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Gedanken zum Bilde des heutigen Menschen
von Hermann Jochmus

LeerDer Versuch einer Umschau und Überschau, welches Bild der Mensch und die Menschheit heute dem Betrachter bietet, fordert von diesem, keinen Augenblick zu vergessen, daß er selbst ein Glied der Menschheit ist, die er insgesamt und in ihren Einzelerscheinungen betrachtet, und daß deshalb alles auch von ihm selbst gilt, was er als Bild des heutigen Menschen gewinnt. Es muß dieser Versuch sich bei der Mannigfaltigkeit des Bildes zugleich Rechenschaft darüber ablegen, welche Züge wesentlich Überbleibsel von Vergehendem sind, welche das zeitliche Bild bestimmen und welche über der Zeit stehen, weil sie zum Urbild des Menschen gehören. Und er darf über allen den schrecklichen und grauenvollen Zügen des Bildes des heutigen Menschen nicht vergessen, daß alle diese Züge im Bilde des Menschen in der Geschichte immer vorhanden gewesen sind. Daß es nicht leicht ist, über dem allem zu einem bestimmten Bilde zu kommen, lassen die Berichte über den Verlauf eines öffentlichen Gespräches im Sommer 1950 in Darmstadt über „Das Bild des Menschen in der bildenden Kunst” erkennen. Die Berichte stimmen darin überein, daß man nicht fähig zu einer gemeinsamen Antwort gewesen ist, sondern nur zum gemeinsamen Kampf gegen einen einzelnen und dessen Antwort.

LeerWir Deutschen haben eine große Stunde zur Schau auf die Wirklichkeit und zur Besinnung gehabt, als wir im totalen Zusammenbruch aller irdischen Werte der einzelnen wie des Volkes der Gottheit näher waren als sonst und eine Frage frei hatten an das Schicksal (Schiller). Wir haben als Volk diese Stunde versäumt, sind in den Fesseln der Mächte dieser Welt und auf den allgemeinen Wegen der Menschheit geblieben.

LeerIm Mittelalter war das Leben der Menschen in der christlichen Welt wie unter einer festen Hülle zusammengeschlossen und ausgerichtet auf die Kirche als tragende Macht und ihre Lehre, der Mensch als abgefallenes Geschöpf Gottes in all seiner Sündhaftigkeit abhängig von der Gnade Gottes und der Wirksamkeit der Erlösungstat Jesu Christi auch für ihn. Die Renaissance hat die Geschlossenheit dieses Weltbildes zerstört, indem sie wie einst schon die Philosophie des klassischen Altertums den Menschen als vernunftbegabtes Wesen zum Maß aller Dinge machte. Ungeheuere Kräfte sind dadurch im europäischen Menschen frei geworden, die er in Erkenntnis und Gestaltung seiner Umwelt eingesetzt hat. Man bekommt einen Begriff von der Sprengkraft der eingetretenen Veränderung, wenn man das Gesamtwerk von Künstlern überblickt, die im Laufe ihres Schaffens die Umwälzung erlebt haben und von ihr ergriffen worden sind (z. B. Altdorfer, Hans Baldung-Grien). Unerhörte Kämpfe des Geistes und des Glaubens sind in diesen Jahrhunderten ausgefochten worden. Je schwächer die Kraft des Glaubens wurde, desto höher wurde die Vernunft und eine aus ihr geborene Sittlichkeit in vermeintlich christlichem Gewände auf den Schild erhoben. Noch im 18. und 19. Jahrhundert haben menschlich hervorragende Persönlichkeiten aus solchen Kräften in Kunst und Wissenschaft, in der Gestaltung von Fragen des Zusammenlebens der Menschen wie der staatlichen und politischen Ordnung Ausgezeichnetes geleistet. Aber nichts hat den rasenden Lauf zu dem Abgrunde hin aufhalten können, vor dem wir heute stehen und dessen Anblick uns in letzter Stunde zur Besinnung ruft.

