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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerAm 7. Mai sind hundert Jahre vergangen, seit Adolf von H a r n a c k geboren ist, fünfzig Jahre, seit die evangelische Christenheit in Zustimmung und leidenschaftlicher Abwehr durch sein Buch über das „Wesen des Christentums” erregt wurde. Diese doppelte Erinnerung wird viele veranlassen, dem heutigen Geschlecht in Erinnerung zu rufen, welche große Gelehrsamkeit, welche umfassende Bildung in einem Mann wie Harnack verkörpert war, freilich auch, wie sehr die evangelische Theologie in Deutschland sich in diesem halben Jahrhundert von jener Geisteswelt entfernt hat, welche für Harnack als eine selbstverständliche und undiskutierte Voraussetzung bei der Frage nach dem Wesen des Christentums gegolten hat. Der Abstand, der innerlich noch größer ist als die Zahl der Jahre, hat mich nie gehindert, es als ein großes Geschenk zu empfinden, daß ich in meinem Berliner Studentenjahr 1903/04 als Mitglied seines kirchenhistorischen Seminars zu dem engeren Kreis seiner Schüler zählen durfte. Meiner hohen Verehrung und Dankbarkeit glaube ich vor einem weiteren Kreis am besten dadurch Ausdruck zu geben, daß ich einige persönliche Erinnerungen wiedergebe, die für mich ein für allemal das Bild dieses großen Mannes mitbestimmt haben. Wenn ich mir das hohe Ethos strenger Wissenschaft vergegenwärtigen will, dann steht mir eine Anekdote aus Harnacks Seminar vor der Seele. Als er einem von uns eine Seminararbeit zurückgab, sagte er mit jenem überlegenen und unwiderstehlichen Lächeln, das er haben konnte: „Sie haben es für nötig gehalten, gegen mich zu polemisieren; Sie werden nicht erwarten, daß Sie mich überzeugt haben.” Zu unser aller Entsetzen hatte der Verfasser die Kühnheit (die man als Student noch hat), zu antworten: „Exzellenz, dann haben Sie meine Arbeit nicht genau gelesen”, worauf Harnack mit dem gleichen Lächeln sagte: „Dann will ich sie eben noch einmal mitnehmen”. Acht Tage später gab er die Arbeit zurück mit eben demselben liebenswürdigen Lächeln: „Sie haben recht, ich hatte das nicht genau gelesen. Ich werde das in der nächsten Auflage meiner Dogmengeschichte ändern”. - Eines Morgens am Beginn der Vorlesung fand sich - für die Augen der Studenten unmißverständlich - das Manuskript nicht in der gewohnten Tasche des Rockes. Es war unverkennbar, daß er nun den Vortrag improvisierte, und die Stunde wurde ein Meisterwerk der wahrhaft künstlerischen Gestaltung. Wir hätten es damals wohl nicht richtig ausdrücken können, aber heute würde ich sagen, daß die wahrhafte Größe der Bildung sich auch darin zeigt, daß das gelehrte Wissen mit künstlerischer Genialität verbunden ist. - Auf der „Weihnachtskneipe” unseres Seminars - das gab es damals - fragte Harnack mich, wo ich Weihnachten zubringen würde. Ich mußte ihm bekennen, daß mir die Reise nach Hause zu teuer sei, und daß ich also Weihnachten in Berlin verbringen würde. Darauf lud er mich zum Heiligen Abend in sein Haus ein. Diesen Abend werde ich nie vergessen. Die Art, wie er im Familienkreis die Weihnachtsgeschichte las, wiegt für mich auch heute nach fast fünfzig Jahren alles auf, was uns an seiner Theologie fragwürdig geworden sein mag, und um dieser Stunde willen ist mir Harnack immer mehr gewesen als der große Gelehrte.

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LeerDer „Theologische Konvent Augsburgischen Bekenntnisses” hat in der Woche nach -Ostern seine 4. Arbeitstagung in Fulda abgehalten. Dieser Konvent ist anläßlich der Betheler Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (Januar 1949) gemeinsam von der Vereinigten Ev.-luth. Kirche Deutschlands und von der „Arbeitsgemeinschaft Lutherischer Kirchen und Gemeinden” (dem sogenannten „Detmolder Kreis”) begründet worden als eine Stätte theologischer Besinnung auf die Grundfragen eines lutherischen Verständnisses des Evangeliums und der Kirche. Die Geschlossenheit eines verhältnismäßig kleinen Kreises hat einen wesentlichen Anteil daran, daß die Tagungen dieses Konvents ebenso durch die weitgespannten Gedanken der Vorträge wie durch eine große Offenheit und Brüderlichkeit der Aussprache ausgezeichnet waren. Gegenüber mancherlei minder erfreulichen Erfahrungen im theologischen Gespräch ist es ein hoffnungsvolles Anzeichen, daß das Luthertum in Deutschland (über den Kreis der „Vereinigten lutherischen Kirche” hinaus) sich in diesem Konvent ein Organ tiefgründiger theologischer Arbeit und eines brüderlichen Austausches über die uns heute bewegenden Fragen der evangelischen Kirche überhaupt geschaffen hat. Die Vorträge werden in Verbindung mit kurzen Berichten über die Aussprachen sobald als möglich im Druck zugänglich gemacht werden, um auch weitere Kreise an dem Ertrag dieser Arbeit teilnehmen zu lassen.

