Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1951
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Kirchliches Leben in Frankreich
Streiflichter meiner Reisen in Frankreich 1949 und 1950
von Wolfgang Kretschmer

LeerEs gibt wohl heute kein katholisches Land, das man in seiner kirchlichen Aktivität und Aufgeschlossenheit mit Frankreich und seiner Metropole, Paris, vergleichen könnte. Trotz seiner unbefangenen Weltfreudigkeit ist dieses schöne Land durch die geistige Regsamkeit und den religiösen Enthusiasmus seiner besten Persönlichkeiten in letzter Zeit mehr und mehr zu einer weit offenstehenden Verbindungspforte zwischen der römischen und der nichtrömischen Christenheit geworden. Die Liberalität und Großzügigkeit der Franzosen hat es vermocht, nicht nur auf kulturellem, sondern auch auf religiösem Gebiet fast alle Aspekte der Welt in der Hauptstadt des Landes zu versammeln. Paris ist ein Kosmos von geradezu unheimlicher Vollständigkeit.

LeerDurch seinen inneren Reichtum und seine Offenheit scheint Paris für die ökumenische Arbeit und Begegnung geradezu vorbestimmt zu sein. Ich lernte beispielsweise eine lutherische Dame kennen, die in Rußland aufgewachsen ist, deren Familie aber ursprünglich aus Deutschland stammt. Sie schreibt jetzt ein Buch über die Frömmigkeit Luthers. Im Pariser Luthertum gewinnt die liturgische Erneuerung, die besonders durch Pastor Waltz gefördert wird, an Bedeutung. Auch bruderschaftliche Bestrebungen von Geistlichen sind im Gange. Ich sang eines Morgens mit einer Gruppe von Pfarrern in einer kleinen Holzkirche, unmittelbar neben dem brausenden Verkehr der Stadt eine Mette in voller Form. Die Teilnehmer zogen geschlossen ein. Es standen gedruckte Ausgaben von Matutin und Vesper aber auch von der sonntäglichen Messe, zur Verfügung. Das anschließende, sehr brüderliche und herzliche Gespräch betraf besonders die Entwicklung und Arbeit der Evangelischen Michaelsbruderschaft in Deutschland, woran viel Anteil genommen wurde. Obwohl die heutige französische Sprache für uns eine in solchem Zusammenhang ganz ungewohnte und andersartige Atmosphäre schafft, spürte ich doch in diesem Kreise den verwandten evangelischen Geist.

LeerDas französische Luthertum bildet durch seinen Schwerpunkt im Elsaß eine natürliche Brücke zur deutschen Welt. Leider hat es bei seiner geringen Zahl keine namhaften Theologen. Die lutherischen Pfarrer müssen alle an der calvinistischen Akademie in Paris studieren, wo allerdings auch lutherische Lehrer tätig sind.

