerbittlich offenbart, wie bequem, aber auch wie verkehrt das meiste von dem ist, was die einen über die anderen reden.) Aber hier spiegelt sich ja nur im menschlichen Bereich der Fehler, den wir Gott gegenüber machen und dort noch mehr für unser selbstverständliches Recht halten: weil wir über Gott reden, statt mit Ihm zu reden, religiöse Fragen diskutieren, statt zu beten, darum mißhandeln wir auch Namen und Ehre des Mitmenschen, indem wir sie wie einen toten Gegenstand in nicht immer sauberen Händen hin und her wenden.

LeerDer Abstand, ohne den alles menschliche Miteinander zur Qual wird, weil jeder jedem „zu nahe tritt”, wird freilich nur gewahrt, solange jene schöne Scheu lebendig ist, die den persönlichen Lebensraum des anderen Menschen als solchen achtet; die Scheu, einzudringen in jene private Sphäre, die ebenso der Neugier und dem flüsternden Geschwätz wie den immer zudringlichen Reportern und Photographen entzogen und verschlossen bleiben müßte. Und ist nicht auch die Scheu ein Gebot und eine Frucht der Liebe, die dem Andern nichts Böses tut, und die das „fremde” Leben schützt wie das eigene? Allein die Liebe, die die Ausstrahlung und das Ebenbild der Gottesliebe ist, rettet und heilt das menschliche Miteinander; der Abfall von Gott gibt Leben, Ehe, Eigentum und Ehre dem bösen Willen des bösen Herzens preis. Es wäre töricht, diese Erkenntnis nur auf das sogenannte private Leben zu beziehen. Die Sünde, die Sünde der lieblosen Selbst-Sucht, ist nicht nur der „Leute”, sondern der Völker Verderben. Und es ist im Grunde doch nur die Furcht Gottes und die Liebe zu Ihm, welche das Leben des Menschen als Person, das physische Leben, die Ehe, das Eigentum, die Ehre mit einem Zaun der Unantastbarkeit umgibt; wenn dieser Zaun zerbricht, dann erstickt das lebens- und liebenswerte Leben in dem Sandhaufen der Masse, und das Leben wird zur Hölle.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 125-133

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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