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LeerIn der ersten Aprilwoche tagte in Hamburg die 3. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von den Beratungen über die Neuordnung des Hilfswerkes der Evangelischen Kirche und über die Begründung eines diakonischen Beirates haben unsere Freunde, wenn sie sich dafür interessieren, alles, was man berichten kann, aus der kirchlichen Presse erfahren. Was aber eine solche Synode als kirchliches Ereignis bedeutet, ist schwer in ein paar Worte zu fassen. Ist sie überhaupt ein „geistliches” Geschehen? Kann sie es sein? Tragen solche gewählten Synoden nicht notwendig die Wesensmerkmale einer Zeit an sich, die noch glauben konnte, der Kirche mit der unbedenklichen Übernahme parlamentarischer Methoden aus dem Raum der weltlichen Politik dienen zu können? Müssen sie also nicht notwendig einen Stil haben, der weltlicher und profaner ist, als es sich einer kirchlichen Körperschaft geziemt? Was wir an diesem Stil vermissen, könnte aber nicht etwa in einer anderen Geschäftsordnung erfüllt werden. - Es ist wohl auch notwendig, daß eine solche Synode sich mehr mit Gesetzen und ihren Paragraphen, als mit den eigentlichen Lebensfragen der Kirche beschäftigt. Es ist auch vielleicht notwendig, von den eigentlichen Fragen, die uns hinsichtlich unserer evangelischen Kirche auf den Nägeln brennen, nach Möglichkeit zu schweigen, weil sonst die zu Tage tretenden Gegensätze die so mühsam gewonnene und bewahrte Einheit der evangelischen Kirche gefährden könnten. Immerhin ist auf dieser Synode bei der Besprechung des von D. Dibelius (als dem Vorsitzenden des Rates der EKD) mit bemerkenswerter Offenheit erstatteten Berichts der Versuch einer sachlichen Aussprache gemacht, und es sind einige wirklich gute Dinge dabei gesagt worden. Die Synode sollte den Mut haben, dieser Aussprache, wenn nötig in kleineren Gruppen, Raum und Zeit zu gewähren. Es würde sich zeigen, daß die tiefgreifenden Verschiedenheiten, die dabei zu Tage treten würden, nicht (kaum in erster Linie) durch die Grenzen der innerhalb dieser EKD bestehenden „Konfessionen”' bestimmt sind. Es würde sich wohl auch zeigen, daß es verkehrt ist, solche grundsätzlichen Aussprachen zu scheuen; selbst wenn die Geister ganz anders „auseinander platzen” müßten, als es in diesem Jahr geschehen ist, wäre eine solche Explosion wahrscheinlich ungefährlicher als die schleichende Krisis, die niemals ausgetragen wird. An dem entschlossenen Mut, die zwischen uns schwebenden Fragen wirklich anzupacken und dabei auch scharfe Auseinandersetzungen zu riskieren, muß es sich erst bewähren, ob diese „Evangelische Kirche in Deutschland” auf dem Wege ist, wirkliche Kirche zu werden, oder ob sie doch nur zweckbedingter Zusammenschluß von Einzelkirchen ist. Wir wünschen und hoffen von Herzen das erste; aber es wird uns nicht in den Schoß fallen, sondern es kann nur durch Mut, Liebe und Vertrauen errungen werden.