Linie

LeerDie Reformierten, welche nach Meinung der katholischen Allgemeinheit noch vielfach die Strenge und Herbheit ihres Ursprungs bewahrt haben, aber ein sehr lebendiges Gemeindebewußtsein besitzen, leben zerstreut.in Paris und Südfrankreich. Während in den alten Siedlungen, wie Nîmes und Montpellier, die ökumenische Haltung noch stark vom Gegensatz zur römischen Kirche im negativen Sinne geprägt ist, sind in den größeren Städten unter der Geistlichkeit und Jugend starke Bewegungen im Gange, die in Richtung des Sozialen, Ökumenischen und Liturgisch--Sakramentalen gehen. Es gibt markante theologische Schriftsteller, unter denen sich auch Laien befinden. Hier dominiert eindeutig der Einfluß Karl Barths, der jedoch zum Unterschied von Deutschland bei einer großen Anzahl von Geistlichen sich mit den liturgischen Bestrebungen verbindet. Die hierdurch sich ergebenden konkreten Erfahrungsmöglichkeiten sind besonders verheißungsvoll für die ökumenische Entwicklung. Ein Pfarrer in Toulouse, Mitglied der liturgischen Kommission der Reformierten Kirche, sagte mir, daß letztere laufend an der Weitergestaltung der gottesdienstlichen Formen arbeite und regelmäßig der Nationalen Versammlung Vorschläge zur Billigung vorlege. Die Gedanken des Offertoriums (persönliches Opfer) und der Epiklese (Herabrufung des Heiligen Geistes auf Brot und Wein) haben bereits Eingang in die Abendmahlsordnung gefunden. Wichtig ist den liturgischen Kreisen der literarische Nachweis, daß die Auffassung Calvins von der Realpräsenz Christi im Abendmahl von der Luthers gar nicht so entfernt gewesen sei. Das landläufige Bild des Calvinismus sei durch zwinglianische Einflüsse geprägt und entspräche nicht der ursprünglichen Anschauung des Reformators, welcher noch in seiner Straßburger Zeit sehr liturgisch gewesen und erst in Genf auf Widerstand der Gemeinde gestoßen sei. Ich merkte in den Gesprächen, daß die Abendmahlsanschauung der Reformierten immer noch spiritualistischer ist als die der Lutheraner, sich aber aufs Ganze gesehen in einer sehr positiven Entwicklung befindet Besonders wichtig ist die in den Evangelischen Jahresbriefen schon mehrfach erwähnte Gemeinschaft von Taizé bei Cluny. In einem unlängst in der französischen Schweiz erschienenen Artikel entwickelt und rechtfertigt Max Thurian, der leitende Bruder der Gemeinschaft, in einfachen und klaren Gedanken, die sich auf die Heilige Schrift und die Kirchenväter stützen, die Grundgedanken eines christlichen Zölibates und Klosterlebens. Es ist erstaunlich und erfreulich zugleich, daß man hier eigentlich alle entscheidenden Grundanschauungen des altchristlichen Mönchtums vorfindet, wodurch gleichzeitig eine erhebliche Annäherung an die Griechische Orthodoxie vollzogen wird. Es geht weiter aus dem Artikel hervor, daß durch die Dauerverpflichtung einer Reihe von Brüdern das Haus im eigentlichen Sinne Kloster geworden ist. Dementsprechend hat sich auch das anfangs lockere geistliche Leben immer mehr in monastischem Sinne gestrafft. Die Stundengebete werden nicht mehr im Hause, sondern in der vom römischen Bischof von Autun zur Verfügung gestellten Kirche regelmäßig gehalten. Die Brüder ziehen zu den Feiern geschlossen, mit besonderen Gewändern angetan, (nachts mit Kerzen) ein. Die sonntägliche Eucharistie hat eine zentrale Stellung bekommen.

Linie

LeerDie protestantischen Geistlichen sind in ihrer Erscheinung viel weniger „pastoral”, als wir es gewohnt sind. Sie haben oft die geistige Lebendigkeit und Beweglichkeit ihrer Landsleute, welche sich in schöner Weise mit der Tiefe der christlichen Lebenshaltung vereint. Die griechische Orthodoxie ist als wesentlicher Faktor im ökumenischen Leben von Paris seit 30 Jahren nicht mehr wegzudenken. Sie stützt sich in ihrer markantesten religiösen und theologischen Ausprägung hauptsächlich auf die alte russische Emigration, deren beste Vertreter nach der Revolution fast ausnahmslos von der universalen Atmosphäre Paris angezogen wurden. Bis zum gegenwärtigen Augenblick wurden dort ausgezeichnete Arbeiten veröffentlicht, die in ihrem geistigen Rang der westeuropäischen Theologie durchaus ebenbürtig sind. Leider ist fast nichts hiervon in deutscher Sprache zugänglich. Die Verwurzelung dieser Theologie im Frömmigkeitsleben der Gemeinde und in den alten Vätern, aber auch ihre gleichzeitige Angepaßtheit an die geistige Situation des Westens, geben ihr eine besondere Überzeugungskraft und Lebensnähe. Sie spielt damit in der Begegnung der Konfessionen eine auflockernde und befruchtende Rolle.