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LeerKein Volk ist so wie das deutsche durch den Lauf seiner Geschichte im 20. Jahrhundert derart zu einer äußersten Anspannung aller Kräfte eines echten oder falschen Idealismus und vor den greifbarsten Beweis ihrer Machtlosigkeit in der schwersten Probe gestellt worden. Noch bis vor wenigen Jahren kamen die Herzen zum Glühen vor dem Wort Hölderlins: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt; ein Bettler, wenn er nachdenkt; und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da wie ein verlorener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und zählt die erbärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab.” Die Begeisterung ist hin und sie kommt nicht wieder, weil jeder, der mit sich und seiner Umwelt ehrlich ist, erkennt oder doch spürt, daß alle diese Träume von menschlichen Idealen Wahn sind, daß wir ins Verderben rennen, wenn wir uns in solchem Traum-Wahn wie Gott fühlen, daß aber auch im Denken allein kein Heil liegt. Während die angelsächsische Siegerwelt uns mit den Ideen vergangener Jahrhunderte umerziehen und zurechtrücken will, denen sie selbst weithin nicht mehr folgt, wissen wir in unheimlicher Klarheit um deren Vergänglichkeit und Kraftlosigkeit.

LeerDaher dieses Scheinleben der demokratisch-parlamentarischen Apparatur der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Parteien; daher die Unberührtheit im Letzten, mit der wir das ganze Spiel der großen Politik in seiner Zwangsläufigkeit abrollen sehen; das bewußte oder unbewußte Empfinden für die absolute Vordergründigkeit dieses ganzen Betriebes; die Teilnahmlosigkeit selbst an den großen Fragen der Gestaltung des Gemeinschaftslebens, aber auch am Leben der Kirchen, deren Feiern, Beten und Verkünden dem heutigen Menschen gegenüber die Überzeugungskraft weithin fehlt. Es ist hie und da eine ferne Ahnung davon geblieben, daß in dem allem wohl einmal eine Aufgabe des Menschen gelegen hat und vielleicht auch noch liegt, aber es gibt keinen Zugang mehr zu ihr, keine Kraft und keine Vollmacht, sie anzugreifen. Deshalb - und das ist das Grauenhafte - geht der Mensch allein wie in der Masse ganz ungeschminkt und unverhüllt den Weg des nacktesten Egoismus und enthüllt sich damit in seiner ganzen Verworfenheit. 

LeerWir stehen vor der Tatsache, daß in der jüngsten Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein Menschen in allen Völkern, aber vor allem und gerade auch Deutsche an Menschen so gehandelt haben, daß uns immer wieder Grauen und Entsetzen schütteln, wenn wir versuchen, uns das Geschehene in seinen Einzelheiten wie in seiner Gesamtheit deutlich zu machen. In und nach dem Zusammenbruch haben wir in allen Schichten des Volkes eine so völlige, vor nichts haltmachende Auflösung aller Begriffe von Sittlichkeit, Anstand, Haltung und Würde erlebt, daß die Schicht dünner Tünche, mit der heute wieder alles überdeckt ist, niemanden mehr über die Wirklichkeit täuschen kann, der sie so gesehen hat. Wer nimmt die menschliche und wirtschaftliche Not des Millionenheeres der Flüchtlinge so ernst, wie sie wirklich ist? Wo ist die menschliche Kraft, die den Prozeß der Vermassung auf- halten und die Entwicklung zu einem echten menschlichen Miteinander führen könnte? Wer befreit uns von der Erfahrung der Wandlungsfähigkeit des Menschen in allen Zweigen des Lebens, die wir in der Zeit vor und nach der Währungsreform gemacht haben und die uns vor die Frage stellt, welches denn nun das wahre Gesicht dieser Menschen ist?

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LeerSicherlich gibt es in allen Völkern und in großer Zahl Menschen, die ihr Gesicht nicht so verloren haben. Aber bestimmen sie die große Linie des Treibens der Menschen auf dieser Erde oder die anderen? Haben sie noch die Kraft dazu? Im eigenen Volk kennen wir zur Genüge dir Tragödie ganzer ständischer Gruppen, die einst Grundpfeiler des Lebens in Volk und Staat, in Kunst und Wissenschaft waren und in ihrer Mehrheit doch in der schwersten Probe den Mut zu der Unbedingtheit charakterlich« Haltung nicht mehr aufgebracht haben, die ihren Vorfahren Selbstverständlichkeit war. Wir sehen aber vor allem uns selbst und viele, viele andere, wie wir nicht schnell genug das schöpfungsmäßige Band der Zugehörigkeit zum Volke zerschneiden können, wenn es gilt, jede Art von Mitverantwortung für geschehenes Schändliche wegzuschieben, während doch jeder gern seinen Anteil am Großen in der Geschichte des deutschen Volkes in Anspruch nimmt. Dazu gehört dann noch die allgemein verbreitete Neigung, alles aufzudecken, in dem die fehlen, die unsere Richter sein wollen, auch in Dingen, über die nur Gott richten kann. Das ist das beste Mittel, nicht zu dem Erschrecken über sich selbst zu kommen, aus dem allein etwas Neues, eine Wendung kommen könnte.