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LeerDas Zustandekommen des Schuman-Planes muß auch uns, die wir nicht behaupten, in wirtschaftlichen Fragen eine hinlängliche Kenntnis und ein begründetes Urteil zu haben, als ein Ereignis von höchster symptomatischer Bedeutung berühren. Dabei ist der noch sehr bescheidene Anfang einer europäischen -Organisation (oder wie es eine Zeitung geistreich und zutreffend ausgedrückt hat: eine erste Revision des im Jahre 843 abgeschlossenen Vertrages von Verdun, durch welchen das Reich Karls des Großen unwiderruflich zerfiel) nur die eine Seite. Wir sollten auch auf die andere Seite unser Augenmerk richten. Vor einem Menschenalter etwa schrieb Rudolf Steiner seine Abhandlung über die „Dreigliederung des sozialen -Organismus”, worunter er die „Entflechtung” (wie man heute sagen würde) der politisch-rechtlichen, der wirtschaftlichen und der kulturellen Sphäre des sozialen Organismus als eine lebensnotwendige Entwicklung voraussagte und zugleich die Durchführung dieser „Dreigliederung” als die Rettung vor unabsehbaren Gefahren verlangte. Auch wer im übrigen keineswegs alles für richtig (freilich ebenso wenig alles für falsch) hält, was Steiner gesagt hat, muß vielleicht doch in dieser Parole eine richtige und keimkräftige Idee anerkennen. Im Schuman-Plan hat sich zum ersten Mal eine Begrenzung staatlicher Souveränität zu Gunsten wirtschaftlicher Notwendigkeiten durchgesetzt: Die aufeinander angewiesenen Wirtschaftsgruppen schließen sich über die Grenzen der staatlichen Zugehörigkeit hinweg zusammen. Das Saargebiet ist gewiß nicht das einzige, aber das uns am nächsten angehende Beispiel dafür, zu welchen sinnwidrigen Gewaltlösungen es führen kann, wenn man die Grenzsteine versetzen muß, um die schädlichen Auswirkungen einer politischen Trennung zusammengehöriger Wirtschaftsgebiete zu beseitigen. Wir sind freilich wohl noch viel zu sehr im staatlichen, um nicht zu sagen kleinstaatlichen Denken befangen, um uns vorstellen zu können, daß diese Grenzen der politischen Souveränität durch die Alleinherrschaft des politisch-staatlichen Denkens eine Wichtigkeit bekommen haben, die ihnen gar nicht zukommt. Ich bekenne, bei jedem Grenzübertritt das Gefühl zu haben, daß hier eine noch nicht überwundene, halb lächerliche, halb gefährliche Kinderkrankheit in der menschlichen Entwicklung ihr Wesen treibe. - Aber wann wird das Kulturelle, die geistige Bildung ebenso die Fesseln sprengen, mit denen ein schädlicher staatlicher Machtanspruch sie gefangen hält? Nur daß wir hinsichtlich des Bildungswesens heute noch viel rückständiger sind als hinsichtlich der Wirtschaft. Was für ein groteskes Überbleibsel vergangener Zeiten, daß die durch die Besatzungsmacht geschaffenen „Länder” ihre eigene Schulpolitik treiben und je nach dem Machtverhältnis verschiedener Parteien sehr verschiedene Bildungsideale ihren heranwachsenden Kindern aufzwingen. Welche Vergewaltigung vollends, wenn in anderen Bereichen der Staat ein Bildungsmonopol der von ihm allein privilegierten Weltanschauung aufrichtet, und also an den Grenzen politischer Machtbereiche nicht nur Schlagbäume für Wirtschaftsgüter, sondern auch für Gedanken gezimmert sind! Die an den wirklichen Hochschulen gepflegte wissenschaftliches Forschung hat immer - bis zu dem beschämenden Zwischenspiel der nationalsozialistischen Herrschaft - einen lebendigen Zusammenhang über die politischen Grenzen hinweg gepflegt; aber die Gottesgeißel des totalen Staates macht sich stark, auch das Geistesleben in den pferch befohlener Herdenhaftigkeit zu sperren. Das Erstaunlichste und Unheimlichste ist die Tatsache, daß so viele Lehrer (aller Gruppen und Schulgattungen) es noch gar nicht wahrzunehmen scheinen, welch selbstmörderischer Akt es ist, wenn sie glauben, die hohe Aufgabe der Schule und die Würde des Lehrerstandes sei in einer möglichst engen Bindung an den Staat am besten gewahrt. Wir werden es nicht mehr erleben; aber wir sollten doch anfangen, darüber nachzudenken, wie ein „Schuman-Plan” für die Bildung und die Schule aussehen müßte, ein Plan, welcher Forschung, Erziehung und Kultur der Bevormundung durch unsere von Parteien beherrschten Staaten und Länder entwindet.

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LeerIn einem Zeitungsblatt fand ich einen Aufsatz über „Männliche Tränen”, dessen letzte Sätze mir eines ernsthaften Nachdenkens wert zu sein scheinen: „Solange Männer noch Grausamkeit üben gegen ihr eigenes Gefühl, das aufbrechen will, so lange wird diese Grausamkeit sich nach außen zurückwenden, immer einmal wieder, wenn die Stunde gekommen scheint. Ja, solange ein Mann eher bereit ist, sein Blut zu vergießen als das hochquellende Naß seiner Augen, so lange werden all die Ströme, mit denen Frauen die Erde genetzt haben, umsonst geweint worden sein.”

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LeerNach einer der Morgenandachten, die während der Synode in der schön wiederhergestellten Hauptkirche zu St. Petri gehalten wurden, hörte ich im Mittelgang der Kirche ein Gespräch. (Dieser Ort erscheint ja manchen Glaubensgenossen als ein besonders geeigneter Rahmen für Unterhaltungen, die dann freilich öffentlicher sind, als es den Beteiligten bewußt ist.) Ein Synodaler sprach seine Meinung dahin aus, es sei doch genug, wenn bei der Synode am Anfang und am Schluß ein Gottesdienst stattfinde, aber jeden Morgen und jeden Abend in die Kirche zu gehen, sei doch allzu viel verlangt. - Für andere waren diese Viertelstunden in dem herrlichen Raum, in einer beruhigenden gleichbleibenden Ordnung, mit den kraftvollen Osterliedern eine Stätte der geistlichen Zuflucht und des Trostes gegenüber dem mühseligen und geräuschvollen Ablauf des kirchenparlamentarischen Gesetzgebungsapparates.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 179-182

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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