LeerDie größte Gruppe der französischen Russen wird von dem Metropoliten Wladimir geführt. Er wohnt neben seiner Kathedrale in einer ganz einfachen Wohnung, die den Geist des alten Rußlands atmet und in der eine Unmenge von Bildern, Gebetszetteln und Schriften in ergötzlicher Unordnung beisammen sind. Hier lebt alles aus der Vergangenheit, aber auch aus der zeitlosen Unmittelbarkeit der Nähe Christi. Der hochbetagte Erzbischof ist einer der wenigen noch lebenden echten Frommen des alten Rußlands, einer Generation, die nunmehr ausstirbt, die aber in ihrem Erlöschen die größte Ehrfurcht von uns fordert. Mit seinen kräftig-plumpen und kindlich-gütigen Gesichtszügen und dem grauen Bart ist er eine fast bäuerliche Erscheinung. In einer ganz schlichten, unkonventionellen Weise fragt er mich nach meinem Leben und freut sich über die Anteilnahme, die man seiner Kirche entgegenbringt. Er ist weit mehr ein Frommer als ein Diplomat oder gelehrter Theologe. Und trotzdem leitet er seine Diözese mit Weisheit und Geschick. Vor einer solchen Gestalt steht der Christ des Westens einfach fassungslos, da sie alle seine am humanistischen Bildungsideal gewonnenen Vorstellungen von einem Kirchenführer restlos umstößt und er etwas zu ahnen beginnt von der Vollmacht, die das mystische Leben eines Mönches verleihen kann. Zur Eparchie des Metropoliten gehört die in Europa führende geistliche Akademie St. Sergius, welche den Priesternachwuchs formt. Sie wird vom Bischof Kassian geleitet. Er gehört zur alten russischen Generation und verbindet in seltener Weise die Frömmigkeitserfahrung des alten Starzentums, das er noch kannte, mit weltmännischer Haltung und großer theologischer Gelehrsamkeit. Damit ist er für die ökumenische Arbeit besonders gerüstet. Paris ist auch der Ort, wo die aus den geistlichen Strahlungen der Orthodoxie im Westen sich ergebenden praktischen Folgen erstmals richtungweisend sich verwirklicht haben. Eine Reihe römisch-katholischer und protestantischer Christen, worunter sich einige hervorragende Vertreter befinden, sind zur Orthodoxie übergetreten. Schon seit 1937 feiern sie ihre Gottesdienste nicht nur im morgenländischen, sondern auch im abendländischen Ritus (am ehesten unserer Evangelischen Messe vergleichbar). Aus ihrem Kreise sind auch einige ausgezeichnete liturgiegeschichtliche und sonstige theologische Arbeiten hervorgegangen, deren Ergebnisse wohl von keiner liturgischen Erneuerungsbewegung in Europa übergangen werden können. Bei dieser Situation ist weniger die Tatsache der Konversionen bedeutsam, welche zahlenmäßig keine Rolle spielen und wohl auch nicht spielen werden. Wichtig ist vielmehr, daß hiermit die Orthodoxie erstmals ihren universalen Anspruch als Weltkirche grundsätzlich erscheinen läßt und damit der römischen Kirche in ihrem eigenen Bereich etwas Gleichwertiges entgegensetzt, dem gegenüber diese nicht gleichgültig bleiben kann.

Linie

LeerDie sich hieraus ergebende sogenannte „orthodoxe” Frage wird in der römischen Kirche schon seit einiger Zeit ernst genommen, und zwar nicht nur im Orientalischen Kollegium in Rom, sondern auch im Forschungs-Institut „Istina” in Paris. Es wird von dem gastfreundlichen und weitherzigen Dominikanerpater Dumont geleitet und enthält eine der bedeutendsten orthodoxen Bibliotheken Europas. Der Geist der Milde und Freiheit, welcher allen zuteil wird, die sich tiefer mit der Orthodoxie beschäftigen, hat auch hier eine solch brüderliche und offene Atmosphäre geschaffen, daß „Istina” eine der besten ökumenischen Stätten des katholischen Paris geworden ist. Es treffen sich dort nicht nur Persönlichkeiten der orthodoxen Kirche, sondern auch des Weltprotestantismus. Pater Dumont ist einer der stärksten und vollmächtigsten Vertreter einer echten ökumenischen Arbeit im französischen Katholizismus. Die gastfreien Tage in diesem gesegneten Hause bestätigten wiederum meine Erfahrung, daß nämlich alle römischen Katholiken, die sich mit Ernst und Verständnis der Orthodoxie widmen, uns Evangelischen ganz besonders nahe sind.