LeerEs ist zugleich der Weg in die Haltung, die das eigentliche Unheil ist, nämlich die Haltung des Beobachters, in der der Mensch überhaupt nicht mehr ansprechbar ist, weil ihn selbst alles nicht mehr betrifft. Das Wort „erschütternd” ist zwar in aller Munde, und wenn die Werber für Veranstaltungen aller möglichen Art recht hätten, dann schritten wir von einem einmaligen Erlebnis zum anderen. Aber wer wird denn überhaupt noch durch irgendetwas erschüttert und wer hat sich noch echte Erlebnisfähigkeit bewahrt? Nicht einmal das erregt oder erschüttert die Menschen von heute, wenn ihnen in den Dramen Sartres in den Büchern der Franzosen, Engländer und Amerikaner der Abgrund des Grauens ausgetan wird, der als Letztes noch bleibt. Man ist Beobachter und Zuschauer, man interessiert sich, aber man ist nicht betroffen oder beteiligt. In allen Völkern kehrt diese Haltung wieder. Ein sicher erheblicher Teil derer, die in dieser Haltung leben, zählt zu denen, die man die „Menschen guten Willens” nennt. Zu denen gehören aber vor allem diejenigen, die um der Menschen und der Dinge willen im Innersten an allem Geschehen teilnehmen und sich mit ihren Kräften dafür einsetzen, daß Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden herrschen. Es wird unendlich viel im Kleinen wie im Großen von den Menschen dieser Haltung getan und sehr viel Liebe geübt. Die Quellen ihres Handelns sind aber nicht die gleichen.

LeerEin Teil lebt und handelt aus christlichem Glauben und ist bemüht, Jesu Christi Gebot einer Liebe zu erfüllen, die keine Grenze kennt. Die Mehrzahl ist wohl getragen, entweder auf allgemein religiöser oder auf rein naturwissenschaftlicher Grundlage, von der Vernunft- geborenen Sittlichkeit der vergangenen Jahrhunderte, die man christlich nennt, weil sie die Haltung des anständigen Menschen fordert. „Humanität” ist das Ideal, aus dem heraus man Grundrechte des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit formuliert, die wohl für uns alle etwas seltsam Lebloses haben, nicht weil sie falsch wären oder uns nichts angingen, sondern weil wir aus bitterster Erfahrung heraus wissen, wieviel stärker die Kräfte des Bösen sind als die solcher von Menschen gesetzter Grundsätze und Ziele. Humanität strebt die Vereinigung oder Versöhnung der Gegensätze an. Welche Auffassung hier zu Grunde liegt, hat Hölderlin ausgedrückt in dem bekannten Wort: „Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt; Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder”. Im Zeitalter der Atombombe mutet es doch seltsam an. Man kann Gegensätze nicht wegreden, man muß sie ernst nehmen.

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LeerWohin uns das Humanitätsideal geführt hat, lassen schon wenige Beispiele erkennen: Es gab eine Zeit, in der die Sitte verlangte, daß das Lebensrecht des anderen gewahrt wurde, in der die Sitte die Verantwortlichkeiten klar herausstellte. Damals war es ehrenrührig für den Kaufmann, Konkurs zu machen, zunächst nicht weil es schändlich war, selbst arm zu werden - das ist erst daraus geworden sondern weil es eine Schande war, seine Gläubiger zu schädigen. Heute ist es umgekehrt. - Heute gibt es Ärzte, die es als Errungenschaft der Humanität preisen, wenn sie - ohne Rücksicht auf Schäden von Mütter und Kind an Leib und Seele - der Mutter das Gebären ihrer Kinder so erleichtern, daß sie dabei essen, rauchen und sich unterhalten kann. - Oder es wird in der Weltpresse als humanitäre Sensation gefeiert, wenn Truman und Wyschinsky zusammen Sekt trinken und sich gegenseitig „nette Kerle” finden, während sie damit im Grunde doch nur die Verlogenheit im Spiel der heutigen Politik enthüllen. Was hier geschieht, hat nichts zu tun mit der Weisung: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben”. Hier ist nichts klug, aber alles falsch im doppelten Sinne des Wortes. Denn Goethe hat schon recht wenn er sagt: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er ihm im Nacken säße”. - Am deutlichsten aber wird die Verschiebung aller Maßstäbe dadurch offenbart, daß Lessing bis heute mit der Geschichte von den drei Ringen im Nathan wirkt, in der jeder von drei falschen Ringen dieselbe Mächtigkeit besitzt wie der eine echte, weil nicht Gott und seine Wahrheit ebenso ernst genommen werden wie der Mensch in seiner Einsicht und Vernunft. Das führt aber auch zu der Gefahr, Grundtatsachen der Schöpfungsordnung, wie z. B. die Artverschiedenheit der Menschen, hinwegzuphilosophieren, statt sie als Gabe und Aufgabe ganz ernst zu nehmen.