LeerEine solch verständnisvolle Haltung, die heute allein die ökumenische Brücke zur sonstigen Christenheit bilden kann, ist aber begreiflicherweise nicht Allgemeingut der römischen Kirche. Der Vatikan, welcher besonders den spanischen Klerus, aber auch einen Teil der geistig führenden Dominikaner und Jesuiten Frankreichs hinter sich hat, wendet sich scharf dagegen, wie besonders die Encyklika „
humani generis” zeigt. Diese zielt, ohne es ausdrücklich zu sagen, hauptsächlich auf die moderne französische Theologie, wie sie insbesondere von den besten Kräften der erwähnten Jesuiten- und Dominikaner-Orden verkündet wird. Da ist hervorzuheben der feinsinnige und liebenswürdige Jesuitengelehrte Daniélou, der anhand hervorragender Werke, z. B. über Origenes, das gewaltige Gedankengebäude der griechischen Vätertheologie erneut ins Licht rückte. Aber auch der Jesuitenpater Lubac, welcher in seinen Ausführungen über das „übernatürliche” den Rationalismus der Scholastik verläßt und ebenfalls zur griechischen Theologie zurückkehrt, verdient erwähnt zu werden. Diese Theologen und ihre Anhänger sehen in der „Rückkehr zu den Quellen” (Heilige Schrift, Kirchenväter) den einzigen Weg zur gesunden Entwicklung ihrer Kirche und gleichzeitig zur Lösung der „Oekumenischen Frage”. (Wir dürfen wohl sagen, mit vollem Recht!) Nicht unerwähnt bleiben darf der Dominikanerpater Congar, welcher sich in besonders liebevoller Weise dem Gespräch mit dem Protestantismus gewidmet hat.

LeerDer Vatikan verteidigt demgegenüber die scholastische Theologie und die Unangreifbarkeit des Lehramtes als letzte Norm, was gleichbedeutend ist mit der Verabsolutierung äußerlich-institutioneller Gegebenheiten gegenüber dem lebendig-mystischen Wesenskern der Kirche. Indem sich aber die römische Kirche der Rückkehr zu den Quellen (die ja eigentlich nicht historisch, sondern ontisch gemeint ist) versagt, die Bibel und die griechischen Väter, d. h. ein Kernstück ihrer eigenen Tradition bei Seite schiebt, kommt sie in Gefahr, ihren Lebensnerv selbst abzuschneiden. Diesen Vorgang kann man nur mit großer Beunruhigung und Sorge verfolgen.

Linie

LeerDie Auseinandersetzung mit der französischen Theologie zeigt uns besonders deutlich, daß es weniger der Protestantismus, sondern vielmehr die Orthodoxie ist, welche die römische Kirche innerhalb ihrer eigenen Grenzen im vollen Sinne des Wortes ins Gericht führt. Die Orthodoxie als alleinige Hüterin der altkirchlich-ökumenischen Theologie und Tradition hat als einzige von allen Konfessionen die Vollmacht und geistige Fülle, um der römischen Kirche eine Frage zu stellen, vor der sie in Zukunft nicht mehr wird ausweichen können. Von der Haltung des Vatikans wird es abhängen, ob die römische Kirche künftig die katholisch-orthodoxe Tradition und damit die ökumenische Ganzheit als Grundmaßstab anerkennt, oder ob sie auf dem Wege einer scholastisch-institutionellen Versteinerung sich konfessionalistisch für immer abschließt. Der mutige Kampf der französischen Theologen darf uns mit Bewunderung und Anteilnahme erfüllen. Auch für einen Nichttheologen ist die Überlegenheit der modernen französischen Theologie, welche in besonders schöner Weise historisch-kritische Unbestechlichkeit mit tiefer Glaubenserfahrung zu verbinden weiß, gegenüber der vatikanisch-spanischen so offensichtlich, daß ich auf den Sieg des Lebens über die Erstarrung zu hoffen wage. Bedenken wir, warum gerade Frankreich diesen Kampf stellvertretend führt, so erinnern wir uns daran, daß es schon immer der Kurie gegenüber eine gewisse Freiheit sich leisten konnte. Es ist ein französischer König gewesen, der den Papst gefangensetzte. Der Jesuitenorden ist dreimal verboten worden. Trotz der keineswegs immer beispielhaften weltlichen Motive solchen Freiheitsstrebens, ist doch auch eine positive Seite heute nicht zu verkennen, nämlich da, wo sich die Kräfte des Gewissens und des Glaubens mit ihm verbinden.

LeerAußerhalb dieser Probleme steht der große Enthusiasmus und Opfermut einzelner kleiner Gruppen, die der Masse der entchristlichten Bevölkerung das Evangelium predigen wollen. So die Priester, welche in Kleidung und Tätigkeit des Arbeiters ganz unauffällig missionieren, So auch die Benediktiner, die wie im Mittelalter das Kloster in den Mittelpunkt des Lebens der Dorfgemeinschaft stellen wollen.

LeerAn einzelnen Stellen öffnen sich auch die Ausbildungsstätten der Priester den besten Gedanken moderner Philosophie und Wissenschaft, aber auch den ökumenischen Forderungen. So z. B. das „
Institut Catholique” in Toulouse, eine der vier katholischen Universitäten Frankreichs, die ja alle vom Staate ganz getrennt sind und deshalb nur für kirchliche Ämter ausbilden können. Das Institut wird von dem trefflichen Philosophieprofessor Bruno de Solages geleitet, einem bescheidenen und feinkultivierten Priester. Nachdem er schwere Erlebnisse in den Konzentrationslagern der deutschen Besatzung durchgestanden hatte, setzte er sich seit dem Kriegsende intensiv für die deutsch-französische Verständigung ein.

LeerIch war erstaunt, festzustellen, daß in diesem Institut die den katholischen Einrichtungen sonst häufig eigene seelisch-geistige Enge fehlte und statt dessen ein Geist der Freiheit und Gelöstheit zu spüren war, der sich bis in die Haltung und Physiognomie der Insassen hinein günstig auswirkte. Die Studenten waren sehr höflich, liebenswürdig und bescheiden und zeigten viel Verständnis für die echten Anliegen des Protestantismus. Es ergab sich manch brüderliches Gespräch in der geistig lebendigen Gemeinschaft. Es mag für den Genius des Hauses als kennzeichnend gelten, daß ich als Lutheraner aufgefordert wurde, drei Vorträge zu halten, die sich u. a. auf die Lage des Protestantismus in Deutschland und das kirchliche Leben in Rußland bezogen. Besonderes Interesse fand die Schilderung der theologischen und liturgischen Entwicklung unserer Evangelischen Michaelsbruderschaft. Bei der Diskussion stellten mir die Professoren und Studenten in sehr disziplinierter und taktvoller Form Fragen. Besonders tief berührte mich die leider nicht ganz unberechtigte Frage, ob es noch evangelische Theologen gäbe, die die göttliche Natur Christi leugneten, und ob die geistige Kluft zwischen Theologieprofessoren und Gemeinden noch eine Rolle spiele.

Linie

LeerEiner der hervorragendsten Hirten, nicht nur von Toulouse, sondern von ganz Frankreich, ist der Kardinal-Erzbischof de Saliège. Während des Krieges von der Besatzungsmacht wegen seiner freien Haltung dauernd bedroht, setzte auch er sich sofort nach dem Kriege für die Verständigung mit Deutschland und die gerechte Behandlung der Kriegsgefangenen ein. Er empfing mich aufs freundlichste. Ich lernte eine imposante, kraftvolle Persönlichkeit kennen, in deren scharf geprägten Gesichtszügen manche Härte und Strenge eingegraben war. Der hochbetagte Bischof bewies trotz seines hohen Alters und trotz starker Gebrechen eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit und geistige Aufgeschlossenheit und liebte im Gespräch prägnante und witzige Formulierungen. Er wagt es, eine eigene Meinung zu haben, und unterstützt bewußt die schon beschriebene moderne Richtung der französischen Theologie. Seine auch der eigenen Kirche gegenüber freie kritische und dabei temperamentvolle Einstellung charakterisiert man wohl am besten als intolerant gegenüber der Intoleranz. Die große geistige Offenheit dieses Mannes erhellt auch aus der Tatsache, daß er es sich nicht nehmen ließ, trotz seiner körperlichen Behinderung zwei meiner Vorträge zu besuchen und an Stellen, wo ich kritische Hinweise gegenüber der römischen Kirche gab, seinen Studenten aufmunternd zunickte.