Leer„Humanität” ist ein Ideal des Menschen. Wie alles vom Menschen Erdachte oder Gebildete ist es vergänglich. Und es ist am Vergehen, seine eigentliche und ursprüngliche Kraft hat es längst eingebüßt. Der Prozeß des Vergehens wird gefördert durch das Vorherrschen des rein naturwissenschaftlich-technischen Denkens, das den Menschen abschnürt von dem sein Seelenleben bestimmenden Unbewußten in ihm und von den Geistwirklichkeiten, die uns alle umgeben. Für den reinen Naturwissenschaftler existiert nur das, was er mit den Mitteln der exakten Wissenschaft erkennen und im Experiment beweisen kann. Er spürt nicht die ungeheuere Verflachung und Verarmung, die damit für den Gesamtbereich menschlicher Erfahrung und Erkenntnis eingetreten ist. In diesem Typ tritt ganz der Mensch hervor, der vom Baume der Erkenntnis gegessen hat, meint, er wäre wie Gott, und seine Autonomie errichtet. Folgerichtig kommen die Jüngeren dieser Gruppe zu der Überzeugung, daß es ein ewiges Sittengesetz wie die „Zehn Gebote” nicht gibt, sondern die Forderungen der Sittlichkeit wechseln mit den Verhältnissen, wie es große Teile der Menschheit heute praktisch leben und erleben. Existenzialismus und Nihilismus sind die Folge der Enthüllung der Machtlosigkeit der Götter, die sich die Menschen in ihren Ideen geschaffen hatten. Ihr Verdienst ist, daß sie wirklich bis an die äußerste Grenze menschlicher Seinsmöglichkeit führen und das Nichts enthüllen.

LeerIn welchem Maße all das Zerstörungen im Menschen anrichtet, davon können Arzte und Seelsorger ein sehr trauriges Lied singen. Es ist kein Wunder, daß die Jugend es namenlos schwer hat, in einer solchen Umwelt Richtung und Weg zu finden. Wir haben kein echtes Miteinander der Menschen, sehen vielmehr auf der einen Seite völlige Vereinzelung, auf der anderen Seite die Vermassung, in der der einzelne weder den Führer noch die Geführten interessiert. In beiden wird der Mensch im Menschen vernichtet.

LeerMan könnte mutlos werden angesichts der Schau des Sehers in der Offenbarung Johannis, wo es nach den sieben Plagen und den drei Wehe im 9. Kapitel, Vers 20, 21 heißt- „Und die übrigen Leute, die nicht getötet wurden von diesen Plagen, taten nicht Buße für die Werke ihrer Hände, daß sie nicht anbeteten die Teufel und goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen, welche weder sehen noch hören noch wandeln können; und taten auch nicht Buße für ihre Morde, Zauberei, Hurerei und Dieberei”. Aber es gibt auf allen Gebieten unseres Lebens doch auch so viele Zeichen für das Sichanbahnen einer Wendung, daß es doch möglich werden könnte, Gott fände die zehn Gerechten, um deretwillen er die Stadt nicht verderben will (1. Mose 18, 33).

LeerAuf allen Gebieten der Wissenschaft zeigen sich neue Wege an, die schon heute dem alten Widerstreit von Wissen und Glauben viel von seiner Schärfe nehmen. In der bildenden Kunst und in der Musik geht das Ringen im Grunde um das Wiederfinden der Mitte, die die Quelle alles echten künstlerischen Schaffens ist. Wenn hier überall die Entthronung des Menschen sich anbahnt und Millionen um echte Erkenntnis und Erfahrung seiner Wirklichkeit vor Gott ringen, dann könnte es sein, daß sie Gott in all seiner unvergänglichen Herrlichkeit und Majestät wiederfinden. Denn Er hat gesagt: „So Ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich finden lassen.” Aus das „von ganzem Herzen” kommt es an, ohne irgendeinen Vorbehalt eines Restes von eigener Selbstherrlichkeit!

LeerEvangelische Jahresbriefe 1951, S. 152-156

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-12-01
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