LeerWer zu der alten Westgotenfestung Toulouse gelangt ist, wird kaum umhin können, auch Lourdes zu besuchen, dessen Namen in der ganzen gläubigen Welt des Katholizismus und darüber hinaus bekannt ist. Schaut man durch die Fassade eines erwerbshungrigen und geschmacklosen Tourismus hindurch, so drängen sich Hunderte von keineswegs nebensächlichen Fragen auf: Warum die wunderbaren Geschehnisse mit ihrer weltweiten Dynamik inmitten des auf dem Höhepunkt seiner Skepsis angelangten Frankreich sich ereigneten. Warum die allezeit mit besonderer Zartheit und Anmut beschriebene und verehrte Gestalt der Muttergottes sich gerade an einem der lieblichsten Plätze Europas bekundet. Warum gerade die symbolträchtige Höhle Ausgangsort wurde und die nicht minder symbolträchtige Quelle Heilung vermittelt. Und die noch viel tiefere theologische Frage, welche Rolle Gott der Heiligen Jungfrau nicht nur vor 2000 Jahren, sondern auch heute noch innerhalb der Kirche zuweisen möchte?

LeerSchlechthin erschütternd ist der kindliche Glaubensrealismus, der die Besucher beseelt und der ja zu allen Zeiten eine der Grundkräfte der Kirche gewesen ist. Ist es ein Gewinn, daß der Protestantismus ihn (und damit auch das Wunder) verloren bat? Lourdes bat eine besondere Ausstrahlung friedlicher Wirkungen als Begegnungsort der Völker, aber auch der Konfessionen. Denn es kommen immer wieder Protestanten dorthin, keineswegs nur Kranke, aus mancherlei Gründen, die sie in ihrer eigenen Kirche kaum zu sagen wagen.

LeerBischof Théas ist in seiner bescheidenen, herzlichen, aber auch theologisch weitblickenden Art sicher einer der besten Vertreter des französischen Episkopates. Mit der Anteilnahme des echten Hirten ließ er sich von mir die gegenwärtige Entwicklung der deutschen Evangelischen Kirche und besonders auch meiner Kriegserlebnisse mit den russischen Gläubigen schildern. Er gab mir ein eindrucksvolles Bild von der Atmosphäre des Wunderortes und sagte mir ausdrücklich, daß er stets bemüht sei, gerade an einer Stätte der Muttergottesverehrung Christus in den Mittelpunkt zu stellen, der allein das Heil bringe und auch heile. Die Marienlehre sei nichts Zusätzliches, sondern ein zentrales Stück der christlichen Verkündigung (Evangelium, Credo). Die Marienverehrung sei nicht Ziel, sondern Weg zu Christus, der seinerseits Weg zum Vater sei.

LeerZuletzt aber mögen wir an die ergreifende Gestalt der Heiligen Bernadette selbst denken, in der sich eine wesentliche Seite der französisch-katholischen Frömmigkeit darstellt, die wir gewöhnlich übersehen und die sich so einfach in dem Gebet zur Messe des Gedenktages des gläubigen Mädchens bekundet:


O Gott, der Du schützest und liebst die Demütigen, Du hast Deine Dienerin Maria Bernarda durch die Erscheinung und Rede der reinen Jungfrau Maria erbaut. Wir bitten Dich, gib, daß wir auf den Wegen des schlichten Glaubens zu Deiner Schau im Himmel kommen mögen, durch unsern Herrn Jesum Christum ...
Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 161-167

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-12-01
Haftungsausschluss
TOP